Logo Tracce


Thema / Ein Beispiel für alle
Auf jemanden schauen, der schaut
Davide Perillo

Erziehung als Einführung in die Gesamtwirklichkeit vollzieht sich nicht durch Gebrauchsanweisungen oder abstrakte Pflichtbefolgung, sondern indem man auf jemanden schaut, der einen weiteren Blick hat, weil er selbst in Einfachheit nachfolgt. Der erste Weg der Erziehung ist deshalb eine Freundschaft, die alle Aspekte des Lebens einbezieht, wie das Beispiel von Bottini zeigt.

Erste Szene: Vergangenen Sommer in Sankt Moritz. Grüne Wiesen, steile Berge, eine typische Schweizer Postkartenlandschaft eben. Unter den in der Abendsonne flanierenden Touristen tauchen auf einmal fünfhundert fröhliche Gesichter auf. Es sind Jugendliche, die Spuren verkaufen und zu einem Fest einladen. Die treibende Kraft inmitten des Trubels ist ein dünner älterer Typ in Jeansjacke, der sich nicht zurückhält und sogar den Bürgermeister einlädt. Zweite Szene: Ein Zimmer im Zentrum von Mailand. Zwanzig Personen sitzen um einen Tisch. Sie sind Bankangestellte und treffen sich zum Seminar der Gemeinschaft. Wiederum sehen wir den Typ in Jeansjacke unter ihnen. Dritte Szene: Der lange Saal eines Oratoriums am Rande von Mailand. An den Tischen sitzen etwa hundert Leute zum Abendessen. Wiederum junge Gesichter, die Atmosphäre ist heiter. Und man muss nur dorthin schauen, wohin sie blicken, um zu verstehen, dass der Bezugspunkt wiederum jener Typ in der Jeansjacke ist, oder besser gesagt, Claudio Bottini. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und ist von Beruf Bankangestellter. Sein Lebenslauf gleicht dem klassischen Werdegang des Durchschnittsbürgers. Doch sieht man, wie er seine Zeit verbringt, ist genau das Gegenteil der Fall. Er ist von außergewöhnlicher Vitalität, ein Mensch, der das Leben liebt.
Das Abendessen im Oratorium findet einmal im Monat statt und ist Ausdruck einer Freundschaft, die vor ein paar Jahren ganz schlicht begann: Die beiden ersten Jugendlichen, die Bot – wie seine Freunde ihn nennen - begegnen, sind von ihm fasziniert. Schnell erweitert sich die Freundschaft, «in konzentrischen Kreisen», wie Bottini erklärt. «Zunächst haben wir uns getroffen, um das Buch Kann man so leben? zu lesen. Allmählich kam dann die Frage nach einer Methode auf, einer kontinuierlichen Arbeit. Der eine brachte den anderen mit, und dieser wieder einen anderen ... So entstand langsam dieser Ort von jungen Leuten, die gerade der Schule entwachsen sind bis hin zum Dreißigjährigen, der frisch verheiratet ist.» Sie erzählen von sich, ihrer Arbeit, den Kindern und Problemen. «Wir teilen einfach das Leben», so Bottini. «Mich interessiert nicht, ob sich jemand unbedingt für CL entscheidet; mich interessiert, dass er bis in die Tiefe ganz er selbst wird. Ich lege keinen Wert auf Formeln, sondern auf Beziehungen.»
So versteht man besser, warum aus diesem Zusammensein eine Caritativa und Orte gegenseitiger Hilfe, wie etwa die Gruppe der «Jungunternehmer unter dreißig», oder die Fraternitätsgruppen entstanden sind. Aus einem intensiven Leben. «Der Ausgangspunkt in der Wirklichkeit ist stets das Bewusstsein seiner selbst», sagt Bottini. «Es ist ein Blick, den man empfangen hat und empfängt, und der mich erzieht.»
Diesen Blick hat Bot schon als Kind erfahren. Es war der Blick der Mutter, «die noch heute immer den Rosenkranz in der Hand hält»; und des Vaters Erminio, ein Arbeiter und Sozialist. Er ging am Sonntag um halb fünf zur Messe, um dann bei Pirelli das Gehalt aufzubessern. «Dadurch hat er mir das Studium ermöglicht. Meine Tradition hat mich katholisch geprägt. Aber sie verschwand allmählich, wie ein Fluss, der zu einem Rinnsal und schließlich zu einer Lache verkümmert. Irgendwann wurde mir alles zu eng.» Die Luft zum Atmen fand er während eines Treffens im Oratorium Santa Maria al Naviglio wieder. «Die Leute dort beeindruckten mich, weil sie wirklich zusammen waren.» Es folgten weitere Einladungen, unter anderem zur Feier der drei vorösterlichen Tage in Varigotti. «Dort hörte ich Don Giussani aus dem Hintergrund der Kirche. Ich hatte wenig verstanden, aber als ich die Kirche verließ, war mir eines klar: Dieser Mann lebt wirklich sein Menschsein.» Während der Exerzitien 1974 folgte der erste unmittelbare Kontakt zu Don Gius. «Ein physischer Kontakt natürlich. Ich betrete das Podium, um die Hinweise zu geben, direkt neben ihm. Nach dem Ende der Hinweise spüre ich einen heftigen Schlag auf meinem Rücken: ‚Was für eine Entschiedenheit du hast!