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Papst Benedikt XVI
Auf Christus schauen
Papst Benedikt XV

Papst Benedikt XVI. hat vom 7. bis 9. September Österreich besucht. Anlass war 850 Jahresfeier des Wallfahrtsortes Mariazell. Dort kam er als „Pilger unter Pilgern“ zum Gnadenbild und feierte mit über 30.000 Gläubigen einen Gottesdienst. Seine Predigt stand unter dem Motto des gesamten Besuchs: Auf Christus schauen: «Er bittet, dass wir ihm vertrauen und so das Sein in der Wahrheit und in der Liebe erlernen», betonte der Papst. Weitere Höhepunkte des Besuchs waren seine Visite im Stift Heiligenkreuz sowie der große Gottesdienst im Wiener Stephansdom. Zum Auftakt seiner Reise hatte Benedikt XVI. der ermordeten Juden Österreichs während der NS-Zeit gedacht und in einer Grundsatzrede in der Wiener Hofburg die Europäer ermahnt, ihre christlichen Wurzeln nicht zu verleugnen. Im folgenden geben wir Ausschnitt aus dieser Ansprache, sowie aus der Predigt in Mariazell wieder.

Begegnung mit den Autoritäten und dem diplomatischen Korps1
(...) Dieser Besuch ist mein erster als Bischof von Rom und Oberhirte der katholischen Weltkirche in diesem Land, das ich freilich seit langem und von vielen früheren Besuchen her kenne. Es ist – lassen Sie mich das sagen – für mich wirklich eine Freude, hierher zu kommen. Ich habe hier viele Freunde und als bayerischem Nachbarn sind mir österreichische Lebensart und Traditionen vertraut. Mein großer Vorgänger Papst Johannes Paul II. seligen Angedenkens hat Österreich dreimal besucht. Er ist von den Menschen in diesem Land jedesmal mit großer Herzlichkeit aufgenommen worden, seine Worte sind aufmerksam gehört worden und seine Pastoralreisen haben ihre Spuren hinterlassen.
(...)
Das «Haus Europa», wie wir die Gemeinschaft dieses Kontinents gerne nennen, wird nur dann ein für alle gut bewohnbarer Ort, wenn es auf einem soliden kulturellen und moralischen Fundament von gemeinsamen Werten aufbaut, die wir aus unserer Geschichte und unseren Traditionen gewinnen. Europa kann und darf seine christlichen Wurzeln nicht verleugnen. Sie sind ein Ferment unserer Zivilisation auf dem Weg in das dritte Jahrtausend. Das Christentum hat diesen Kontinent zutiefst geprägt, wovon in allen Ländern, gerade auch in Österreich, nicht nur die zahlreichen Kirchen und bedeutenden Klöster Zeugnis geben. Der Glaube hat sein Zeugnis vor allem in den unzähligen Menschen, die er durch die Geschichte herauf bis zum heutigen Tag zu einem Leben der Hoffnung, der Liebe und der Barmherzigkeit bewegt hat. Mariazell, das große österreichische Nationalheiligtum, ist zugleich ein Ort der Begegnung für verschiedene europäische Völker. Es ist einer der Orte, an denen sich Menschen die «Kraft von oben» für ein rechtes Leben geholt haben und holen.
In diesen Tagen wird das christliche Glaubenszeugnis inmitten von Europa auch durch die Dritte Europäische Ökume¬nische Versam¬mlung in Sibiu/Hermannstadt (in Rumänien) zum Ausdruck gebracht, die unter dem Motto steht: «Das Licht Christi scheint auf alle. Hoffnung für Erneuerung und Einheit in Europa». Wer denkt da nicht an den Mitteleuropäischen Katholikentag, der im Jahr 2004 so viele gläubige Menschen unter dem Leitwort «Christus – die Hoffnung Europas» in Mariazell zu¬sam¬mengeführt hat!
Heute ist häufig die Rede vom europäischen Lebensmodell. Damit ist eine Gesell¬schafts¬ordnung gemeint, die wirtschaftliche Effizienz mit sozialer Gerechtigkeit, politische Pluralität mit Toleranz, Liberalität und Offenheit verbindet, aber auch das Festhalten an Werten bedeutet, die diesem Kontinent seine besondere Stellung geben. Dieses Modell steht angesichts der Zwänge der modernen Ökonomie vor einer starken Herausforderung. Die viel zitierte Globalisierung kann nicht aufgehalten werden, es ist aber eine dringende Aufgabe und eine große Verantwortung der Politik, der Globalisierung solche Regeln und Grenzen zu geben, dass sie nicht auf Kosten der ärmeren Länder und der Ärmeren in den reichen Ländern realisiert wird und nicht den kommenden Generationen zum Nachteil gereicht. (...)

