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María Zambrano - Die Vernunft erweitern
Dante oder die Erkenntnis der Liebe
Alberto Savorana

María Zambrano gehört zu den bedeutenden spanischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. In ihrem Schaffen hat sie sich in einem Werk auch mit dem Autor der Göttlichen Komödie befasst. Darin zeigt sie, wie die Liebe die Augen der Vernunft aufreißt und so den einzigen Weg zur Erkenntnis öffnet. Mit der Verlagerung des «Schwerpunktes» vom Ich zum Du, beginnt ein «neues Leben»

Vor Ostern hat der Direktor der Zeitung La Repubblica, Ezio Mauro, seinen Lesern einen Leckerbissen geschenkt: die ganze erste Seite des Kulturteils, mit der Vorabveröffentlichung eines Buches von María Zambrano, einer bedeutenden Gestalt des 20. Jahrhunderts in Spanien, einer Schülerin des Philosophen Ortega y Gasset und Übersetzerin der Werke von Persönlichkeiten wie Miguel de Unamuno und Antonio Machado. Obwohl sie auf europäischer Ebene nur wenig bekannt ist, hat sie uns die Bewegung dank Don Julián Carrón nahe gebracht, der sie in diesen Jahren immer wieder bei verschiedener Treffen und Exerzitien zitierte.
Gegenstand des Buches ist die Gestalt Dantes. Dante als menschlicher Spiegel, wie ihn der Titel nennt, zeigt sofort die Lesart, die die Autorin dem Schöpfer der Göttlichen Komödie in diesem Bändchen verleiht. Es wurde vom Verlag Città Aperta veröffentlicht und enthält zwei bisher unveröffentlichte Texte, mit einer Einführung von Elena Laurenzi.
Es handelt sich dabei um zwei Aufsätze, in denen María Zambrano die Erfahrung Dantes als Mensch auf einer Reise ins Herz der Wirklichkeit auslotet. Die spanische Intellektuelle schreibt: «Jedes menschliche Werk erweist sich immer, was offensichtlich ist, als ein Spiegel, in dem sich die Menschen betrachten können. Das Bild von sich selbst, das der Mensch unermüdlich sucht, lässt sich nicht auf seine Gestalt allein verkürzen. Denn es gelingt dem Menschen nicht, sich eine Gestalt zu geben, nicht einmal den Entwurf davon, wenn nicht in Beziehung zu all dem, was ihn umgibt. Und es war immer eine Besonderheit des Menschen, sich als Teil einer Beziehung wahrzunehmen: Das heißt, tatsächlich vom Universum in seiner Gesamtheit umgeben zu sein, wie ein Vermittler zwischen allen existierenden Dingen. Genau dies ist die Vorstellung vom Menschen, die Dante auf unterschiedliche Art und Weise in seinem ganzen Werk vertritt. [...] Was er uns darin anbietet, ist in der Tat die Lage des Menschen in seiner ganzen Fülle, in der vollständigen Verwirklichung seiner Möglichkeiten: So tief kann der Mensch fallen, so hoch kann er aufsteigen. [...] Dieser Vorstellung, die von der Erfahrung geprüft wurde, entspricht Dantes Werk» (S. 59 - 61).
Zambrano erklärt, dass diese Haltung Dantes im Zusammenhang der mittelalterlichen Einheit möglich ist: «Der Mensch des Mittelalters ist in der Tat der am wenigsten differenzierte und gespaltene von allen bekannten. [...] Der Mensch, der sich als heruntergekommen empfand, trug die lebendige Gegenwart des Göttlichen in sich, direkt im Mittelpunkt seiner selbst, wenn auch verdunkelt. Und eine solche Gegenwart zeigte sich nicht nur im Empfinden dessen, was später als Herz verstanden wurde, sondern über die Vernunft. Die Vernunft war göttlich. Eine transzendente Vernunft, die aus dem Göttlichen kommend die ganze Schöpfung durchdrungen und sich eine bevorzugte Bleibe im menschlichen Geiste eingerichtet hat. Dies bedeutet, dass die Vernunft eine vermittelnde Stufenleiter war und dass man mit ihrer Hilfe durch die verschiedenen Welten reisen konnte, die das sichtbare und unsichtbare Universum bilden. Die Vernunft, erleuchtet vom Glauben und der Liebe» (S. 61- 63).

