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Thema / Second Life
Second Life - Ein zweites Leben - um sich das Drama des ersten zu ersparen
Paolo Perego

Es nennt sich Second Life und gehört mit mehr als sieben Millionen Nutzern zu einem der Massenphänomene im World Wide Web: eine virtuelle Welt, in die man gegen Bezahlung die eigenen Wünsche hineinprojizieren kann. Es verspricht die Erfüllung aller Sehnsüchte, vor allem jener, die einem das alltägliche Leben zu verweigern scheint. Eine im Kopf erschaffene Wirklichkeit, in der angeblich alles so läuft, wie man will. Allerdings eben ausschließlich im Raum einer Internetverbindung. Außerhalb davon bricht die Sehnsucht in die wahre Wirklichkeit herein, mit ihrer unausweichlichen Anziehungskraft im Rahmen von tausend Grenzen und Schwierigkeiten.

Als kleiner Junge hatte Philip Rosedale, Physiker und Gründer von Linden Lab, einem Forschungszentrum für Informatik in San Francisco, stets einen Traum: «Zu sehen, wie sich die Welt durch meine eigenen Ideen verändern kann». So begann er sich im Jahr 1991 eine virtuelle Welt auszudenken, in der jeder seinen Traum von einem Ort ohne Beschränkung für das eigene Tun realisieren könnte. Im Jahr 2002 wurde dieser Traum Wirklichkeit und ein Jahr später diese neue Welt dem Publikum zugänglich. Das Ganze nennt sich Second Life und gehört derzeit zum angesagtesten Massenphänomen. Es handelt sich um eine virtuelle Wirklichkeit, in der man sich mit Hilfe einer menschenähnlichen Figur ein zweites Leben erschafft. «Deine Welt – Deine Vorstellung», so lautet der gewinnende Slogan, der auf der Homepage von Second Life ins Auge sticht. Man lädt das Programm herunter und siehe da: Wir werden plötzlich auf Help Island katapultiert, den Ausgangspunkt des Spieles, wo unser «Avatar», so der Name für das nach den individuellen Vorlieben der Nutzer kreierte Alter ego, lernen kann, seine Bewegungen zu steuern, mit anderen Avatars zu chatten, zu fliegen und Gegenstände zu gebrauchen. Ein Spiel wie jedes andere? Möglicherweise. Aber fünf Jahre nach seiner Entstehung hat die Zahl der Nutzer die Sieben-Millionen-Grenze überschritten, mit einem verstärkten Zuwachs besonders in den letzten Monaten.

Die Wirklichkeit im Kopf
In der Einleitung zum Handbuch von Second Life, die im Wiley-VCH Verlag erschien, heißt es: «Second Life ist eine virtuelle Welt, die jeden Tag von Menschen konzipiert und erschaffen wird, und diese neigen dazu, die Dinge auf gewisse Art und Weise zu machen. Dabei ist es unwichtig, ob die Welt, in der sie sich befinden, virtuell oder «real» ist. Real ist das, was im Kopf existiert. Und während wir uns in unserem äußeren Erscheinungsbild von anderen sehr unterscheiden, so sind wir innerlich alle gleich: Blut, Gedärm und ein Haufen Träume. Und auch unsere Träume sind die gleichen: jeder will Liebe, Erfolg und Glück». Das Spiel setzt genau auf dieser Ebene an: «Diese Welt ermöglicht es – so liest man – sich ganz auf die Suche nach dem persönlichen Glück zu konzentrieren. Es ist nicht nötig, sich mit all den weltlichen Dingen herumzuschlagen, die unsere Zeit auf dem Planeten Erde so sehr in Beschlag nehmen. Hier ist man frei, das zu tun, was man wirklich will. Das Einzige, was uns auf der Suche nach dem wahren Glück hindern kann, ist das wirkliche Leben».
Um mit dem Spielen zu beginnen, sind nur wenige Schritte notwendig, der Basic-Zugang ist kostenlos. Wenn man jedoch Erfolg haben will, muss man investieren: echtes Geld, das in Linden Dollar umgerechnet wird, die lokale Währung. Sie ist zwar virtuell aber trotzdem real, denn sie wird auf der Grundlage des amerikanischen Dollars notiert und unterliegt daher den Schwankungen der Finanzmärkte (und zwar sowohl den internen als auch den externen Finanzmärkten).



