Logo Tracce


Thema-Europa
Richtet sich Europa gegen die Kirche, also gegen uns?
Mario Mauro

Wie das Projekt der «Europäischen Union» weitergeführt wird, gehört zu den großen Unbekannten. Doch trotz des Stillstands hält die EU nicht unerhebliche Entscheidungsspielräume in der Hand. Das hat Auswirkungen auf zahlreiche wichtige, wenn nicht strategische Bereiche in Ethik, Wirtschaft, Markt, Diplomatie, Währungspolitik und so weiter.

Relativismus
Die derzeitige Krise des Integrationsprozesses ist das Ergebnis eines falschen Ansatzes bei der Lösung des Problems, nämlich eine politische Einstellung, die sich weigert, von der Wirklichkeit auszugehen, von der Antwort auf die Frage «Was ist Europa?». Diese grundsätzliche Frage ist sinnvoll, weil sie mit den Grundlagen der europäischen Integration selbst zu tun hat.
Benedikt XVI. erinnert uns daran, dass die großen Gefahren für das menschliche Zusammenleben einerseits vom Fundamentalismus herrühren, das heißt von dem Anspruch, Gott als Vorwand für ein bestimmtes Machtmodell zu benutzen, und andererseits vom Relativismus, also von der Annahme, alle Meinungen seien gleichermaßen wahr. Hier liegt auch der Grund für die augenblickliche Rückentwicklung der Europäischen Union. Das Problem Europas entsteht dadurch, dass die Beziehung von Vernunft und Politik von einem (falschen) Wahrheitsbegriff selbst irregeführt wird. Den Kompromiss, der zurecht als Sinn des politischen Lebens dargestellt wird, versteht man heute als Selbstzweck. Daher rührt zum Beispiel eine hysterische «Gleichheitsideologie» bei Themen wie Familie, Forschung und Menschenrechten. Sie zeigt übrigens die Beschränktheit der politischen Führungskräfte der letzten Jahre, die dazu beigetragen haben, das europäische Projekt nach und nach von seinem ursprünglichen Sinn zu entfernen.

Angriffe auf die Kirche
Was wir Europa nennen, entstand als politischer Entwurf tatsächlich aus dem Zeugnis katholischer Männer wie De Gasperi, Schumann und Adenauer. Sie haben es geschafft, als Antwort auf die von den Ideologien des 20. Jahrhunderts verursachten Verwüstungen eine ebenso pragmatische wie echte Zukunftsperspektive zu entwerfen. Aber wird ihre Vision noch geschätzt?
In den europäischen Institutionen herrscht heute ein Vorurteil gegen das Christentum. In den letzten zehn Jahren hat das europäische Parlament den Papst und den Heiligen Stuhl bis zu dreißig Mal wegen Verletzung der Menschenrechte verurteilt, Kuba und China nicht mehr als zehn Mal. In diesen Institutionen hat das Theoretisieren der Familie in allen nur möglichen und denkbaren Formen, nur nicht als Verbindung eines Mannes mit einer Frau, ein dermaßen groteskes Niveau erreicht, dass es durchaus berechtigt erscheint, die Sinnhaftigkeit der Institutionen in Frage zu stellen. Aus den Wortmeldungen, Entschließungsanträgen, kleinen Anfragen und schriftlichen Erklärungen der Europarlamentarier ergibt sich, dass die Kirche oder die Stellungnahmen des Vatikans zwischen 1994 und 2007 gut 64 Angriffen ausgesetzt waren. Dabei wurde die einfache Äußerung eines religiösen Glaubens schon als «fundamentalistisch» bezeichnet. Erst im April vereitelte die Europäische Volkspartei den Versuch von Sozialisten, Grünen, Liberalen und Kommunisten, den Präsidenten der italienischen Bischofskonferenz, Bischof Angelo Bagnasco, im Zusammenhang der Resolution gegen die Homophobie vom Europäischen Parlament verurteilen zu lassen. Wie die rückwärts gerichtete Entwicklung der europäischen Linken zeigt, gibt es Kräfte, die in den letzten Jahren den Bürgern Europas kräftig und großzügig dabei geholfen haben, nicht etwa Europa zu verwirklichen, sondern das Gegenteil dessen, wofür Europa erdacht und gewollt worden ist.

Apostasie
Der Entwurf Europas erlebt heute so viele und schwere Widersprüche, dass er oft statt einer positiven Antwort ein Hindernis zu sein scheint, eine Art grauenhaftes, sinnloses Konglomerat, das Benedikt XVI. zur Aussage veranlasste, selbst die Apostasie von Europa sei möglich. Apostasie verstanden als das sich Entfernen von der eigenen Geschichte, der eigenen Natur, von den eigenen kulturellen Wurzeln. Entfernung auch von dem Schatz der Erfahrung des Dialogs und des menschlichen Zusammenlebens, einer Erfahrung die uns schließlich mehr als fünfzig nicht zu überschätzende Jahre des Friedens, der Entwicklung und der Rechtssicherheit geschenkt hat.
Wenn wir ausgehend von dieser Tatsache zu verstehen suchen, was bei der Entwicklung des politischen Systems in Europa vor sich geht, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf einen besonderen Punkt richten. Wir müssen begreifen, dass es nicht um eine noch so feine politische Dialektik als Selbstzweck geht, sondern um das Überleben der Erfahrung, ein Volk zu sein.
Europa muss wieder begreifen, dass die Möglichkeit, geeignete Optionen für die Menschen von heute und morgen zu entwickeln von der Einstellung der Politik zum Naturrecht abhängt. Sonst werden wir uns immer mehr nicht so sehr an dem politischen Entwurf vergehen, den wir Europa nennen, sondern an der Erfahrung der Menschen, die ein Teil davon sind. In diesem Zusammenhang wiegt das Thema der christlichen Wurzeln Europas immer schwerer. Es ist kein Thema für Wunschvorstellungen der kirchlichen Hierarchie. Hier geht es um das Überleben Europas.

Politische Herausforderung
Was haben wir anzubieten, nicht nur an Sinngehalt sondern auch an politischen Projekten und Erfahrung, die das Zusammenleben der Völker fördert? Was haben wir anzubieten, wenn wir nicht in der Lage sind, uns über die Grundlage dessen zu befragen, was uns verbindet? Auf dieser Ebene stellt sich das Thema der europäischen Verfassung. Es muss Antwort geben auf diese Herausforderung. Wir müssen die Schlacht mit Fundamentalismen und Relativismen gewinnen und fähig sein zu sagen, was wir sind und an was wir glauben.
Für ein besseres Europa müssen wir wieder glauben, arbeiten und uns dafür schlagen. Europa ist christlich entstanden. Wir können nicht zulassen, dass es ein Opfer von Fälschungen und Instrumentalisierung wird. Einer ganzen Gesellschaft bietet sich die Gelegenheit, sich selbst, die eigene Identität, das eigene Gesicht wiederzufinden, aber auch das eigene Ziel, der Grund, warum wir das sind, was wir sind. Haben wir die Pflicht, diese Herausforderung anzunehmen, oder haben wir sie nicht?

* Vizepräsident des Europäischen Parlaments