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Russland - Zeugnis eines Anchorman
Alle zum Meeting für den Sinn des Lebens
Aleksandr Archangelskij

Wir veröffentlichen den Artikel des bekannten russischen Journalisten Aleksandr Archangelskij, der am 24. August in der Nachrichtenagentur Ria Novosti erschienen ist. Er berichtet darin von seinen Eindrücken und auf dem Meeting in Rimini 2006. Seine treffenden Beobachtungen sind sowohl im Osten als auch im Westen aktuell.

Ein Bild, das Beachtung verdient. Rimini unter sengender Sonne am Ende des italienischen Sommers: Meer, Strand, die entspannte Atmosphäre des Badeortes. Etwas außerhalb der Stadt gibt es eine Art Ausstellungszentrum, eine nicht endende Reihe von Hallen, in denen sich die Menschen drängen. Nichts, das mit Strand zu tun hat, aber auch nichts mit Geschäft. Im Zentrum des größten Pavillions gibt es einen riesigen Bereich für Kinder, wo die junge Generation sich austoben kann. Zwischen den Beinen der Besucher sausen Teenager auf Inlineskates umher. Man muss Acht geben, wo man hintritt, damit man nicht in einem Kinderwagen endet, in dem ein Neugeborenes schläft. Am Eingang einiger Säle hoffen Menschenmengen vergebens darauf, Einlass zu erhalten. Sie hätten eher kommen müssen! Die Sicherheitskräfte blockieren den Eingang zum Auditorium. Wir können durch einen Hintereingang eintreten, damit wir auf einer der Seiten noch einen Stehplatz bekommen. Als ich mich umschaue, bin ich vor Verblüffung sprachlos: 6.000 Plätze, alle belegt, die Leute sitzen auf den Fluren oder auf dem Boden vor der Tribüne, vielen stehen an den Wänden. Und vor allem so viele Jugendlichen, die durchaus trendy aussehen.

Ewigkeit und Moderne
Wozu sind sie gekommen, wofür haben sie die Barrieren überwunden? Nicht für einen Pop Star, auch nicht für einen angesagten Schauspieler und noch weniger für den Vortrag eines Spitzenpolitikers im Wahlkampf. Das Thema des Treffens ist: Ewigkeit und Moderne. Vor 6000 Zuhörern spricht ein Universitätsdozent. Nicht ohne Biss, etwas ekstatisch, aber ohne prophetisch zu werden, noch auf Wunder von Scharlatanerie zu setzen. Er betrachtet einfach Glaube und Vernunft, er erzählt von dem Drama eines jeden, der die Ewigkeit in einer Welt sucht, die im Abstieg begriffen ist. «Was machen all die Leute hier?» - fragen wir eine Hostess (die, wie alle, die für das Meeting arbeiten, Busfahrer eingeschlossen, unentgeltlich tätig ist und Dienstkleidung wie Unterkunft selbst bezahlt) - «mitten in der Badesaison?» «Sie suchen den Sinn des Lebens», antwortet sie.
Für unsere Ohren klingt diese Antwort etwas unverschämt. Laut über Sex zu reden, ist nicht beschämend, aber vom Sinn des Lebens zu reden ist irritierend. Hier hingegen gibt es keine postmodernen Verwirrungen. «Ich bitte um Entschuldigung, falls Ihnen das übertrieben vorkommt» - sagt sie.
Das ist das Meeting (so heißt diese jährliche Veranstaltung des christlichen Volkes in Rimini, die schon zum 27. Mal stattfindet). Jedes Jahr kommen mehr Leute. Vor kurzem hat das Meeting sich vergrößern müssen und neue Räume bezogen. Die Besucher, die innerhalb dieser Woche kommen, offiziell zu zählen, ist unmöglich: Es werden weder für die einzelnen Treffen noch für das Abendprogramm Tickets verkauft. Nach der Anzahl der konsumierten Speisen und Getränke zu urteilen sind letztes Jahr ca. 800.000 Menschen gekommen, und dieses Jahr sind es sicher mehr. 3000 Freiwillige ermöglichen das Meeting und arbeiten während dieser Woche. Die Ausgaben sind riesig, aber es werden keine Schulden gemacht, wichtige Podien verlangen nach wichtigen Politikern (morgen zum Beispiel kommt Berlusconi) und wichtige Politiker ziehen das große Geschäft an.