Wer mehr ausgibt …
Je mehr Geld man investiert, desto höher ist der eigene Lebensstandard in der Community, umso größer der Erfolg des eigenen zweiten Lebens. Es beginnt dann, dass man sich eine Insel kauft, ein Haus baut und sich ein besseres Aussehen zulegt; dass man also Geld ausgibt, um wer zu sein, um Beziehungen knüpfen zu können. Denn ohne Status wird man nur schwerlich ernst genommen. Das Ziel all dessen? Die eigenen Ambitionen und Sehnsüchte stillen zu können, während man auf einem Stuhl vor dem Computer sitzt. Man kann eine andere Person durch das eigene alter ego kennen lernen, man kann sie besuchen, man kann sich sogar verlieben und dann virtuellen Sex haben. All dies ohne sich zu sehen, ohne zu wissen, wer hinter diesem Avatar steckt. Als gut aussehender, modischer junger Mann in den Armen einer blonden, aufreizenden Avatar liegen. Das ist Liebe in Second Life. Sollte das alles sein? Absolut nicht. Wenn man zwischen den Foren, den Blogs, den Tagebüchern von Journalisten mit Doppelleben hin und her schlendert, entdeckt man ein ganzes Meer von Möglichkeiten. Willst du eine Schwangerschaft? Kosten: 3.000 Linden Dollar. Das scheint dir zuviel? «Wir geben dir die Möglichkeit, auszusuchen, welches Kindchen du im Bauch tragen willst, auch als Mann schwanger zu sein, zusammen mit einer Rundum-Betreuung während der neun Monate Schwangerschaft», erklärt eine attraktive Avatar, Eigentümerin einer virtuellen Klinik. Man kann heiraten, und man kann sich scheiden lassen. Der Preis ist in beiden Fällen gleich hoch. Man könnte ganze Bücher, ja sogar Enzyklopädien über das schreiben, was man in den verschiedenen Sims (so heißen die verschiedenen Bereiche von Second Life) finden kann, oder vielmehr, über das, was da geschaffen wurde: Missionare, Kirchen, Diskotheken, Prostitution, Pornographie, politische Vereinigungen, revolutionäre Gruppen, Zeitungen, Turnhallen, Gruppen von Alkoholabhängigen, Karitative Vereinigungen …

Eine neue Schöpfung?
Geschaffen ist alles deshalb, weil auf dieser Plattform nichts «a priori» existiert, sondern nur in Gestalt der Prims, eine Art von Ziegelsteinen, mit denen jeder weiterarbeiten kann, indem er sie miteinander verbindet, ihnen Bewegungsabläufe oder Eigenschaften verleiht. Diese Prims bilden die letzte Konsistenz von allem, was man in Second Life so finden kann. Wenn ich mich für die Möglichkeit eines «zweiten Lebens» entscheide, mit seinem Versprechen der Erfüllung des wahren Glücks – wenn auch virtuell – so deshalb, weil mich die Wirklichkeit letzten Endes nicht befriedigt, nicht einmal dann, wenn mir im Leben viel geschenkt wurde. Die wahre Neuheit liegt also darin, dass ich mir selbst das schaffen kann, nach dem ich mich sehne, was meine Sehnsüchte befriedigen wird. Diese neue Wirklichkeit ist daher die Projektion meiner Sehnsüchte. Wirklichkeit und Sehnsucht sind sicher das zentrale Thema, um das das ganze Spiel kreist, und so kommt man nicht umhin, zu bemerken, wie aktuell dieses Thema ist. Vor wenigen Tagen hat dies Benedikt XVI. in Pavia betont, unter Bezug auf den heiligen Augustinus: «In scharfsinniger Kenntnis der menschlichen Wirklichkeit hat der heilige Augustinus verdeutlicht, wie der Mensch sich freiwillig, und nicht unter Zwang, regt, wenn er auf etwas bezogen ist, das ihn anzieht und in ihm ein Verlangen erweckt». Hier, im zweiten Leben, ist die Perspektive komplett umgekehrt: Die Erfahrung der Wirklichkeit als Gegebener ist verschwunden und die Sehnsucht selbst erschafft sich ihren Gegenstand. In dieser Dynamik rutscht man unausweichlich in die prometheische Möglichkeit hinein, allmächtig sein zu wollen, selbst schaffen zu können und letzten Endes so wie Gott zu sein: «Second Life funktioniert so, als wäret ihr im wirklichen Leben ein Gott», erklären die Autoren des Handbuches denn auch. «Vielleicht nicht unbedingt ein allmächtiger Gott, sondern vielmehr wie einer der mythologischen unteren Götter, die versuchten, sich in gewissen Bereichen zu spezialisieren». Alles ist daher möglich. Und so kann der unglaubliche Erfolg nicht verwundern, auch nicht der Erfolg auf der Ebene des Geschäftetreibens, der sich um diese falsche Wirklichkeit herum ausgebildet hat.
Eine Welt, in der täglich Geldtransaktionen im Wert von über eineinhalb Millionen Dollar abgewickelt werden, musste auch in der Geschäftswelt punkten. Einige Banken haben in der virtuellen Welt Schalter eingerichtet, Geschäfte haben Inseln gebaut, um für sich zu werben, viele Produkte werden zuerst in Second Life und erst später im wirklichen Leben auf den Markt gebracht. All dies sind Millionengeschäfte. Und das wirkliche Leben der Welt beginnt sich mit dem zweiten Leben zu überlappen. Politiker, die sich Inseln kaufen oder Pressekonferenzen halten, während draußen Gruppen von Avatar in Protestkundgebungen und Demonstrationen aufeinander prallen; Unternehmer, die Geschäfte eröffnen, in denen man wirkliche Gegenstände und Produkte kaufen kann, oder umgekehrt, wirkliche Geschäfte, die Produkte für Second Life vermarkten.


