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Editorial
Der wahre Anfang ist eine Herausforderung an das Leben
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«Es ist September, gehen wir. Es ist Zeit fortzuziehen», schrieb der italienische Dichter Gabriele D’Annunzio. Er bezog sich auf Hirten, die ihr Weideland verlassen. Aber bedeutet die Rückkehr zur Arbeit und zur Schule möglicherweise ebenso ein «Fortziehen» von sich selbst und von dem, was man ersehnt? Verlangt das so genannte Pflichtbewusstsein und die Bedeutung dessen, was man als Aufgabe zu tun hat, darin, sich selbst zu verleugnen und sich in das Gefängnis der Sachzwänge zu begeben?
Don Carrón betonte gegenüber Verantwortlichen von CL, dass «die Selbstbehauptung des Ichs zu einem Gefängnis wird, wenn sie nicht seiner wahren Natur entspricht. Worin aber besteht die wahre Natur des Ichs? In dem, was das Ich machen muss (weshalb es dann nie zufrieden ist) oder in dem, was es aus sich selbst heraus verwirklichen kann? Oder besteht die Natur des Ichs in der Beziehung zum Geheimnis? Wir stecken allzu oft in der Klemme, weil wir in dieser Frage der vorherrschenden Mentalität folgen».
Der Schulanfang bedeutet, dass ich mit der ganzen Spannweite meines Menschseins neu beginne. Das gilt für Schüler wie Lehrer, und ebenso für die Eltern. Denn die Sehnsucht des Ichs ist größer als jeglicher Erfolg und jegliche Enttäuschung. Wenn nicht ich beginne, beginnt nichts wirklich, und die Wirklichkeit wird nur noch als eine Mechanik der Umstände wahrgenommen, die gleichgültig ihren Weg gehen. Dadurch verfällt man in eine Haltung, die die Umstände nur noch erträgt, und ist somit vom ersten Tag an gefangen oder gelangweilt.
Die Wirklichkeit des Alltags öffnet nur dann ihren Schatz an Gelegenheiten, Begegnungen und Entdeckungen, wenn man wieder beginnt, die eigenen Fragen und Bedürfnisse ernst zu nehmen, die sich aus der Sehnsucht nach Sinn, Wahrheit und Schönheit ergeben. Ansonsten wird die Schule – wie jeder andere Ort, an dem man lebt – zu einer anonymen Wüste, in der man Erscheinungen von Personen begegnet, die nur ihre äußere oberflächliche Seite zeigen und daher gleichsam sich und anderen Gewalt antun. So wird die Schule allerdings kein Ort, wo man lernt, frei zu sein, sondern eine Karawanserei von Halbsklaven. Anstatt zur Hoffnung für die Zukunft des Landes zu werden, wird sie zu einem sozialen Notfall. «Die Krisen des Lehrens – schrieb Charles Péguy 1904 in einem Artikel über den Schulbeginn – sind keine Krisen des Lehrens, sondern des Lebens. Eine Gesellschaft, die nichts mehr lehrt, ist eine Gesellschaft, die nichts liebt und wertschätzt. Und genau dies ist bei der modernen Gesellschaft der Fall».
Die Schule lebt nicht in einer anderen Welt, sie ist vielmehr Wurzel und Blüte eines Volkes. Doch kein Soziologe, kein Pädagoge und kein Minister kann dafür sorgen, dass «das Ich» in der Schule auf der richtigen Ebene «wiederbeginnt», nämlich auf der Ebene der Freiheit. Es bedarf einer Begegnung. Wie wir aus unserem eigenen Leben wissen, macht man die Erfahrung der Freiheit dann, wenn man jemandem begegnet, durch den unsere Sehnsucht nach Lebensfülle gestillt wird. Es gibt viele falsche Versprechungen von Freiheit, die uns verabreicht werden, und doch zerfallen sie vor einem aufrichtigen Wunsch nach wahrer Befreiung.
Doch wo sind, trotz all der Schwierigkeiten, jene Begegnungen, die dem Ich einen Neuanfang ermöglichen und die Schule nicht zu einer Abkehr von sich selbst, sondern einer Erziehung werden lassen, oder genauer gesagt zum Abenteuer, in die Wirklichkeit einzutreten und Mensch zu werden?
In dieser Ausgabe von Spuren wird am Beispiel einiger Schüler und Lehrer deutlich, warum es sich lohnt, von neuem anzufangen. «Der wahre Anfang – sagte Don Giussani bei einem Treffen mit Lehrern in Viterbo im August 1977 – ist eine Herausforderung an das Leben; das, was keine Herausforderung an das Leben ist, lässt uns nur Zeit und Energie verlieren, und es hindert uns an der wahren Freude». Allen einen guten Anfang!