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Benedikt XVI. Jesus von Nazareth
Das Evangelium vom Reich Gottes
José Miguel Garcia

Spuren will sich in einer Reihe von Artikeln mit einigen Kernproblemen befassen, die Papst Benedikt XVI. in seinem Buch Jesus von Nazareth anspricht. Die Fragen betreffen das Reich Gottes, den Zweck der Gleichnisse, den historischen Wert der Erzählungen über gewisse Wunder oder den Primat Petri. Dabei soll es darum gehen, ein vernünftiges Verständnis zu vertiefen, um im Bewusstsein und der Zuneigung für die Person Christi zu wachsen.

Zeugen, keine Schöpfer
Seit der Entstehung der modernen Textkritik hat die akademische Welt eine Haltung des Misstrauens gegenüber dem historischen Wert der Evangelien eingenommen. Und diese Skepsis hat sich mit der Zeit zu einer weit verbreiteten Mentalität entwickelt. Die radikale Trennung, ja sogar der Widerspruch, die einige Historiker zwischen dem Jesus der Geschichte und dem Christus des Glaubens aufbauen, gehen auf ein philosophisches Vorurteil zurück. Im Allgemeinen aber gründen sie auf der Hypothese, dass diese Bücher keine historischen Ereignisse bezeugen: Die Erzählungen des Evangeliums sind demnach keine Zeugnisse von Fakten, die wirklich geschehen sind, sondern nur theologische Schöpfungen, die den Glauben der christlichen Gemeinde in Christus zum Ausdruck bringen wollen. Mit anderen Worten, die Evangelien sind nicht aus dem Zeugnis von der Begegnung mit einem außergewöhnlichen Menschen entstanden, sondern aus einer Erfindung oder Mythologisierung. Im Gegensatz dazu ist es aber gerade nicht der Glaube, der die im Evangelium erzählten Fakten hervorbringt, sondern es sind die Fakten, die sich ereignet haben, die den Glauben der Menschen an Jesus hervorbringen – und auch das Verlangen, allen von dem mitzuteilen, was sie getroffen haben. Diese Bücher entstanden also aus der Leidenschaft, allen Menschen ein Zeugnis der gelebten Erfahrung zu geben. Deshalb vermitteln sie durchaus wahrheitsgetreue Nachrichten über Jesus, auch wenn sie nach Tod und Auferstehung Jesu geschrieben worden sind. Wenn wir die Erzählungen des Evangeliums lesen, treten wir in Kontakt mit dem wirklichen Jesus, wie es Benedikt XVI. in seinem Buch Jesus von Nazareth bekräftigt.
Wir wollen uns dieser historischen Figur, Jesus, nähern, die Kenntnis seiner Persönlichkeit vertiefen, im Bewusstsein dieser Person und in der Zuneigung zu ihr wachsen. Zu diesem Zweck greifen wir aus einer mehr historischen Perspektive einige Reden und Ereignisse auf, die der Papst in seinem Buch kommentiert. Unter allen Aspekten, die das exegetische Studium des Evangeliums umfasst, ist dabei die wichtigste und entscheidendste Frage zu zeigen, dass die Evangelisten lebendige Fakten bezeugen, also eine Geschichte, die sich wirklich ereignet hat.
Wir werden uns den Einzelfragen zuwenden, auf die sich der Papst in seinem Buch bezieht. Dabei geht es um einige Aussagen Jesu zu folgende Fragen: das Reich Gottes, der Zweck der Gleichnisse, der historische Wert einiger Erzählungen über die Wunder, die Institution des Primats Petri. Es wird eine Reise in verschiedenen Abschnitten sein, die sich auf jene Sorgen bezieht, die für Benedikt XVI. Anlass waren, sein Werk über Jesus zu schreiben. Es soll helfen, sich den Evangelien voller Vernunft anzunähern. Einbezogen werden auch die jüngsten Ergebnisse der historischen Forschung. Dabei sind wir uns auch der dramatischen Herausforderung für den Glauben bewusst. Wir leben in einer Mentalität, für die Christus kein Faktum ist, das sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte ereignet hat. In einer solchen Situation – schreibt der Papst –«droht die tiefe Freundschaft mit Jesus, von der alles abhängt, sich in einer Leere zu verheddern.»