Leben
In Europa ist zuerst der Begriff der Menschenrechte formuliert worden. Das grundlegende Menschenrecht, die Voraussetzung für alle anderen Rechte, ist das Recht auf das Leben selbst. Das gilt für das Leben von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende. Abtreibung kann demgemäß kein Menschenrecht sein – sie ist das Gegenteil davon. Sie ist eine «tiefe soziale Wunde», wie unser verstorbener Mitbruder Kardinal Franz König zu betonen nicht müde wurde. Mit alledem spreche ich nicht von einem speziell kirchlichen Interesse. Vielmehr möchte ich mich zum Anwalt eines zutiefst menschlichen Anliegens und zum Sprecher der Ungeborenen machen, die keine Stimme haben. Ich verschließe damit nicht die Augen vor den Problemen und Konflikten vieler Frauen und bin mir bewusst, dass die Glaubwürdigkeit unserer Rede auch davon abhängt, was die Kirche selbst zur Hilfe für betroffene Frauen tut.
Ich appelliere dabei an die politisch Verantwortlichen, nicht zuzulassen, dass Kinder zu einem Krankheitsfall gemacht werden und dass die in Ihrer Rechtsordnung festgelegte Qualifizierung der Abtreibung als ein Unrecht faktisch aufgehoben wird. Ich sage das aus Sorge um die Humanität. Aber das ist nur die eine Seite dessen, was uns Sorgen macht. Die andere ist, alles dafür zu tun, dass die europäischen Länder wieder kinderfreundlicher werden. Ermutigen Sie bitte die jungen Menschen, die mit der Heirat eine neue Familie gründen, Mütter und Väter zu werden. Damit tun Sie ihnen selbst, aber auch der ganzen Gesellschaft etwas Gutes. Ich bestärke Sie auch nachdrücklich in Ihren politischen Bemühungen, Umstände zu fördern, die es jungen Paaren ermöglichen, Kinder aufzuziehen. Das alles wird aber nichts nützen, wenn es uns nicht gelingt, in unseren Ländern wieder ein Klima der Freude und der Lebenszuversicht zu schaffen, in dem Kinder nicht als Last, sondern als Geschenk für alle erlebt werden.
Mit großer Sorge erfüllt mich auch die Debatte über eine aktive Sterbehilfe. Es ist zu befürchten, dass eines Tages ein unterschwelliger oder auch erklärter Druck auf schwerkranke und alte Menschen ausgeübt werden könnte, um den Tod zu bitten oder ihn sich selber zu geben. Die richtige Antwort auf das Leid am Ende des Lebens ist Zuwendung, Sterbebegleitung – besonders auch mit Hilfe der Palliativmedizin – und nicht «aktive Sterbehilfe». Um eine humane Sterbebegleitung durchzusetzen, bedürfte es freilich struktureller Reformen in allen Bereichen des Medizin- und Sozialsystems und des Aufbaus palliativer Versorgungssysteme. Es bedarf aber auch konkreter Schritte: in der psychischen und seelsorglichen Begleitung Schwerkranker und Sterbender, der Familienangehörigen, der Ärzte und des Pflegepersonals. Die Hospizbewegung leistet hier Großartiges. Jedoch kann nicht das ganze Bündel solcher Aufgaben an sie delegiert werden. Viele andere Menschen müssen bereit sein bzw. in ihrer Bereitschaft ermutigt werden, sich die Zuwendung zu Schwerkranken und Sterbenden Zeit und auch Geld kosten zu lassen.

Dialog der Vernunft
Zum europäischen Erbe gehört schließlich eine Denktradition, für die eine substanzielle Korrespondenz von Glaube, Wahrheit und Vernunft wesentlich ist. Dabei geht es letztlich um die Frage, ob die Vernunft am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grund steht oder nicht. Es geht um die Frage, ob das Wirkliche auf Grund von Zufall und Notwendigkeit entstanden ist, ob mithin die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung christlichen Glaubens bildet: In principio erat verbum – Am Anfang war das Wort – Am Beginn aller Dinge steht die schöpferische Vernunft Gottes, der beschlossen hat, sich uns Menschen mitzuteilen.
