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Editorial
Das Geheimnis macht uns zu Protagonisten
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«Das Leben ist ein Zusammenhang von Umständen.» Mit diesen Worten richtet sich Paolo Pezzi an diesem lauwarmen Samstag, den 27. Oktober in der Moskauer Bibliothek des Heiligen Geistes an die russische Gemeinschaft von CL. In ein paar Stunden wird er zum Erzbischof der russischen Hauptstadt geweiht. Das außergewöhnliche Ereignis wirft viele Fragen nach der Bedeutung der Umstände auf? Für Pater Romano Scalfi, der vor 50 Jahren am Anfang der Präsenz von CL in Russland stand, ist eines klar: «Es war unmöglich, sich vorzustellen, was alles aus meinem Traum werden sollte, Pfarrer einer kleinen russischen Pfarrei zu werden. Aber nur der Herr ist in der Lage, die tiefsten Wünsche des Herzens zu erhören. So brachte dieser Traum schließlich Bischof Paolo hervor. Nach 50 Jahren muss ich dem Herrn für alles Unvorhergesehene danken.» Nichts ist offensichtlicher an diesem Samstag als die Tatsache, dass ein Anderer das Leben des Menschen leitet. Es ist aber ebenso klar, dass «er unser Ja verlangt, das Ja von uns, die wir Nichts sind», ruft Don Carrón in Erinnerung. Ein Ja, wie das erste Ja von Paolo bei der Begegnung mit einem Kommilitonen beim Wehrdienst. Dieser unvorhergesehene Umstand war die Art und Weise, durch die das Geheimnis damals bei ihm anklopfte, ihn an sich zog und ihm gleichsam sagte: «Ich bin der Herr deines Lebens, der Herr der Geschichte – und nicht Macht dieser Welt.» Was das heißt, macht ein Spaziergang durch die Stadt augenscheinlich. Die düster-graue Hauptstadt von 1989 ist kaum wiederzuerkennen. Moskau boomt, farbenfroh setzt sich die Metropole in Szene. Ein Regime, das sich für ewig und allmächtig hielt, brach in sich zusammen, unter der Last der Anmaßung, «Leben und Schicksal» von Millionen Menschen zu bestimmen, um es mit Grossman zu sagen.
Das Drama der Welt vollzieht sich im Herzen jedes Menschen: «Das Christentum bleibt uns unverständlich, wenn wir nicht zur grundlegenden Einsicht gelangen, dass wir uns selbst fremd sind. Nur ein Anderer kann diese Fremdheit durchbrechen und uns befähigen, mit einer Vertrautheit Ich zu sagen, die Frucht einer neuen Art der Beziehung zur Wirklichkeit ist», erläutert Pezzi. «Wenn wir uns diesem Anderen widersetzen, veröden wir innerlich. Wenn wir ihm aber nachgeben, beginnt in uns die Verwandlung der Welt.»
In der jüngsten Spuren-Ausgabe forderten wir dazu auf, gemeinsam auf konkrete Beispiele zu blicken und wir sprachen von der Erziehung als einzigem Ausweg aus der allgemeinen Verwirrung, in der sich die Politik befindet. Aber dies gilt natürlich nicht nur für öffentliche Angelegenheiten, sondern für jeden, für mich und für dich. Es gilt in jedem Lebensbereich, für die Kultur, die Liebe, die Arbeit.
Genau hiervon handeln die Beiträge im vorliegenden Spuren-Heft. Es sind Beispiele, die veranschaulichen, was mit Erziehung gemeint ist: Menschen am Werk, Menschen, die die Wirklichkeit intensiv leben und dabei anderen zu Gefährten werden, wie bei Vicky, der aidskranken Afrikanerin, von der wir in der letzten Ausgabe von Spuren berichteten: «Vicky, du hast einen Wert, der größer ist und mehr wiegt ist als deine Krankheit oder dein Tod.» Konkrete Beispiele wie dieses gilt es in den Blick zu nehmen. Ebenso die Geschichte von «Bot», die in dieser Ausgabe erzählt wird. Diese Menschen rufen anderen zu: «Du zählst!» und machen sie so zu Protagonisten der Geschichte. Das gilt für den schwer erziehbare Jugendlichen ebenso wie für den jungen Familienvater, die Teeny-Mutter aus Sibirien oder den Russlandmissionar, den der Papst zum neuen Erzbischof von Moskau ernannt hat: Das Geheimnis macht uns zu Protagonisten.
«Du zählst» zu sagen bedeutet, das Bedürfnis des anderen zutiefst ernst zu nehmen, ihn im Alltag zu begleiten, bei der Arbeit oder der Erziehung der Kinder zu unterstützen. Freilich ohne sich an seine Stelle zu setzen. Ohne ihn zu ersetzen (Eltern wissen nur zu gut, was gemeint ist). Um zu leben, braucht der Mensch solche Beispiele, eine solche Erziehung.
Nachdem Julián Carrón beim Treffen zum Jahreseröffnungstag Vickys Brief vor mehr als zwanzigtausend Menschen vorgelesen hatte, sagte er: «Solche Menschen sind für mich Freunde und Weggefährten, auch wenn ich sie wahrscheinlich nie mehr sehen werde, weil die Bekanntschaft mit ihnen es möglich macht, sich jedwedem Umstand zu stellen. Diese radikale Offenheit, die Christus bringt, kann alles ändern. Dies gilt für jeden von uns, gleich in welchen Umständen er lebt.»