Papst Benedikt XVI. hat bei der Diözesankonferenz von Rom mit folgenden Worten den Grund für die Veröffentlichung seines Buches Jesus von Nazareth genannt: «Nur wer Jesus Christus kennt und liebt, kann die Brüder in eine lebendige Beziehung mit Ihm hineinführen. Und von dieser Notwendigkeit bewegt habe ich mir gedacht: Es wäre nützlich ein Buch zu schreiben, das hilft, Jesus kennen zu lernen.» Der Zweck des Buches ist es also, Jesus so kennen zu lernen, wie ihn die Evangelien darstellen, und nicht wie ihn die Interpretationen zahlreicher Gelehrter entwerfen, die sich oft als reine Erfindungen erwiesen. «Dies alles – so gut ich konnte – aufnehmend,» – schreibt Benedikt XVI. im Vorwort zu seinem Buch – «wollte ich doch den Versuch machen, einmal den Jesus der Evangelien als den wirklichen Jesus, als den „historischen Jesus“ im eigentlichen Sinn darzustellen. Ich bin überzeugt und hoffe, auch die Leser können sehen, dass diese Gestalt viel logischer und historisch betrachtet viel verständlicher ist als die Rekonstruktionen, mit denen wir in den letzten Jahrzehnten konfrontiert wurden. Ich denke, dass gerade dieser Jesus – der der Evangelien – eine historisch sinnvolle und stimmige Figur ist.» Deshalb sind die Evangelien die historische Quelle, auf die das Buch zurückgreift. Die Erzählungen der Evangelien aber, sind nicht immer unmittelbar und einfach, nicht immer ist ihrem gesamten Gehalt verständlich. Manchmal stoßen wir auf unklare Worte oder Erzählungen, die schwer zu verstehen sind. Das zeigt uns deutlich das Stück des Matthäusevangeliums, Kapitel 11, Vers 12, welches Benedikt XVI. als «Worte, die schwierig zu erklären sind» bezeichnet. Versuchen wir nun eine mögliche Klärung des Rätsels zu finden, das sich in diesen Worten verbirgt.

Der Text von Matthäus
Zu Beginn wollen wir an den Text von Matthäus erinnern: «Aber seit den Tagen Johannes des Täufers bis heute bricht sich das Himmelreich Bahn mit Gewalt, und Gewalttätige reißen es an sich.» Von welcher Gewalt spricht Jesus? Wer sind diese Gewalttätigen? Die Gelehrten geben unterschiedliche Antworten darauf. Einige meinen, mit Johannes dem Täufer habe eine Bewegung moralischer Erneuerung begonnen, um die Ankunft des Reiches vorwegzunehmen; die Gewalttätigen, die sich dessen bemächtigen, sind jene, die die Predigt des Täufers annehmen. Sie wollen das Himmelreich mit Gewalt auf Erden durchsetzen. Dieser Interpretation kann man die Bitte des Vater unser entgegenhalten: «Dein Reich komme.» Mit diesen Worten zeigt Jesus, dass die Ankunft des Reiches Gottes allein Gottes Werk ist. Man kann darum bitten, dass es Wirklichkeit werde, aber man kann es nicht durch eine menschliche Aktion erzwingen.
Andere moderne Autoren haben gemeint, in diesen Worten Jesu eine Anspielung auf die Zeloten zu sehen, eine religiös-politische Gruppe der damaligen Zeit. Deren Hauptmerkmal war der gewaltsame Kampf gegen die römischen Machthaber. Ziel war die Befreiung Palästinas, da der einzige Herr des Landes Israel Gott war. Um die Vorherrschaft Gottes wiederherzustellen, haben die Zeloten dem Römischen Imperium in den Jahren 66 bis 70 nach Christus sogar den Krieg erklärt. Zwei Fakten machen diese Auslegung der Worte Jesu unmöglich: Erstens gab es die Zeloten bereits, bevor Johannes der Täufer mit seiner Predigt der Umkehr begann. Zweitens stand Jesus einem solchen oder ähnlichen Gewalteinsatz kritisch gegenüber.