Lassen Sie mich dazu Jürgen Habermas zitieren, also einen Philosophen, der sich selbst nicht zum christlichen Glauben bekennt. Er sagt: «Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeit und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative». (...) Vieles von dem, was Österreich ist und besitzt, verdankt es dem christlichen Glauben und seiner reichen Wirkung in den Menschen. Der Glaube hat den Charakter dieses Landes und seine Menschen tief geprägt. Es muss daher ein Anliegen aller sein, nicht zuzulassen, dass eines Tages womöglich nur noch die Steine hierzulande vom Christentum reden würden. Ein Österreich ohne lebendigen christlichen Glauben wäre nicht mehr Österreich.

Heilige Messe2
(...) Das Evangelium, das wir eben gehört haben, öffnet unseren Blick noch weiter. Es stellt die Geschichte Israels von Abraham an als einen Pilgerweg dar, der in Aufstiegen und Abstiegen, auf Wegen und Umwegen letztlich zu Jesus Christus führt. Der Stammbaum mit seinen hellen und finsteren Gestalten, mit seinem Gelingen und seinem Scheitern zeigt uns, dass Gott auch auf den krummen Linien unserer Geschichte gerade schreiben kann. Gott lässt uns unsere Freiheit und er weiß doch, in unserem Versagen neue Wege seiner Liebe zu finden. Gott scheitert nicht. So ist dieser Stammbaum eine Gewähr für Gottes Treue; eine Gewähr dafür, dass Gott uns nicht fallen lässt, und eine Einladung, unser Leben immer neu nach ihm auszurichten, immer neu auf Jesus Christus zuzugehen.
Pilgern heißt, eine Richtung haben, auf ein Ziel zugehen. Dies gibt auch dem Weg und seiner Mühsal seine Schönheit. Unter den Pilgern des Stammbaums Jesu waren manche, die das Ziel vergessen haben und sich selber zum Ziel machen wollten. Aber immer wieder hat der Herr auch Menschen erweckt, die sich von der Sehnsucht nach dem Ziel treiben ließen und danach ihr Leben ausrichteten. Der Aufbruch zum christlichen Glauben, der Anfang der Kirche Jesu Christi, ist möglich geworden, weil es in Israel Menschen des suchenden Herzens gab – Menschen, die sich nicht in der Gewohnheit einhausten, sondern nach Größerem Ausschau hielten: Zacharias, Elisabeth, Simeon, Anna, Maria und Josef, die Zwölf und viele andere. Weil ihr Herz wartete, konnten sie in Jesus den erkennen, den Gott gesandt hatte, und so zum Anfang seiner weltweiten Familie werden. Die Heidenkirche ist möglich geworden, weil es sowohl im Mittelmeerraum wie im Vorderen und Mittleren Asien, wohin die Boten Jesu kamen, wartende Menschen gab, die sich nicht mit dem begnügten, was alle taten und dachten, sondern nach dem Stern suchten, der sie den Weg zur Wahrheit selbst, zum lebendigen Gott weisen konnte.
Dieses unruhige und offene Herz brauchen wir. Es ist der Kern der Pilgerschaft. Auch heute reicht es nicht aus, irgendwie so zu sein und zu denken wie alle anderen. Unser Leben ist weiter angelegt. Wir brauchen Gott, den Gott, der uns sein Gesicht gezeigt und sein Herz geöffnet hat: Jesus Christus. Johannes sagt von ihm zu Recht, dass er der einzige ist, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht (vgl. Joh 1, 18); so konnte auch nur er aus dem Innern Gottes selbst uns Kunde bringen von Gott – Kunde auch, wer wir selber sind, woher wir kommen und wohin wir gehen. Sicher, es gibt viele große Persönlichkeiten in der Geschichte, die schöne und bewegende Gotteserfahrungen gemacht haben. Aber es bleiben menschliche Erfahrungen mit ihrer menschlichen Begrenztheit. Nur ER ist Gott, und nur ER ist daher die Brücke, die Gott und Mensch wirklich zueinander kommen lässt. Wenn wir Christen ihn daher den einzigen für alle gültigen Heilsmittler nennen, der alle angeht und dessen alle letztlich bedürfen, so ist dies keine Verachtung der anderen Religionen und keine hochmütige Absolutsetzung unseres eigenen Denkens, sondern es ist das Ergriffensein von dem, der uns angerührt und uns beschenkt hat, damit wir auch andere beschenken können. In der Tat setzt sich unser Glaube entschieden der Resignation entgegen, die den Menschen als der Wahrheit unfähig ansieht – sie sei zu groß für ihn. Diese Resignation der Wahrheit gegenüber ist meiner Überzeugung nach der Kern der Krise des Westens, Europas. Wenn es Wahrheit für den Menschen nicht gibt, dann kann er auch nicht letztlich Gut und Böse unterscheiden. Und dann werden die großen und großartigen Erkenntnisse der Wissenschaft zweischneidig: Sie können bedeutende Möglichkeiten zum Guten, zum Heil des Menschen sein, aber auch – und wir sehen es – zu furchtbaren Bedrohungen, zur Zerstörung des Menschen und der Welt werden. (...)
