Logo Tracce


Ägypten / Der religiöse Sinn auf Arabisch
Die neue Sonne des Mittelmeeres
Roberto Fontolan

In der neuen Bibliothek von Alexandria, deren Architektur eine aufgehende Sonne in Erinnerung ruft, wurde die arabische Ausgabe des Buches von Don Giussani vorgestellt. Eine unvorhersehbare Initiative von Wa’il Farouq

Aus einer Stuhlreihe in der Saalmitte stechen sechs mit Kopftüchern bedeckte Häupter hervor, jedes in anderer Farbe: blau, grün, gelb, orange, beige und rosa. Eine ältere Dame und fünf Mädchen. Am Ende der Reihe sitzt ein Mann. Möglicherweise eine Familie oder eine Schülergruppe. Das ist das erste Bild, das ich von meinem Tisch her aufnehme in dem prächtigen Saal der Bibliothek in Alexandria. Der legendäre Ort wurde vor rund 1600 Jahren vollständig zerstört und ist erst seit wenigen Jahren wieder komplett hergerichtet. Die Eröffnung im Jahre 2002 war ein Ereignis von Weltrang. Einige Dutzend Staatsoberhäupter nahmen daran teil, es gab Lesungen, Tänze, Gesang und ein Feuerwerk. Die Ägypter sind stolz auf dieses majestätische Werk, diesen multikulturellen, mehrsprachlichen und multiethnischen «Freiraum», wie man nicht müde wurde zu betonen. Die Bibliothek, an der Ägypter, Engländer und Italiener mitwirkten, ist wirklich beeindruckend. Große Gebäude aus Glas und mit klassischen Zitaten verziertem Beton stehen um einen Platz herum, der zum Meer gerichtet ist. Die Form des Planetariums mit der Sphäre aus schwarzen Steinen an der Seite ist wunderschön. Von außen erscheint die Bibliothek wie ein enormer grauer Ring, der sich zum Mittelmeer hin neigt. Sie soll die aufgehende Sonne, das Licht der Erkenntnis, die Kultur symbolisieren. In Wirklichkeit handelt es sich um viel mehr als eine Bibliothek. In ihren neun Bereichen führt sie wissenschaftliche Studien jeder Art durch. Es gibt 1700 Angestellte, jedes Jahr finden 550 kulturelle Events statt. Mit diesem großen «Kulturhafen» versucht Alexandria verzweifelt den Ruhm der Vergangenheit wiederzuerlangen. Dabei hilft auch die Legende: Unter den Tausenden von Bibliotheken und Tausenden von Städten am Mittelmeer gibt es eben nur die eine Bibliothek von Alexandria. Fundamentale Fragen Unsere Ankunft verdanken wir Wa’il Farouq, einem ägyptischen Professor, der den Lesern von Spuren wohlbekannt ist. Er hat die Leitung der Abteilung «Alex-Med» der Bibliothek. Und er hat alle seine Freunde, Studenten, Kollegen davon überzeugt, dass Der religiöse Sinn von Luigi Giussani ein Buch ist, das man nicht ignorieren kann, um so mehr jetzt, da es auf Arabisch übersetzt ist. Es handelt von den grundlegenden Fragen jedes Menschen, von der Vernunft, von der Suche nach Gott. So führt Wa’il aus: Seit jeher stürzt sich der Mensch auf das Unbekannte, auf das Geheimnis, das ihn umgibt und ihn durchdringt. Das Unbekannte, das in uns ist, in der Tiefe unserer Seele und unseres Geistes. Das Unbekannte, das außerhalb von uns ist, in der Welt, die wir bevölkern und in jener Welt, die wir bevölkern möchten, dem ganzen Universum. Wer bin ich? Wer hat mich gewollt? Wer hat all das gemacht? Und warum? Das Warum von allem. Der Mensch wünscht sich brennend, dies kennen zu lernen, er hat nie aufgehört, danach zu fragen und zu suchen. Niemals. Die Bücher, die ihr hier aufbewahrt, – so sagte er den versammelten Leitern der Bibliothek –, sind das leuchtende Zeugnis dessen, was den Menschen