Die Unruhe taucht wieder auf

Die Frage bleibt, ob eine derartige Welt wirklich imstande ist, das erklärte Versprechen von Glück und Erfolg zu halten. Wie kann man Befriedigung finden in einer Welt, die es nicht gibt? Wenn die Wirklichkeit nicht befriedigt, kann es dann ein virtuelles Surrogat davon?

«Ich sitze hier heute Abend – schreibt ein Spieler in einem Forum des italienischen Second Life-Webauftritts – vor diesem elektronischen Meer, und denke daran, was ich mir von diesem «zweiten Leben» erwarte, und wahrscheinlich auch von dem ersten. Wenige Bits jenseits meiner Insel herrscht das hektische Treiben einer Menschheit, die Bindungen für einen Abend schafft und mit der gleichen Leichtigkeit andere zerstört. Und ich frage mich nach dem Sinn dieses unendlichen Flusses, der unser Leben aus Papierfiguren durchströmt, die dazu bestimmt sind, sich in seinem Fluss zu verlieren. Was ist diese Unruhe, die ich empfinde? Was suche ich in dieser Welt? Gibt es den Poseball (die Aktionsmöglichkeit der Avatar) für das Gefühl? Für den Zweifel und die Verstörtheit? Gibt es die nur im Real Life?»

Es handelt sich um eine unvermeidliche Unruhe, um die Unzufriedenheit, die auch in der neuen Wirklichkeit wieder auftaucht, die doch gerade geschaffen wurde, um der wahren Wirklichkeit zu entfliehen. Wie ein Holzwurm, den man ignoriert und der sich ganz allmählich durch die Beine eines Stuhls frisst, auf dem man es sich bequem gemacht hat: die Entdeckung der Illusion. Oder besser, der Enttäuschung, die aus dem Traum entsteht, man könne die eigene Sehnsucht mit etwas verwirklichen, was sie nicht erfüllen kann. Der Traum, so erklärte Don Giussani Anfang der 90er Jahre einigen Jugendlichen, «ist eine Einbildung, die etwas Unbeständiges in eine Zukunft projeziert, das sich in eine Stimmung, eine Reaktion übersetzt. (...) Wenn du nicht auf die Hinweise der Natur achtest, dann wird es sich nicht verwirklichen und du wirst enttäuscht sein, das heißt du wirst dich «verspielt» haben. Das Wort Desillusionierung stammt aus dem Lateinischen und bedeute soviel wie «verspiel» haben. Wir selbst können uns aufs Spiel setzen. Die Illusion ist eine andere Form desselben Wortes. Wir können uns täuschen und verspielen, indem wir das «ausspielen», was uns gerade gefällt, anstatt zu gehorchen». Die Verbindung mit der Wirklichkeit ist lebenswichtig für den Menschen, und je schwächer diese Verbindung ist, desto leichter kann der Mensch manipuliert werden. Desto leichter kann man ihm die Illusion eines neuen Lebens an einem Ort vermitteln, den es nicht gibt: Das ist die Utopie. Wie lange kann man träumen? Beim Erwachen, wenn man mit einem Mausklick diese virtuellen Welt verlässt – das überaus traurige und gefürchtete Logoff – dann dringt die Wirklichkeit, hartnäckig wie sie ist, wieder in das Dasein ein. Es muss doch etwas in der wirklichen Welt geben, die aus echten Dingen und Menschen aus Fleisch besteht, was anziehender ist als ein zweites Leben im Second Life. Um nicht verspielt zu werden in der Welt der Avatar wie in der wirklichen Welt, ist eines notwendig. Darüber schrieb die unbeirrteste Kämpferin des 20. Jahrhunderts gegen den Betrug der Ideologie, Hannah Arendt, die vom Betrug der Macht nun wirklich etwas verstand: «Der Wirklichkeit der Dinge treu zu sein, im Guten wie im Bösen, erfordert eine umfassende Liebe zur Wahrheit und eine absolute Dankbarkeit für die Tatsache, überhaupt geboren worden zu sein». Ist das so schwierig? Die Alternative ist die bittere Enttäuschung beim Aufwachen: ein von einem Spiel «verspieltes Leben».

