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Don Giussani (1922-2005)
Keine Halbherzigkeiten!
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Wir veröffentlichen Auszüge aus einem umfangreichen Essay von Don Umberto Dell’Orto, der in der Zeitschrift La Scuola Cattolica erschienen ist. Der Beitrag ist «Dem Priesteramtskandidaten Luigi Giussani (1933-1945)» gewidmet, mit «Zeugnissen aus den Archiven und historischen Aufzeichnungen». Er ist das Ergebnis einer Forschungsarbeit in den Archiven des Seminars von Venegono.
Im Folgenden wird von Giussanis Eintritt ins Priesterseminar, vom Entstehen des Studium Christi und der Beziehung des jungen Seminaristen zu seinen Oberen berichtet. Dell’Orto schreibt: «Keine Halbherzigkeiten!: Das ist der treffendste Ausdruck, um die Persönlichkeit, den erzieherischen Vorschlag, die Worte und die Entscheidungen Don Giussanis zu beschreiben. Er ist dem Vorsatz treu geblieben, für den er sich mit 22 Jahren entschieden hatte».
Als der damalige Kardinal Joseph Ratzinger während der Trauerfeier von ihm sprach, sagte er: «Schon als junger Mann hat er mit anderen Jugendlichen eine Gemeinschaft ins Leben gerufen, die sich Studium Christi nannte. Ihr Programm bestand darin, von nichts anderem als Christus zu sprechen». Der Essay erläutert, was damit gemeint ist.

Desio, 12. August 1933
«Desio, 12. August 1933 - Hochwürdigster Herr Regens. Ein sehr gut vorbereiteter Jugendlicher aus Desio, Giussani Luigi von Beniamino, äußert den Wunsch, ins Priesterseminar in S. Pietro M. einzutreten. Er ist elf Jahre alt und hat das Abschlussexamen der Grundschule mit sehr guten Zensuren abgeschlossen. Zur Zeit hätte die Familie Schwierigkeiten, die monatlichen Pensionsgebühren zu zahlen, da der Vater, ein Holzschnitzer, seit einem Jahr arbeitslos ist. Könnten Sie ihm nicht einen Vorschuss aus den Geldern gewähren, die der selige Pfarrer Missaglia zugunsten der Priesteramtskandidaten aus Desio vererbt hat, oder aber aus denjenigen Seiner Heiligkeit Pius XI.? Wie mir versichert wurde, könnte später die Familie des oben erwähnten Jugendlichen Giussani Luigi durch die Arbeit des Vaters die Pensionsgebühren bezahlen. Da ich über das Zertifikat des Abschlussexamens der Grundschule nicht verfüge, lege ich das letzte Zeugnis der fünften Klasse bei. In der Hoffnung auf eine positive Antwort Ihrerseits, verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung. - Ihr tiefergebener Pfarrer Erminio Rovagnati.»

Aufnahme ins Priesterseminar
Zehn Tage nach diesem Brief wurden weitere Unterlagen zum Eintritt Giussanis ins Priesterseminar vorgelegt. Am 23. August reichte der junge Luigi Erzbischof Schuster eigenhändig ein «sehr herzliches Gesuch» ein, «möge Er ihn ins Priesterseminar S. Pietro M. am Gymnasium, 1. Klasse, aufnehmen». [...]