Wieder andere haben eine Anspielung auf die feindselige Haltung der Schriftgelehrten und Pharisäer herausgelesen, die den Menschen die Pforten des Reiches Gottes verschließen und jene, die es ersehnen, nicht eintreten lassen (vgl. Mt 23, 13). Wenn dem so wäre, dann wäre zwar der erste Teil der Rede verständlich, allerdings blieb der zweite vollständig dunkel. Um ihm einen Sinn zu verleihen, sind jene Gelehrten gezwungen, so zu übersetzen: «Seit den Tagen Johannes des Täufers bis heute wird dem Himmelreich Gewalt angetan, und die Gewalttätigen entreißen es (den Herzen derer, die sich danach sehnten, in es einzutreten).» Die Tatsache, dass man eine Erklärung hinzufügen muss, zeigt, dass diese Übersetzung erzwungen ist. Außerdem ist das, dessen sich die Gewalttätigen im Original bemächtigen, das Himmelreich. Es ist also logisch, anzunehmen, dass sie sich dessen bemächtigen, um dessen Herren zu werden, und nicht, um es anderen wegzunehmen.

Des Rätsels Lösung
Um für dieses Rätsel eine Lösung zu finden, muss man von einer historischen Gegebenheit ausgehen, nämlich der Haltung Jesu gegenüber den Zöllnern und Sündern. Das Judentum zur Zeit Jesu glaubte, Gott sei gegen die Sünder barmherzig, aber nicht gegen die Heiden. Ebenso wenig habe er Mitleid mit Juden, die – in Gebräuchen und Berufen – wie Heiden lebten. Auf ihnen lastete die Verfluchung. Zu jener Gruppe gehörten neben anderen Juden, die Glücksspiel betrieben, die Wucherer, die Hirten und die Zöllner. Jesus verkündet die frohe Botschaft der göttlichen Barmherzigkeit in Wort und Tat also jenen Sündern, «denen nicht vergeben werden kann.» Während seinem öffentlichen Auftreten verkündet Jesus, dass jene Menschen von Gott Annahme und Vergebung erfahren und, mehr noch, dass sie dazu berufen sind, am Reich Gottes teilzuhaben, das heißt dass sie eingeladen waren, in jenen Bereich einzutreten, in dem Gott endgültig und unwiderruflich die Sehnsucht des menschlichen Herzens erhört. Die Tatsache also, dass Jesus verkündet, dass Gott die Teilhabe dieser Sünder an der Glückseligkeit wünscht und er selbst Symbol dieser Errettung durch die Annahme und Mahlgemeinschaft mit ihnen ist, war ein Skandal für die frommen Juden und daher Grund für die Feindschaft gegenüber Jesus. Ein klares Zeugnis dieses Skandals und dieser Feindschaft sind folgende Worte, die Jesus im Matthäusevangelium sagt: «Johannes ist gekommen, er isst nicht und trinkt nicht und sie sagen: Er ist von einem Dämon besessen. Der Menschensohn ist gekommen, er isst und trinkt; darauf sagen sie: Dieser Fresser und Säufer, dieser Freund der Zöllner und Sünder!» (Mt 11, 18f.) Es ist klar, dass der Herr sich in diesem Abschnitt, wie auch oben schon gesagt wurde, auf Worte der Schriftgelehrten und Pharisäer bezieht, die Anstoß genommen hatten.

Zöllner und Sünder
Aber wenn Jesus sagt, dass die Zöllner und Sünder von Gott in sein Reich aufgenommen und eingeladen sind, an den Erlösungsgütern teilzuhaben, welche in einem Bereich vorzustellen sind, in dem Gott wohnt, dann beinhaltet diese Verkündigung für die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Gewalttat am Himmelreich: Jene, die davon ausgeschlossen waren, treten jetzt gewaltsam ein, sie bemächtigen sich oder rauben etwas, was ihnen nicht zusteht. Mit anderen Worten: Das Himmelreich erleidet Gewalt, weil Menschen eintreten, die, nach jüdischem Gesetz, davon ausgeschlossen waren. Die Gewalttätigen, die dieses Reich Gottes rauben, sind die Zöllner und Sünder, «denen nicht vergeben werden kann.» Ähnliches drückt Jesus im Gleichnis vom verlorenen Sohn aus: Der Protest des älteren Bruders, der nicht an der Freude des Vaters über den heimgekehrten sündigen Sohn teilhaben möchte, scheint zu bedeuten, dass er meint, der Bruder sei mit Gewalt in das Haus seines Vaters eingetreten, während nur er, der sein ganzes Leben lang dem Vater gehorcht hat, ohne auch nur ein Gebot zu übertreten, verdienterweise dort wohne (Lk 15, 29ff.). Daher drücken diese Worte Jesu, in denen das Echo des Denkens seiner Gegner mitschwingt, keine Klage aus, sondern vielmehr einen Jubelruf, der die Sünder tröstet, die von den Pharisäern und Schriftgelehrten mit so viel Verachtung abgelehnt werden. Es ist eine flammende Erklärung Jesu angesichts ihrer widerspenstigen Feindseligkeit.