«Auf Christus schauen», heißt das Leitwort dieses Tages. Dieser Anruf wird für den suchenden Menschen immer wieder von selbst zur Bitte, zur Bitte besonders an Maria, die ihn uns als ihr Kind geschenkt hat: «Zeige uns Jesus!» Beten wir heute so von ganzem Herzen; beten wir so auch über diese Stunde hinaus, inwendig auf der Suche nach dem Gesicht des Erlösers. «Zeige uns Jesus!» Maria antwortet, indem sie uns ihn zunächst als Kind zeigt. Gott hat sich klein gemacht für uns. Gott kommt nicht mit äußerer Macht, sondern er kommt in der Ohnmacht seiner Liebe, die seine Macht ist. Er gibt sich in unsere Hände. Er bittet um unsere Liebe. Er lädt uns ein, selbst klein zu werden, von unseren hohen Thronen herunterzusteigen und das Kindsein vor Gott zu erlernen. Er bietet uns das Du an. Er bittet, dass wir ihm vertrauen und so das Sein in der Wahrheit und in der Liebe erlernen. Das Kind Jesus erinnert uns natürlich auch an alle Kinder dieser Welt, in denen er auf uns zugehen will. An die Kinder, die in der Armut leben; als Soldaten missbraucht werden; die nie die Liebe der Eltern erfahren durften; an die kranken und leidenden, aber auch an die fröhlichen und gesunden Kinder. Europa ist arm an Kindern geworden: Wir brauchen alles für uns selber, und wir trauen wohl der Zukunft nicht recht. Aber zukunftslos wird die Erde erst sein, wenn die Kräfte des menschlichen Herzens und der vom Herzen erleuchteten Vernunft erlöschen – wenn das Antlitz Gottes nicht mehr über der Erde leuchtet. Wo Gott ist, da ist Zukunft.
«Auf Christus schauen!» Wenn wir das tun, dann sehen wir, dass das Christentum mehr und etwas anderes ist als ein Moralsystem, als eine Serie von Forderungen und von Gesetzen. Es ist das Geschenk einer Freundschaft, die im Leben und im Sterben trägt: «Nicht mehr Knechte nenne ich euch, sondern Freunde» (vgl. Joh 15, 15), sagt der Herr zu den Seinen. Dieser Freundschaft vertrauen wir uns an. Aber gerade weil das Christentum mehr ist als Moral, eben das Geschenk einer Freundschaft, darum trägt es in sich auch eine große moralische Kraft, deren wir angesichts der Herausforderungen unserer Zeit so sehr bedürfen. (...)
«Zeige uns Jesus!» Mit dieser Bitte zur Mutter des Herrn haben wir uns hierher auf den Weg gemacht. Diese Bitte begleitet uns zurück in den Alltag hinein. Und wir wissen, dass Maria unsere Bitte erhört: Ja, wann immer wir zu Maria hinschauen, zeigt sie uns Jesus. So können wir den rechten Weg finden, ihn Stück um Stück gehen, der getrosten Freude voll, dass der Weg ins Licht führt – in die Freude der ewigen Liebe hinein. Amen.3

1 Empfangssaal der Hofburg, Wien Freitag, 7. September 2007
2Platz vor der Basilika in Mariazell Samstag, 8. September 2007
3Copyright 2007 - Libreria Editrice Vaticana