Drei Anmerkungen
Jetzt, ganz im Geiste des Meetings, können wir uns drei schwer moralische Anmerkungen erlauben.
Erste Anmerkung: Neid und Skepsis. Wir könnten uns nichts dergleichen in Russland, nichts dergleichen heute vorstellen. Einst schien es uns, als ob es uns gelingen könnte, die Mentalität der Gesellschaft in kurzer Zeit zu verändern. Das Volk hatte das kommunistische Durcheinander satt, es werde, ohne müde zu werden, neue grundlegende Werte für die russische Realität suchen. Die ökonomische Veränderung werde uns jedoch für ein halbes Jahrhundert, wenn nicht mehr in Atem halten. Es war genau andersherum. In den großen Städten ist das wirtschaftliche Leben zwar nicht wiederzuerkennen, aber das gesellschaftliche Leben ist tot und begraben. Und dies geschah nicht nur mit der Hilfe der Macht: Das größte Unglück ist die wachsende Gleichgültigkeit und Apathie der gebildeten Schicht. Niemand glaubt an seine eigenen Kräfte und an eine gemeinschaftliche Aktion. Die Kirche kämpft um Autorität gegenüber den Mächtigen, sucht diese aber nicht gegenüber der Gesellschaft. Die Gesellschaft ihrerseits bevorzugt es, immer weiter in Lethargie zu verfallen.
Zweite Anmerkung: Optimismus - ganz im Gegensatz zum eben Gesagten. Man muss sich nicht immer von geschichtlichen Umstände bestimmen lassen, manchmal muss man sie auch bewusst herausfordern. Um den derzeitigen Umfang zu erreichen, musste das Meeting mit enormen Risiken entstehen, von einer kleinen Gruppe von Leuten, die ganz einfach daran glaubten, dass es möglich ist, einen unmöglichen Plan zu realisieren. Vor 27 Jahren begann eine katholische Laienbewegung, ohne jede Hilfe kirchlicher Institutionen (aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch ohne Anfeindungen), ein verzweifeltes Vorhaben, während die westliche Welt einen Prozess der Entchristianisierung durchmachte und ihr christliches Gesicht verlor. Die Suche nach dem Sinn des Lebens war nicht in Mode. Doch das Meeting ging einen gegenläufigen Weg, gegen den gesunden Menschenverstand und das nüchterne Kalkül. Nicht sektiererisch, auch nicht heroisch, nicht mit versteinertem Gesicht, sondern ruhig und mit offenem Visier. Versuchen wir mal ein wenig von den Dingen zu reden, die nichts mit der Hypothese zu tun haben, dass es Gott nicht gibt. Versuchen wir mal, davon auszugehen, dass es Gott gibt und blicken dann auf das Leben in allen Bereichen (einschließlich der Politik), von einem anderen Standpunkt aus. Es schien so, dass die Leute gerade darauf gewartet haben, Gläubige, Ungläubige, alle. Für das politische System ist das Meeting notwendig, allein deswegen, weil alle Diskussionen über die Integration der Einwanderer sich einer einfachen Frage stellen müssen: In was wollen wir sie integrieren, wenn die Europäer nicht wissen, an was sie glauben? Auch der Vatikan ist zufrieden. Zusammenfassung: Wenn es ihnen gelungen ist, warum soll das bei uns nicht gehen?
Dritte Anmerkung: Alle Klischees über den gewöhnlichen Westen zerbrechen, wenn sie mit der objektiven Realität in Berührung kommen. Man denkt, die Europäer hätten sich längst bedingungslos dem islamischen Sieger ergeben und der Durst nach Wohlstand und unscharfen Menschenrechtsideen hätten die christlichen Prinzipien endgültig geschlagen; man denkt, die einfachen unschuldigen Hoffnungen auf ein geheimnisvolles Ende des Lebens gehören endgültig zum Kapital der betagten Verlierer und - altersschwachen Ausgestoßenen. In Teilen ist da etwas Wahres dran, wenn wir oberflächlich urteilen und den soziologischen Gesetzen der großen Zahlen glauben (wer die zahlenmäßige Mehrheit hat, hat gewonnen). Aber wenn wir von den Höhen der Abstraktion heruntersteigen in die Welt der normal Sterblichen, um diese Fakten aufmerksam und vor allem in ihrer Dynamik einzuschätzen, scheint es, dass es um die Dinge doch nicht so schlecht steht. Oder zumindest nicht um alle Dinge. Das bedeutet, es gibt eine ordentliche Wahrscheinlichkeit, dass das Leben auch eine andere Richtung nehmen kann. Nicht überall, nicht für alle, aber für viele.

Der Autor
Das Gesicht des 1962 geborenen Aleksandr Archangelskij ist dem russischen Publikum vor allem als Moderator der populären wöchentlichen Talkshow In der Zwischenzeit wohlbekannt, die auf dem russischen Kanal «Kultur» ausgestrahlt wird. Die Sendung ist Themen von gesellschaftlicher, kultureller und religiöser Aktualität gewidmet. Sie vermeidet in der Regel banale und abgegriffene Urteile. Ferner ist er Historiker und Publizist, Herausgeber der Tageszeitung Izvestija und Autor zahlreicher Publikationen. Im März 2004 war er einer der Redner bei der öffentlichen Präsentation des Buches Warum die Kirche?, die in der «Bibliothek des Geistes» in Moskau stattfand.