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Interview an Hans-Gert Pöttering
Christen, erhebt eure Stimme
Roberto Fontolan

Die Identität und die Hoffnungen für Europa. Das „anonyme Christentum“. Die «Politik muss sich darauf einlassen, damit die Menschen eine Antwort auf die fundamentalen Fragen geben können». Ein Gespräch mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments Hans Gerd Pöttering

Der Präsident des Europäischen Parlaments, der Christdemokrat Hans Gerd Pöttering, hat in diesem Jahr die Reihe der Vorträge und Podien des Meetings mit seinem Beitrag Welche Identität für Europa? eröffnet. Die Antwort auf diese Frage erschließt sich ihm aus dem Titel des Meetings, der Frage über die Wahrheit und die Bestimmung: «Über unser Leben zu reflektieren, hat mit der Wahrheit und mit unserer menschlichen Bestimmung zu tun. Im Kern dieser Frage liegt die Würde jedes einzelnen Menschen. Als ich heute hierher kam, konnte ich nicht umhin, daran zu denken und mir diese tiefe Frage zu stellen. Und das verdanke ich dem Meeting von Rimini».

Es scheint, dass schon immer, vor allem aber in letzter Zeit Wahrheit und Politik nicht zu vereinbaren seien, sondern vielmehr parallele Welten ...
Die Wahrheit hat mit den eigenen Überzeugungen zu tun, auch mit jenen des Glaubens, und jeder wird darauf seine eigene Antwort geben. Aber das Thema der Wahrheit ist nicht nur eine persönliche Angelegenheit: Die Politik muss sich darauf einlassen, damit die Menschen in Freiheit und Unabhängigkeit eine Antwort auf die fundamentalen Fragen geben können, die sie beschäftigen. Etwa nach dem Sinn des Lebens, des Todes, der Gerechtigkeit, der Schönheit. Die Aufgabe der Politik ist es nicht, Antworten zu geben, sondern den Rahmen zu ermöglichen, der es jedem erlaubt, seine Antwort zu suchen und zu finden.

Politik zu machen, heißt auch auszuwählen: um den Vergleich des Rahmens aufzugreifen, man muss also bezüglich der Größe, Form und Farbe Entschei-dungen treffen: Welches Gewicht hat die Wahrheit bezüglich dieser vielen Möglichkeiten?
Der politische Mensch ist nicht von einer persönlichen Suche befreit, auch er sucht seine Antworten. Er ist in erster Linie Mensch und hat Fragen wie alle anderen auch. Sein politisches Handeln gewinnt erst als Konsequenz seine Ausrichtung. Er hat die Verantwortung, seine Überzeugungen zu äußern und zu vertreten und dem sein Handeln folgen zu lassen. In einem gewissen Sinn sind Wahrheit und politisches Bewusstsein miteinander verbunden. Die Demokratie ist die globale Ordnung, innerhalb der wir offen und transparent diese fundamentalen menschlichen Fragen diskutieren können.

Und dennoch scheint es, als ob zu viel an Wahrheit der Politik schade und mit einem geordneten zivilen Zusammenleben nicht vereinbar sei. So suggeriert die vorherrschende Mentalität, dass ein Zusammenleben nur möglich sei, wenn man den Grad an Wahrheit herunterschraubt. Wie sehen Sie dieses Problem?
Um über den Begriff der Wahrheit zu sprechen, müssen wir versuchen, ihn zu definieren und nur aufgrund einer Definition können wir versuchen, eine Antwort zu geben. Ich glaube, dass man zwei Definitionen von Wahrheit geben kann. Die erste verbindet Wahrheit mit Überzeugung, auch mit Glaubensüberzeugung. Ich bin sicher, dass die Würde und das menschliche Leben die höchsten Werte auf dieser Erde sind; dies kann nicht von allen geteilt werden, aber ich bin so sehr davon überzeugt, dass dies meine Handlungen begründet. Der andere mögliche Wahrheits-begriff ist jener, der von der Wirklichkeit ausgeht, also von dem, was sich ereignet. Eine deutliche und unumstößliche Tatsache, wirkliche Ereignisse, die die Wahrheit sind und es ist nicht erlaubt, sie als etwas anderes darzustellen, als, was sie sind. Die Wahrheit zu sagen, bedeutet also, das zu «gestehen», was man vor sich hat und es nicht zu verfälschen. Es gibt also zwei Dimensionen von Wahrheit: eine, die mit Überzeugung und Glaube zu tun hat und die andere, die mit dem zu tun hat, was wir sehen, mit dem, was passiert.

Zwei entgegengesetzte Dimensionen?
Nein, überhaupt nicht. Es besteht überhaupt kein Widerspruch, vielmehr eine Ergänzung.