Jenes Etwas, das die Erkenntnis in Bewegung setzt
Der entscheidende Teil dieser Vernunfts-Reise von Dante ist seine Beziehung zu Beatrice. Die Seiten, die Zambrano dem Thema der Erkenntnis und der Liebe gewidmet hat, überraschen. «Beatrice verleiht einer Erfahrung der von der Liebe geführten Erkenntnis Ausdruck und wacht zugleich bei ihr».
In der Einführung schreibt Laurenzi, dass Dante nach den Worten Zambranos die Erkenntnis als Frucht einer «verwegenen, hartnäckigen und furchtlosen» Aufmerksamkeit versteht, die den Verstand überschreitet, um schließlich zu einer vollständigen Verwandlung des Lebens zu führen.
Zambrano selbst beschreibt in Über das Morgenrot welches das Wesen dieser radikalen Veränderung ist: «Eine Art und Weise, zu erwarten, die den Gegenstand raubt und besitzt, in dem sie beherbergt wird, wie es die Liebe macht, und die wie die Liebe selbst eine gefährliche Treppe ist, weil sie fast immer unsichtbar ist; eine Treppe, die man bis zum Ende besteigen muss, um zur Vernunft zu gelangen. [...] Eine Form von Vernunft, in der die Passivität, die völlige Passivität befreit wird in Bezug auf die Erkenntnis und auf jenes Etwas, welches die Erkenntnis hervorbringt und in Bewegung setzt: die Liebe. Eine Vernunft ohne Paradoxe und ohne Todeskämpfe, die nicht sich selbst ähnelt, fast frei von einem Urteil, aber nicht ohne Ordnung; und die aufgrund der Tatsache, daß sie eine neue Vernunft ist, auch ein "neues Leben" sein müsste».
Und in Chiari del bosco führt sie genauer aus: «Und so hätte nur die Methode, die sich dieses Leben, letztendlich nicht mehr unter dem schützenden Dach der Logik, aufbürdet, Erfolg. Eine Methode, die aus einem vollständigen Incipit vita nova (= Ein neues Leben beginnt) hervorgeht und die alle Bereiche des Lebens aufweckt und sich ihrer annimmt. Und noch mehr jener Bereiche, die noch im Verborgenen liegen, entweder weil sie seit jeher unterworfen sind oder weil wie gerade geboren werden».
Von der Beatrice Dantes ausgehend stellt Zambrano die Beziehung zwischen Mann und Frau und die Frage nach dem anderen, nach dem der Alterität, die am Ursprung jeder menschlichen Beziehung steht. Laurenzi unterstreicht dies deutlich: «Die transzendente Macht der Liebe entfaltet sich gerade am dem Anerkennen des Anderen als ein Wesen, das nicht auf das Sich-selbst verkürzt werden kann. Die Liebe "lässt einen hin- und herreisen, kommen und gehen zwischen den entgegengesetzten Bereichen der Wirklichkeit" (M. Zambrano, Der Mensch und das Göttliche). Auf diese Weise führt sie zu einer Verschiebung des Mittelpunktes des Ichs, das sich von der Schwerkraft befreit, vom Gewicht und von dem Zwang, sich selbst zu sein».

Eine Verschiebung des Schwerpunktes
Die spanische Intellektuelle sagt, dass die «für immer transzendente Liebe, ihr unergründliches Versprechen jedes Erreichen, jede Verwirklichung disqualifiziert». Und das öffnet eine so großartige menschliche Seite: «Das Handeln der Liebe, ihr Wesen als göttliches Wirken im Menschen, erkennt man vor allem an jener Verfeinerung des Seins, das diese erfährt und erträgt. Und auch an einer Verschiebung des Schwerpunktes im Menschen. Denn Mensch zu sein, heißt, standfest zu sein, heißt, Gewicht zu haben, Gewicht auf etwas. Die Liebe führt nicht zu einer Verringerung, sondern zum Verschwinden jener Schwerkraft. [...] Der Schwerpunkt der Person hat sich auf die erste geliebte Person übertragen und in dem Moment, in dem die Leidenschaft verschwindet, wird jene Bewegung übrig bleiben, die schwierigste, die des "Außer-sich-Bleibens". [...] Außer sich leben, um über sich hinaus zu leben. Zum Abflug verfügbar leben, bereit zu jeglichem Aufbruch. Es ist die unvorstellbare Zukunft, die unerreichbare Zukunft jenes Versprechens von wahrem Leben, die die Liebe in denjenigen einsenkt, der sie verspürt» (Der Mensch und das Göttliche, S. 252).