Was war das Studium Christi?
Wenn Don Giussani von der Entstehung des Studium Christi im Priesterseminar erzählt, schwingt in seinen Worten eine besondere Rührung mit. Im Funken jener Jugendfreundschaft offenbart sich der Kern einer Geschichte, die sich mit der Zeit in Dutzenden Ländern in der ganzen Welt verbreiten und das Leben von Tausenden Menschen verändern sollte1. Von dieser Erfahrung, die Massimo Camisasca als eine grundlegende für die Bildung und zukünftige Mission von Don Luigi Giussani darstellt, habe ich zwei Zeugnisse gefunden. Das erste findet sich in einer Verhaltensbewertung über Guido De Ponti, das der Regens Colombo am Ende der 12. Klasse verfasst hat. De Ponti war einer der besten Freunde Giussanis: «Er strebt nach großen Dingen, nach umfangreichen neuen Formen der Mission; mit seinen Schulkameraden hat er einen Kreis, "Christus", zum Studium und Nachahmung der Person des Erlösers gegründet.»
Das zweite Zeugnis über das Studium Christi findet sich in einem längeren Dokument. Es handelt sich um einen Brief mit einer verworrenen Geschichte. Am 15. März 1943 schrieben die Priesteramtskandidaten des 2. Studienjahres der Theologischen Fakultät Ruben Enrico Manfredini und Luigi Giussani einem gemeinsamen Studienkommilitonen, Michele Elli, einen Brief. Manfredini und Giussani wohnten damals im Priesterseminar in Venegono, der erste in der Gruppe der Theologiestudenten, der zweite in derjenigen der Gymnasiasten als Präfekt. Auch Elli war Präfekt, aber in der Schule von Anzano al Parco (Como), wohin das Gymnasium Collegio Villoresi (Monza, nahe Mailand) wegen der Bombeneinschläge umgezogen war. Im Folgenden nun der von Manfredini verfasste Teil des Briefes: «Das Reich! - Lieber Michele, du hast vielleicht schlecht von mir gedacht. Gius ist daran schuld, sei sicher; der Junge hat eine Veranlagung dazu, die Dinge in die Länge zu ziehen. Wenn er einmal aus der üblichen Routine (vulgo!) herausgezogen wird, wird er besorgt. Ich rate dir, deine Gedanken gemäßigter zu äußern, denn der letzte Brief, den wir am Schwarzbrett der Theologischen Fakultät zusammen mit der anderen Post fanden, war für die Öffentlichkeit ein bisschen zu deutlich. Aber Don Gius wird dir dies besser erklären. Er schien mir an dem Tag (es war ein besonderer Brief) wirklich besorgt zu sein. Er ist zu Don Galbiati gegangen, um von ihm Anweisungen zu erhalten, falls ihn jemand nach Erklärungen fragen würde. Am 25. des Monats findet jene Geschichte statt, zuerst für uns am Vormittag und dann für diejenigen drüben. Ich möchte gerne wissen, was Du Conti in S. Pietro gebracht hast, weil Don Galbiati mir gegenüber die Sorgen von Don Corbetta mitgeteilt hat: Aber dies sind Kleinigkeiten. Conti werden wir anschreiben, das Heft erklären und so weiter, sobald es möglich ist. Scheinbar neigt Archimede dazu, sich auf unsere Seite zu schlagen. Es wäre ein großer Vorteil für uns, weil er mir ein ideenreicher Mensch zu sein scheint, zumal seine Kommilitonen - zur Zeit ohne Hirten usque adhuc und ein bisschen von der Kälte der Präfekten gebremst - auf diese Weise eine Lösung für ihre unsichere Situation finden würden. Was hältst du davon, dass er, sobald er dazu reif ist, in unsere Truppe eintritt? Nicht schlecht, oder? Im Übrigen haben wir die ersten Gedanken über das Reich mit ihm am Gymnasium verbreitet. Wir werden auch mit Conti darüber sprechen. Ich glaube, er wird einverstanden sein. Im Augenblick aber gibt es nichts Konkretes, nur dass er scheinbar zu unserer Seite neigt ... Ich muss beschämt zugeben, dass ich nur wenige Artikel gelesen habe. Im Lesesaal ist Ecclesia. Ich werde sie regelmäßig lesen. Dann werde ich die Universitätszeitung durchblättern. Mit der eventuellen Hilfe von Archimede könnte es besser laufen. Ich habe gehört, Elli G. meckert wegen einiger Exemplaren von Osservatore und Azione Fucina, die du domino invito (geklaut?) weggenommen hättest. [...] Bete bitte für mich. Das Reich ist das Himmelreich und wir können mit all unserem Tun nicht einmal seine Schwelle berühren. Gius ist menschlicher und umgänglicher geworden. Mir scheint, wir kommen gut zusammen zurecht. Man macht freilich Fortschritte. Ich händige ihm nun die Feder aus. Manfredini. 15. März 1943. Richte Don Cervini, dem Pater, und so weiter viele Grüße von mir aus - auch an die Jugendlichen, die ich trotz allem einen knappen Monat und mit viel guten Willen betreut habe.»

Anbei der Teil aus der Feder Giussanis:
«Maranathà! Michele, ich habe bei der Lektüre viel Freude gehabt! Seit einem Monat wiederhole ich es mir in geistiger Communio. Auf jeden Fall vergib es mir, dass du wegen mir so lange hast warten müssen: Es wird leider nicht das Letzte, das ich dir antun werde. Aber ich versichere dir, dass ich viel um die Ohren habe; in 4 Tagen (das Vierzig-Stunden-Gebet) habe ich nur wenige Seiten im Buch von Moraltheologie gelesen. Deswegen kann ich nur in der Zeit (jede Minute) lesen, die ich den Gesprächen mit meinen "Männern" raube. "Du steckst nun im Leben, nicht im Studium", sagte mir mal Don Enrico. Fides enthält wunderbare Artikel. Ich habe das Buch von Gonella gekauft. Ich werde es auch für etwas anderes verwenden. Und Möhler? Was für ein wunderbarer Mensch ist er, nicht wahr? In Bezug auf den Brief: Anscheinend haben ihn die Verwandten von Viganò dem Courier getrennt vom Paket gegeben, deswegen ist er durch die Finger von Monsignore gekommen. Don Galbiati beruhigte mich: Er hat bereits die Sache mit Monsignore persönlich besprochen. In der Tat haben mich die Oberen nicht zu sich bestellt. Es ist für alle Fälle besser, dass er den Brief ins Paket hinein tut, und zwar zu meinen Händen. Ich werde ihn dann dem Regens und dem Vize-Regens zeigen. Aber so ist es besser, um die Prozedur zu beschleunigen. Wenn es dir nicht gelingt, macht es nichts. Ich glaube, dass Monsignore sich letztendlich darüber freuen könnte. Hast du von De Ponti gehört? Mal schauen (die Wege führen alle zum Studium X.). Scheinbar sind wir ... dazu bestimmt. Hoch sollen wir leben, lieber Mitbruder, für Ihn! Bete für uns einige Ave Maria am 25. des Monats: auch für meine Ritter (Don Ronchi wird zum Assistenten der Abteilung ernannt). Mit tiefer brüderlicher Zuneigung. Es lebe der König! Tief verb. Priesteramtskand. Luigi Giussani».