‘ Er nahm mich unterm Arm und wir gingen zusammen zum Hotel.» Mehr oder weniger die gleiche Szene spielte sich ab, als Bot noch ein kleiner Junge war. Damals war es sein Vater, der ihn an der Hand nahm, um gemeinsam zur Beichte in das Oratorium zu gehen. «In einem gewissen Sinne war mein Vater ein wenig wie Don Giussani. Er sagte mir oft: \\\'Denk daran, dass das Leben nicht das ist, was du willst.\\\' Während das bei Giussani ein ständiger Verweis auf die Abhängigkeit von Christus bedeutete. Letztlich kann man beides in der Tiefe nicht vergleichen, klar. Aber trotzdem ist es dieselbe Sache, oder?»
Ja, es ist dasselbe. Derselbe väterliche Blick. «Bevor ich heiratete, waren meine Frau Dora und ich unsicher, wo wir leben und uns niederlassen sollten. Wir besuchten also Don Giussani, um mit ihm darüber zu sprechen. Nur dass unser Auto einen Schaden hatte und wir eineinhalb Stunden zu spät bei ihm ankamen. Ich schelle und er öffnet und umarmt mich. Es war so beeindruckend, dass ich ihn noch heute vor mir sehe. Eine solche Umarmung habe ich erst Jahre später wieder erlebt, als ich Johannes Paul II. während eines Jubiläums der Arbeiter begrüßen durfte. Nachher habe ich geweint. Dieser Mann schaute dich und er schaute dabei Christus an. Und indem er Christus anschaute, schaute er dich an. Siehst du, das Christentum ist nicht nur eine Antwort oder ein Staunen, es ist eine Umarmung. Jemand, der dich ergreift und nicht wieder loslässt. Im Leben interessiert mich am meisten, dass die Welt die Schönheit Christi erkennt. Und das Einzige, was man dazu tun kann, ist zu sagen: Komm auch du, um zu sehen! Entscheidend ist, dass dieses Du all jene sind, denen du begegnest. Keiner ist ausgeschlossen.» Dasselbe galt auch für Claudio, einen Kollegen, der der linksrevolutionären Arbeitervereinigung Avanguardia Operaia angehörte. Er sah, wie Bot in der Mensa das Kreuzzeichen machte und fragte ihn unvermittelt: «Entschuldige, aber was hat das mit den Spaghetti zu tun?» Man stelle sich vor, und aus der Frage entwickelte sich ein Weg, der Claudio schließlich dahin führte, ein Mönch zu werden.
«Wer lässt mich all dies tun», fragt Bot sich manchmal. «Es ist eine Liebe, die ich empfange. Die Liebe Christi zu mir. Bis hin zur eigenen Sehnsucht. Hier spielt sich alles ab. Früher hattest du möglicherweise den Hochmut zu sagen: Das bin ich mit meinen Fähigkeiten, es hängt alles von mir ab. Es ist aber inzwischen mehr als klar, dass ein Anderer wirkt. Es ist das Geheimnis, das wirkt. Und an dieser Stelle muss ich meiner Frau danken. Wenn sie morgens aufsteht, geht sie als Erstes in die Küche, um den Angelus zu beten. Beeindruckend, die Dora! Nach dreißig Jahren Ehe bin ich immer noch überrascht, an ihr wieder etwas Neues zu entdecken. Aber auch dies hängt letztlich von einer Erziehung ab – und von einem Blick. Ich habe einen bestimmten Umgang mit meiner Frau gelernt, indem ich darauf achtete, wie einige meiner Freunde mit ihren Freunden umgingen und zusammen waren. Ebenso lerne ich viel von meinen Freunden der Memores Domini. Ich sehe sie kniend beten und sage mir: Daher nehmen sie also ihre Energie. Und allmählich habe auch ich begonnen, früher aufzustehen, die Stille einzuüben, in die Kirche zu gehen und vor der Messe eine halbe Stunde vor dem Allerheiligsten zu verweilen. Denn du siehst Ihn.»
Der Abend geht mit Hinweisen und Verabschiedungen zu Ende. Aber ehe er mich umarmt, erzählt Bot noch etwas: «Vor zwei Monaten, während des Abendessens im Oratorium, war auch Don Carrón zugegen. Er hat die Freunde dort gesehen und sie erzählen hören. Dann sagte er uns zwei wichtige Dinge: «Schaut auf die Erfahrung, die ihr macht und verändert nicht die Methode. Denn das Geheimnis teilt sich in einfachen Hinweisen mit.» Einfach – so einfach wie auf jemanden schauen, der selber auf etwas anderes schaut.