zum Menschen macht. Das heißt, die Erkenntnis, das Bewusstsein seiner selbst. Denn die Menschen haben ihre Suche, ihre Fragen und ihre Versuche einer Antwort Büchern anvertraut. Mit Büchern sind sie gereist, haben erzählt, gelebt, sich gefreut, geweint. Im Schreiben und im Lesen haben sie versucht, sich zu bessern. Im Übrigen hat Gott selber sich Büchern anvertraut ... Wa’il Farouq hatte alle überzeugt, nach Alexandria zu kommen, auch seine italienischen Freunde, unter anderem Don Ambrogio Pisoni und den Verfassungsrechtler Andrea Simoncini von der Universität Macerata, wo er eine Gastprofessur wahrgenommen hatte. Mit arabischer Freundlichkeit hatte er sie von der Großartigkeit dieser Idee eingenommen. Jetzt bin ich hier, am Tisch in einer der Säle der alexandrinischen Bibliothek mit Wa’il, sowie dem Vizepräsidenten des italienischen Parlamentes Mario Mauro, dem Jesuitenvater Christian Van Nispen, einer Koryphäe der Islamwissenschaft und mit Hecham Sadek, der Autorität der Rechtswissenschaft in Ägypten. Rund 150 Personen sind gekommen – angesichts des Umfeldes eine durchaus große Zahl. Auch die leitenden Angestellten der Abteilung Alex Med sind nicht nur von Amtswegen hier, sondern hören aufmerksam zu. Und sie beteiligen sich schließlich auch rege an der anschließenden Diskussion. Unmittelbare Menschlichkeit Hier, in dem Tempel der Bücher, reden wir von einem Buch – einem von Tausenden und Abertausenden. Doch nicht alle sind so universell, also in der Lage durch Sprachen und Kulturen hindurchzugehen. Gewiss ist jedes Buch auf seine Art und Weise einzigartig. Aber nicht jedes beginnt zu leben – wörtlich, zu leben – im Leben der Leser. Pater Van Nispen unterstreicht den großen Wert, den Don Giussani auf das Fragen legt: Das ist es, was uns zu Menschen macht. Er erinnert daran, dass er bei den ersten Begegnungen mit seinen Philosophie-Studenten zu sagen pflegt: «Ich habe Fragen für alle Antworten, die ihr gebt». Der Jurist Sadek, der gleichzeitig Moderator ist, zeigt sich betroffen von der «unmittelbaren Menschlichkeit» des Textes von Giussani: Er spricht zu mir und dir, zu unseren Seelen, zu unserem Innersten. Und er fügt hinzu: Dieser Text ist wie eine Präambel für alles, was unter dem Begriff «Menschenrechte» verstanden wird. Wie schon bei anderer Gelegenheit in Italien beleuchtet Wa’il das Thema des Verstandes und der Modernität; während Mario Mauro das Interesse Europas – jedenfalls des Europas, das er repräsentiert – an einem wirklichen Dialog versichert, als Königsweg der Freundschaft. Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Mancher betont den interreligiösen Dialog, mancher die Meinungsfreiheit, mancher das Zusammenleben von Christen und Muslimen, mancher die Notwendigkeit, die Welt zu verändern, mancher möchte von vorne beginnen und über Glauben und Verstand reden. Die überraschendste Frage stellte eine muslimische Dichterin: «Als ich das Buch gelesen habe, fragte ich mich, was wir denn unseren Kindern beibringen?» Diese Frage ergriff in ihrer Authentizität offenbar alle im Saal und zeigte zugleich besondere Kraft dieses Buches unter Tausend und Abertausend anderen. Und damit kommen wir zum Ende des Treffens an einem chaotischen und heiteren Tag. Und Wa’il denkt vielleicht: «Don Giussani in der Bibliothek von Alexandria – hätte ich mir je träumen lassen, dass ich ihn hierher bringen würde?»