Sollte man also immer und überall die Wahrheit sagen?
Mit Kant würde ich sagen, dass das, was einer sagt, wahr sein muss, aber man ist nicht gezwungen, alles zu sagen, was wahr ist.

Im ersten Entwurf der Präambel zur Europäischen Verfassung, den Frankreich dann zurückwies, gab es eine wie ich meine sehr schöne Formulierung. Sie definierte Europa als «privilegierten Raum der menschlichen Hoffnung». Können wir sagen, dass dies die Wahrheit Europas ausmacht?
In Wirklichkeit ist es eine der Wahrheiten Europas. Wenn wir auf unsere Geschichte mit ihren Tragödien und Kriegen schauen, dann ist das Europa der Gegenwart und hoffentlich der Zukunft ein Ort, der uns Hoffnung gibt und wo wir, zumindest innerhalb der europäischen Union, zusammen auf der Grundlage von Recht und Freiheit in Frieden leben. Das ist ein historisches Projekt auf unserem Kontinent, von dem unsere Eltern träumten, dass sie aber nicht leben konnten. Heute können wir hier eine Lebensqualität schätzen, dies es niemals vorher auf diesem Kontinent gab. Darüber können wir von Herzen froh sein und müssen es als ständige Aufgabe übernehmen, für diese Friedens- und Freiheitsordnung zu streiten. Verantwortung und Hoffnung sind Teil dieser Suche, die Erfolg haben wird, wenn wir entschieden bleiben.

Wie lässt sich aber die Tatsache erklären, dass in Europa nicht zuletzt von europäischen Institutionen Wellen einer antireligiösen, oft antichristlichen Ideologie ausgehen?
Ich wäre nicht so negativ. In den Gesprächen von Personen, die sich als Nichtchristen definieren, treffen wir auf Überzeugungen, die sich auf das Christentum gründen; Elemente eines «anonymen Christentums», um es mit Karl Rahner zu sagen. In der Präambel zur Europäischen Verfassung, die nun ein Vertrag wird, sind Gott und das christliche Erbe nicht explizit erwähnt, aber trotzdem sind unsere Werte gut im Text repräsentiert: Die Würde und die Rechte des Menschen, die juristische und demokratische Ordnung, die Würde der alten Menschen, das Wohlergehen der Kinder, das Verbot des menschlichen Klonens und vieles andere, was Werte verwirklicht, die christliche Werte sind. Zudem ist es die Aufgabe der Christen in einer pluralistischen Gesellschaft, den Mut zu bewahren, für die christlichen Werte in Auseinandersetzung mit jenen zu kämpfen, die sie zur Diskussion stellen. Eine Verfassung, die von Gott und christlichen Werten angesichts müder Christen spräche, die nicht mehr zum Kämpfen bereit wären, hätte recht wenig Sinn. Das, was zählt, ist das Engagement von Christen in unserer Gesellschaft.

Aber sind nicht ohne die ausdrückliche Erwähnung des Christentums alle diese Werte verwaist?
Nein, warum? Es handelt sich um Werte als solche. Die Werte sind innerhalb eines Jahrhunderte und Jahrtausende dauernden Prozesses geboren, sie werden von einer zur nächsten Generation weitergegeben und es hängt von uns ab, diese Werte in die Zukunft zu tragen, sie unseren Kindern und Enkeln zu übertragen. Die Christen dürfen sich nicht ausruhen, sondern sie sollten die eigene Stimme erheben und dann mit friedlichen Mitteln Unterstützung suchen. In diesem Sinne würde ich mir oft mehr christlichen Mut wünschen.

Was sehen Sie für die Bestimmung Europas als kommende Aufgabe, was sind die großen Diskussionsthemen?
Ich sehe zwei vordringliche Aufgaben. Wir müssen eine Diskussion über Werte führen und der Europäischen Union einen Rahmen geben, in dem sie sich auf demokratischer Basis entwickeln und Gehör finden kann und sich mit einer Stimme der Welt präsentiert. Das heißt auch, dass der im Juni von den Regierungschefs abgeschlossene Vertrag bis zu den nächsten Wahlen im Jahr 2009 unterzeichnet wird. Wenn das passiert, und ich hoffe, dass dies bald geschieht, werden wir eine solide juristische Grundlage haben, auf der wir nach innen und außen hin wirken können. Also wird es auch eine völlig demokratische Gemeinschaft sein, innerhalb der das Parlament der entscheidende Akteur in beinahe allen Bereichen der europäischen Gesetzgebung sein wird. Europa ist das Europa der Bürger und Städte, es handelt sich um ihre Zukunft. Sowohl im Hinblick auf die Politik wie auf das Christentum bin ich dabei optimistisch.