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Editorial
Glaube und Nihilismus
Julián Carrón

Wir verschließen nicht die Augen.
Der folgende Beitrag von Don Julián Carrón, Präsident der Fraternität von CL, erschien am 26. Dezember in der spanischen Tageszeitung El Mundo und am 28. Dezember im italienischen Corriere della Sera.

Sehr geehrter Herr Chefredakteur, das menschliche und kulturelle Umfeld, in dem wir leben, kann mit einem Wort zusammengefasst werden: Verwirrung. Aufschluss darüber gibt uns der Drang nach Gewissheit, der sich bemerkbar macht. Die große Verwirrung, die uns umgibt, kann die Sehnsucht nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Glück nicht völlig unterdrücken, aus der wir alle gemacht sind. «Mich selbst habe ich gesucht. Nichts sonst sucht man doch» (Pavese). Unzufriedenheit, innere Unruhe und Traurigkeit belegen, dass die Sehnsucht des Herzens unauslöschlich ist - eine Tatsache, die kein Nihilismus vernichten oder beseitigen kann - auch wir selbst nicht, wenn wir uns belügen und so tun, als ob es diese Sehnsucht nicht gäbe. Nicht umsonst sehen wir den einzigen Ausweg oft darin, unsere Sehnsucht zu hassen: «Wenn das Herz umnebelt ist, wird es zur unerträglichen Last. Eine Last, die zu Selbsthass führt und dazu, dass man sich wünscht, man wäre nie geboren.» (Maria Zambrano).
Ein Hass, der nachvollziehbar ist. Denn die Sehsucht nach Glück ist wie ein blinder Wahn, der uns ins Ungewisse treibt, wenn es nichts Gegenwärtiges gibt, das sie erfüllen kann. Sich selbst einfach aufheben, kann diese Sehnsucht jedoch auch nicht, denn sie ist ureigenster Bestandteil von uns selbst. Nicht wir selbst haben sie uns gegeben, sondern ein Anderer, der unsere Bestimmung ist. Daher kann sie auch in äußerster Selbstvergessenheit neu aufflammen, als Wunsch nach Heimkehr. So war es für den verlorenen Sohn. So ist es für jeden, der auch nur einen Anflug von Zärtlichkeit sich selbst gegenüber aufbringt. Von ihr bedarf «es nur eines Anflugs und das Leben wird wiedergeboren» (Ernesto Sábato).
Das einzige Bollwerk gegen den Nihilismus ist das menschliche Herz. Dem eigenen Herzen zu vertrauen, der Sehnsucht nach Heimkehr nachzugeben, ist das einzige Heilmittel. Ein unscheinbares Mittel, aber genau das, was wir brauchen, um die Wahrheit anerkennen zu können, falls sie uns zufällig entgegenkommen sollte. Die nötigen Urteilskriterien sind uns ins Herz gelegt: «Die Hölle - so heißt es bei Italo Calvino - ist mitten unter uns und es gibt zwei Arten, nicht darunter zu leiden. Die eine fällt vielen recht leicht: die Hölle akzeptieren und so sehr Teil davon werden, dass man sie nicht mehr erkennt. Die andere ist gewagt und erfordert dauernde Vorsicht und Aufmerksamkeit: suchen und erkennen wissen, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Bestand und Raum geben.» Doch wem oder was gilt es Raum zu geben, wenn jede Sache, jedes Antlitz, selbst die teuersten Beziehungen nicht stark und beständig genug sind, um der Hölle zu trotzen? Nur etwas ganz und gar Außergewöhnliches kann Rettung bringen. Die Geburt Christi führt dieses Außergewöhnliche in unsere menschliche Erfahrung ein und sprengt ihre Grenzen: Das Wort ist Fleisch geworden, Gott einer von uns!
Doch heute steht Weihnachten nicht dafür, sondern für Gefühlsduselei, Folklore und abgedroschenes Brauchtum. Der Glaubensinhalt selbst interessiert auch Kirchgänger kaum. «Aber wie ist das möglich», so fragt der Heilige Vater, «dass der Mensch zu dem Größten "nein" sagt, für das Wichtigste keine Zeit hat, seine Existenz in sich verschließt?» Und er antwortet: «Sie haben eben nie die Erfahrung Gottes gemacht, sind nie auf den Geschmack Gottes gekommen; sie haben nie gespürt, wie köstlich es ist, von Gott angerührt zu werden!». Wie können wir nun aber von Gott «berührt» werden? Einzig durch die veränderte Menschlichkeit von Zeugen. Sie sind nicht unbedingt bessere, aber doch ergriffenere Menschen. Menschen, deren Leben ganz von einem Faktum bewegt wird, so wie es damals den Hirten unvermittelt erging: Kommt und seht! Ein Kind ist euch geboren!
Dann ist Weihnachten Grund zur Hoffnung für alle. Dann reicht es, zu schauen und sich von seiner Schönheit verletzen zu lassen, wie es die Liturgie der Weihnacht beschreibt: «Im Geheimnis des Fleisch gewordenen Wortes ist den Augen unseres Geistes das neue Licht Deiner Herrlichkeit erschienen.» Dieses Staunen hallt auch in den Worten Pasolinis wider: «Das Auge schaut - es ist das einzige, dass der Schönheit gewahr wird - die Schönheit sieht man, weil sie lebendig ist, das heißt wirklich. Man müsste vielleicht eher sagen, es sieht mitunter die Schönheit. Denn das hängt auch davon ab, wo die Schönheit sich enthüllt. Das eigentliche Problem besteht aber darin, Augen zu haben und doch nicht auf das zu schauen, was vor ihnen geschieht. Die Augen zu verschließen. Augen zu haben, die nicht mehr sehen, die nicht mehr neugierig sind, die nicht mehr auf ein Ereignis hoffen. Vielleicht weil sie zweifeln, dass es die Schönheit überhaupt gibt. Doch sie durchwandert die Wüste unserer Wege, durchbricht unsere Grenzen und erfüllt unsere Augen mit unendlicher Sehnsucht.» Heute wie vor zweitausend Jahren. Es ist diese unendliche Sehnsucht, welche die Kirche immer schon ruft lässt: «Komm Herr Jesus!».