Die Dankbarkeit für das Priesterseminar
Die Dankbarkeit für das Priesterseminar und für die Priester des Seminars, die Don Giussani als Priesteramtskandidat deutlich zum Ausdruck brachte, blieb eine fortwährende Dimension in ihm. Diesbezüglich hinterließ er viele Zeugnisse, die auch in den Büchern von Camisasca zu finden sind. Meinerseits möchte ich die Standhaftigkeit dieser Empfindung betonen. Sie geriet nie ins Wanken, nicht einmal durch die gegenseitigen Missverständnisse und die Auseinandersetzungen, die Giussani zwischen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre sowohl mit dem damaligen Erzbischof (seinem ehemaligen Regens) Kardinal Giovanni Colombo als auch mit den Oberen im Seminar hatte. Gerade aus dieser Zeit stammt ein kurzer Brief, den ich in einem Exemplar seiner zur Veröffentlichung bearbeiteten Diplomarbeit fand. In diesem an einen ehemaligen Gymnasiallehrer gerichteten Brief finden sich Andeutungen zu den Spannungen jener Jahre: «Hochwürdigster Monsignore, ich erlaube mir, Ihnen ein Exemplar des Buches zu überreichen, das ich dank der Großzügigkeit meiner Oberen veröffentlichen konnte. Ich danke Ihnen sehr für das Wohlwollen, das Sie mir vor einigen Tagen wieder einmal zeigten. Sie können sicher sein, dass meine Erinnerung an Sie immer noch treu bleibt wie vor fast dreißig Jahren. Wenn es nicht so wäre, wüsste ich nicht angesichts der jetzigen Umständen, was passiert wäre! Gott sei Dank.»
Zurück zu den zwei Briefen, die der Priesteramtskandidat Giussani verfasste. Dort finden wir zwei Abschnitte, die man lesen sollte. Vor allem der zentrale Teil des ersten: «Denn ich spüre zu ihm [zum Seminar] eine nähere Verbindung als zu meiner lieben Familie selbst. In ihm, und nach ihr, nahmen die heiligsten Personen Gottes und der Kirche Gestalt für mich ein, sie sind mir in ihrer Liebe und ihrer erzieherischen Fürsorge gegenwärtig und spürbar geworden.»
Wenn wir diese Worte mit denen vergleichen, die Kardinal Ratzinger bei der Trauerfeier ausgesprochen hat, fällt uns die deutliche Ähnlichkeit zwischen beiden auf: «Er hat so verstanden, dass das Christentum kein intellektuelles System, kein Dogmen-Paket, kein Moralismus, sondern eine Begegnung ist, eine Liebesgeschichte; es ist ein Ereignis.» Zwischen den Worten des Briefes und denjenigen der Predigt liegen 60 Jahre. Nun ist in all diesen Jahren die Art und Weise, wie er die Beziehung zu Gott und zur Kirche, das heißt zum Christentum, verstand und lebte - so wie er sie im Priesterseminar und zuvor und unaufhörlich in seiner Familie kennen gelernt hatte -, immer im Wesen unverändert. Wir haben somit eine zweite fortwährende Dimension von ihm.
Nachdem wir den zentralen Abschnitt des ersten Briefes gelesen und erfasst haben, tun wir das Gleiche mit dem zweiten Teil des an Msgr. Petazzi gerichteten Briefes vom 7. Juli 1944 anlässlich der Diakonweihe «Die Erinnerung an den ersehnten und gesegneten Akt, der mich für immer - auch im rechtlichen Sinne - Unum mit meinem Herrn Jesu gemacht hat, wird nie vom Gedanken an Ihre Gestalt als verehrten Vater getrennt sein, so wie von der mächtigen Anregung einiger Worte, die Sie mir zwar bereits vor vielen Wochen gesagt haben, die sich aber deutlich und wirkungsvoll in meiner Seele eingeprägt haben. Sie bildeten das Siegel der Vorsätze bei meinen geistlichen Exerzitien: "Erinnere dich: Keine Halbherzigkeiten!" Das ist die Gnade, die ich jeden Tag bei Jesus in der Eucharistie und der Gottesmutter erflehe. Mögen diese Worte mein ewiges Programm werden».
«Keine Halbherzigkeiten! »: Das ist der treffendste Ausdruck, um die Persönlichkeit, den erzieherischen Vorschlag, die Worte und die Entscheidungen Don Giussanis zu beschreiben. Er ist dem Vorsatz treu geblieben, für den er sich mit 22 Jahren entschieden hatte».
(Originaltext in La Scuola Cattolica, Theologische Zeitschrift des Bischöflichen Priesterseminars Mailands, Nr. 1 / 84. Jg., Januar-März 29006, S. 45-71)

1 M. Camisasca, Comunione e Liberazione. Le origini, S. 68.