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Thema-Europa
Ein neues Europa
Papst Benedikt XVI

Ansprache von Papst Benedikt XVI an die Teilnehmer eines Kongresses der Kommission der Bischofskonferenzen der europäischen Gemeinschaft. Rom, 24. März 2007

In diesen Jahren verspürte man immer mehr das Bedürfnis, ein gesundes Gleichgewicht zwischen der wirtschaftlichen und der sozialen Dimension durch eine Politik herzustellen, die imstande war, Reichtum hervorzubringen und die Konkurrenzfähigkeit zu erhöhen, ohne jedoch die berechtigten Erwartungen der Armen und Ausgegrenzten zu vernachlässigen. Unter dem demographischen Gesichtspunkt hingegen muss man leider feststellen, dass Europa anscheinend einen Weg eingeschlagen hat, der es zum Abschied von der Geschichte führen könnte. Das könnte nicht nur das wirtschaftliche Wachstum gefährden, sondern auch enorme Schwierigkeiten für den sozialen Zusammenhalt hervorrufen und vor allem einen gefährlichen Individualismus fördern, der die Folgen für die Zukunft nicht beachtet. Man könnte beinahe denken, dass Europa das Vertrauen in die eigene Zukunft verliert. (…) Wenn die Regierungen der Union anlässlich des 50. Jahrestages der Römischen Verträge sich ihren Bürgern «annähern» wollen – wie könnten sie ein so wesentliches Element der europäischen Identität wie das Christentum ausschließen, mit dem sich eine große Mehrheit der Bürger weiterhin identifiziert? Ist es nicht Grund zur Überraschung, dass das heutige Europa einerseits danach strebt, sich als eine Wertegemeinschaft darzustellen, andererseits aber immer öfter zu bestreiten scheint, dass es universale und absolute Werte gibt? Führt diese einzigartige Form der «Apostasie» von sich selbst, noch bevor sie Apostasie von Gott ist, Europa vielleicht nicht dazu, an der eigenen Identität zu zweifeln? Schließlich wird so die Überzeugung verbreitet, dass die «Güterabwägung» der einzige Weg für die moralische Unterscheidung und dass das Gemeinwohl ein Synonym für Kompromiss sei. Der Kompromiss kann wohl ein legitimer Ausgleich von verschiedenen Einzelinteressen sein; er verwandelt sich aber jedes Mal in Gemeinübel, wenn er Vereinbarungen mit sich bringt, die für die Natur des Menschen schädlich sind. Eine Gemeinschaft, die aufgebaut wird, ohne die echte Würde des Menschen zu achten, insofern sie vergisst, dass jede Person als Abbild Gottes geschaffen ist, gereicht am Ende niemandem zum Wohl. Deshalb scheint es immer unerlässlicher, dass sich Europa vor dieser heute so weit verbreiteten pragmatischen Haltung hüte, die den Kompromiss über die wesentlichen menschlichen Werte systematisch rechtfertigt, als handle es sich um die unvermeidliche Annahme eines vermeintlich kleineren Übels. Ein derartiger, als ausgewogen und realistisch präsentierter Pragmatismus ist im Grunde nicht so, gerade weil er jene Dimension der Werte und Ideale verneint, die der menschlichen Natur innewohnen. Wenn dann einem solchen Pragmatismus laizistische und relativistische Tendenzen und Strömungen eingepflanzt werden, verweigert man am Ende den Christen das Recht, sich als solche in die öffentliche Debatte einzubringen, oder es wird im besten Fall ihr Beitrag mit dem Vorwurf herabgesetzt, sie wollten unberechtigte Privilegien schützen. (…) Liebe Freunde, ich weiß, wie schwer es für die Christen ist, diese Wahrheit über den Menschen tapfer zu verteidigen. Aber werdet nicht müde, und verliert nicht den Mut! Ihr wisst: Ihr habt die Aufgabe, mit der Hilfe Gottes ein «neues Europa» zu bauen, das realistisch, aber nicht zynisch ist, reich an Idealen und frei von naiven Illusionen und sich an der ewigen und lebensspendenden Wahrheit des Evangeliums inspiriert. Seid deshalb auf europäischer Ebene aktiv präsent in der öffentlichen Debatte, dies im Bewusstsein, dass sie nun integrierender Teil der nationalen Debatte ist, und begleitet diesen Einsatz mit einem wirksamen kulturellen Handeln. Beugt euch nicht der Logik der Macht als Selbstzweck!