Ein Ort zum Eintreten
Es ist bekannt, dass die Verkündigung Jesu um das Reich Gottes kreist. In der jüdischen Tradition ist der Ausdruck «Reich Gottes» verbunden mit der Herrschaft Gottes, mit seinem Königtum. Man nutzt es, um von seiner Überlegenheit zu sprechen. Ohne gänzlich mit dieser Vorstellung zu brechen, führt Jesus dennoch eine radikale Neuheit ein, denn aus seinem Munde spiegelt dieser Begriff ein konkretes Bild wider, nämlich das von Gott als einem idealen Herrscher, in dessen Bereich die tiefsten Sehnsüchte des Menschen erhört werden, die Sehnsüchte, die das menschliche Herz ausmachen. S. Aalen schreibt: «Tatsächlich ist die typische Terminologie, welche in den Evangelien in Bezug auf das Reich Gottes verwendet wird, in Ausdrücken und Wendungen völlig anders als die Terminologie, die wir als typisch jüdisch gekennzeichnet haben. In den Evangelien ist beispielsweise die Metapher von jemandem, der in das Reich ´eintritt´, wesentlich (Mt 5, 20ff..; Mk 9, 47; 10, 15.23). Diese Idee des ´Eintretens´ wird häufig von Jesus in seinen Reden verwendet, die zum Kernbestand seiner Äußerungen gehören. Man tritt auch in das (ewige) Leben ein (Mk 9, 43; Mt 19, 17). Der treue Verwalter tritt ein, er hat Teil an der Freude seines Herren (Mt 25, 23); oder man tritt durch die enge Pforte ein (Lk 13, 24). Niemand kann die Tatsache bestreiten, dass das Reich Gottes in diesen Texten als ein Land, ein Bereich vorgestellt wird.» In denselben Bereich besonderer Bilder gehören die Worte Jesu, die ein Festmahl zeigen – welches in einem geschlossenen Bereich gefeiert wird –, der Tafel des Reiches Gottes (Mt 8, 11; Lk 14, 15), die Schlüssel zum Himmelreich (Mt 16, 19), die Verschließung des Himmelreiches (Mt 23, 13), die Verjagung aus dem Reich (Mt 8, 12).
Wenn also in der jüdischen Tradition der Begriff «Reich» (malakut) dazu dient, die Königsherrschaft, die Überlegenheit Gottes zu bezeichnen, so bezeichnet er in den Evangelien prinzipiell keine Eigenschaft Gottes, sondern vielmehr die Güter, welche die Rettung durch Gott umfassen und den Menschen durch Jesus Christus vermittelt werden. Ein deutliches Beispiel dieser Vorstellung ist die Rede Jesu in Matthäus 11, 12, die wir eben untersucht haben. Darin bezeichnet das Reich Gottes einen Ort, in den man eintritt, um an der Fülle des Lebens teilzuhaben, was nicht bedeutet, die Herrschaft Gottes vermindern zu wollen. Wir wollen unterstreichen, dass das von Jesus in seinen Worten geoffenbarte Bild des Reiches Gottes dasjenige eines Territoriums, eines Bereichs ist, in den man eintritt oder wohin man geht; ein Raum, wo Gott wohnt, der den Menschen dorthin einlädt, um ihn an den Gütern teilhaben zu lassen, die in vollständiger und endgültiger Weise alle seine Bedürfnisse und seine radikale Not befriedigen.