Steckbrief

Ein paar Zahlen

Second Life ist ein dreidimensionales Online-Spiel. Es handelt sich um eine virtuelle Welt, oder besser, um eine Plattform, auf der die Benutzer eine virtuelle Welt aufbauen können. Im Juni 2003 hat Linden Lab das Spiel gestartet, die kalifornische Informatikfirma von Philip Rosedale, dem Erfinder und Schöpfer von SL. Man spielt mit Hilfe eines Programms (des «Portals»), das man bei der Erstellung eines Benutzerkontos von einer Webseite herunterlädt. Die Teilnahme ist gratis oder gegen Bezahlung, mit unterschiedlichen Aktionsmöglichkeiten innerhalb des Spiels. Die Erstellung eines Benutzerkontos ist mit einem Avatar verbunden, das heißt einer Person mit menschlichem Aussehen oder einem «Furry» (einem Comictier, wie man es aus Comics und Zeichentrickfilmen kennt). Dieser kann sich innerhalb des Spiels frei bewegen, mit einer unglaublichen Menge an Möglichkeiten, von den Gesichtszügen über die Kleidung bis hin zu den möglichen Bewegungen und Aktionen.

Es gibt Basis-Kennzeichen, mit denen man ins Spiel hineinkommt, aber das zweite Leben lässt sich hochgradig an die persönlichen Wünsche anpassen. Man kann nämlich nicht nur Sachen kaufen (von Grund und Boden bis zu Häusern, von Kleidern bis zu Frisuren), sondern auch mögliche Aktionen und Bewegungen (Poseballs). Innerhalb des Spiels wurde eine besondere Währung geschaffen, der Linden Dollar, der es ermöglicht, «einzukaufen» und der gegen amerikanische Dollar eingetauscht werden kann (1 US $ entspricht etwa 300 L $ mit einem echten Wechselkurs). Das ermöglicht denen, die es zu wirtschaftlichem Erfolg in SL bringen, auch im wirklichen Leben Geld zu verdienen. Zu dem Zeitpunkt, zu dem wir diesen Artikel schreiben, hat die Anzahl der Benutzer die sieben Millionen weit überschritten. Davon sind etwa 30 Prozent Amerikaner, gefolgt von den Deutschen mit etwa 10 Prozent und den Franzosen mit 8 Prozent. Italien steht auf dem sechsten Platz mit etwa 300.000 Benutzern.

Etwa 60 Prozent der Benutzer liegen im Altersbereich zwischen 25 und 44 Jahren (und davon sind über 65 Prozent unter 34 Jahre alt).

Der Erfolg des Spiels hat, entsprechend einer neuen Wachstumswelle für Online-Simulationsspiele, seit Sommer 2006 ein außerordentliches Wachstum verzeichnet: Wenn man bedenkt, dass sich zwischen September 2003 und September 2006 etwa 800.000 Benutzer registriert haben, ist die Zahl von sieben Millionen Anfang Juni 2007 recht beeindruckend, bei einem Gesamtvolumen von etwa 20 Millionen «verspielten Stunden» im Monat April 2007.

Auch in der Kategorie der Geschäftsumsätze war die Zunahme beachtlich: Gemäß den im Internet veröffentlichten Daten finden alle 24 Stunden wirtschaftliche Transaktionen im Gesamtwert von über anderthalb Millionen amerikanischen Dollar statt.