Die Begegnung mit einem anderen, der konkret und wirklich ist
In einem anderen Werk verweilt Zambrano auf der Schlüsselrolle des Ichs bei der Begegnung mit einem anderen, der «konkret» und wirklich ist: «Die volle Aktualität dessen, was wir sind, ist nur möglich im Hinblick auf eine andere Gegenwart, auf ein anderes Wesen, das die Kraft hat, uns in Bewegung zu setzen. [...] Und wie wäre es möglich, aus sich selbst herauszugehen [...] wenn man nicht unwiderstehlich verliebt ist?» (Philosophie und Poesie, in Gesammelte Werke, Aguilar, Madrid 1971, S. 206). Und in Der Mensch und das Göttliche spricht sie von der «Treppe der Liebe»: «Notwendige Schritte, damit die Liebe ihre äußerste Frucht bringen kann, damit sie als Werkzeug der Auszehrung, als reinigendes Feuer und als Erkenntnis wirken kann» (S. 251).
Zu diesem Punkt bemerkt Elena Laurenzi in der Einführung des vorliegenden Buches, dass das, was Dante beschreibt und was María Zambrano offenlegt, «keine rein geistige und unverkörperte Liebe ist. Es ist die Liebe zu einer Frau aus Fleisch und Blut, deren physische Nähe den Geist verändert und aufwühlt. Eine Frau, die der Schriftsteller wachsen und sich verändern sieht - das kleine Kind, das junge Mädchen, die reife und verheiratete Frau - und, nach ihrem Tode, in ein noch einschneidenderes und brennenderes Fehlen eben dieser körperlichen Gegenwart. [...] Denn es ist die entscheidende, äußerst persönliche und unübersetzbare Begegnung mit jener Frau, die für Dante zur Quelle der Erleuchtung und zum Anlass der Bekehrung wird» (S. 45 - 46). Und Giuliana Carugati, eine Dante-Forscherin an der Universität von Atlanta, kommentiert die absolute Originalität des Dichters der Göttlichen Komödie folgendermaßen: «Niemand hatte jemals in einem metaphysischen Diskurs eine geschichtlich belegte Frau, ein wirkliches Verliebtsein vorgebracht, niemand hatte jemals ein subjektives Gefühl der Liebe so ausdrücklich mit einem allumfassenden Gedanken verbunden» (Das Nachdenken des Fleisches. Von der Seele der Welt zu Beatrice, Manni, Lecce 2004, S. 194).

Freundschaft zwischen Vernunft und Zuneigung
An diese Tiefe der menschlichen Liebe, wie sie von Dante bezeugt wird - ganz verschieden von jener tragischen sentimentalen und subjektivistischen Verkürzung, die von der modernen Epoche geschaffen wurde, für die jede Beziehung zu einem Sklaven der Reaktion und des Instinkts gemacht und dazu verdammt wird, nicht von Dauer zu sein - dachte Zambrano, als sie die Verse eines Landsmannes, des großen Dichters Antonio Machado zitierte:
«Verbrennen könnte ich einen Samen des Denkens
nicht im Liebenden, in der Liebe
wollte ich die innerste und wahre Wahrheit zeigen».
Gegen jeden Dualismus, der die Vernunft und den Affekt zu Feinden macht, zeigt sich in diesen Versen die Vorahnung einer «von der Liebe geführten Erkenntnis», die einzige, die das Ich in die Erfahrung eines «neuen Lebens» einführt.