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Schule / Warum lohnt es sich, neu anzufangen?
Warum lohnt es sich, wieder anzufangen?
Alberto Savorana

Die Schule hat wieder begonnen. Schüler, Lehrer und Eltern nehmen entweder die alte Routine auf, oder sie ergreifen die Möglichkeit, Bildung und Erziehung als tägliches Abenteuer zu leben. Einige Lehrer geben ihre Erfahrungen wieder.

Allen Analysen, kritischen Stimmen, Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten zum Trotz, welche die Schule nicht nur in Italien umtreiben, stellt sich die Frage: Gibt es etwas, das es uns erlauben kann, am Anfang eines neuen Schuljahres neu zu beginnen? Warum sollte sich ein Lehrer danach sehnen, wieder in die Schule zu kommen? Und zwar in einer Situation, die wir als «Erziehungs-Notstand» bezeichnet haben! Warum lohnt es sich? Gibt es «einige großartige Dinge», derer man sich sicher ist, aufgrund derer man sich in einen neuen Anfang stürzen kann, und die stärker sind als alle mittlerweile angehäuften Entmutigungen und Enttäuschungen? Gibt es für einen Erwachsenen, der unterrichten und dadurch erziehen möchte, etwas, das eine positive Begeisterung in Gang setzt und Lust macht, die Initiative zu ergreifen? Die Schule wieder anzufangen heißt ja offensichtlich, wieder Naturwissenschaften, Geschichte, Literatur und so weiter zu unterrichten. Im August 1977 hat sich Don Giussani in Viterbo mit Lehrern von Comunione e Liberazione getroffen. In seinem Beitrag maß er der Wiederbelebung eines Erziehungsauftrags in der Schule eine entscheidende und stete Bedeutung bei. Er sagte unter anderem: «Der wahre Aufbruch muss sich jeden Tag erneuern: Darin besteht unser Genie, unsere Kraft. Der Anfang ist eine Gegenwart, die sich aufdrängt. Der Anfang ist eine Provokation, aber keine kopflastige Theorie ... . Der wahre Beginn ist eine Herausforderung für unser Leben. Das heißt: Das, was keine Herausforderung für unser Leben ist, raubt uns nur Zeit».
Genau dreißig Jahre später hat Spuren eine Gruppe von Lehrern hierzu befragt, sowohl «alte Hasen» als auch Anfänger, Lehrer von staatlichen und nicht-staatlichen Schulen, mit den unterschiedlichsten Geschichten und einer gemeinsamen Zugehörigkeit. Sie berichten von ihren Erfahrungen.

Eine außergewöhnliche Begegnung mit dem Geheimnis des anderen
Franco Nembrini
Ich habe bis 1999 unterrichtet und die Arbeit in der Schule immer als das einzige wahre Opfer meines Lebens bezeichnet. Ich war 23 Jahre lang Lehrer. Für mich bestanden diese Jahre darin, den Unterricht als Möglichkeit zu entdecken, eine außergewöhnliche Begegnung mit dem Geheimnis des anderen zu machen. Das Leben fängt jeden Morgen neu an, denn man kann auch noch so genaue Pläne machen, jede einzelne Stunde noch so genau vorbereiten und alle möglichen Schemata im Kopf haben: Der andere überrascht dich immer. Jeden Morgen in die Schule zu gehen, war der Geschmack dieser Überraschung, dieses Staunens, dieser Neuigkeit, die geschah und deren Umrisse, deren Inhalt und deren Folgen ich nicht im Voraus bestimmen konnte. Deshalb habe ich die Schule nur ungern verlassen. Weshalb kehre ich dahin zurück? Aus dem selben Grund: Ich hatte Sehnsucht und Lust, mich wieder in diese Beziehung zu stürzen, in dieses Abenteuer, das jeden Tag neu beginnt. Wenn man unterrichtet, ist es, als ob jeden Morgen alle Karten neu gemischt werden.
Und bei der Arbeit in diesen Jahren bekam ich jenen «Erziehungs-Notstand» mit den Händen zu greifen. Dieser wurde vor allem mit der Arbeit an Don Giussanis Buch Das Wagnis der Erziehung deutlich. Ich habe mich damals als Verantwortlicher des italienischen Erziehungsverbands FOE um Schulen und Schulreformen gekümmert. Jetzt weiß ich besser als vor sieben Jahren, was es heißt, dass wir in einem Land leben, in dem die Erziehung immer mehr als Stiefkind behandelt wird. Alle klagen lauthals über die Folgen, aber in der Praxis ergeben sie sich der Resignation. Wer hat den Mut, zu sagen: «Ich will neu anfangen können»? Es gibt viele, die auf vermeintliche Patentrezepte gesetzt haben, um die Missstände zu beheben: Die Polizei, Drogensuchhunde und Heere von Psychologen. Aber wer sagt einfach: «Ich bin dabei! In meinem bescheidenen Rahmen habe ich den Jugendlichen etwas zu sagen und ihnen einen guten Vorschlag zu machen.» Deshalb beginne ich in einem Bewusstsein, das tausendmal größer ist als die Dringlichkeit der Aufgabe und der Verantwortung, die wir tragen. Und noch etwas habe ich in diesen Jahren gelernt: Die Erziehung ist eine Aufgabe, die man gemeinsam erfüllt. Man kann nicht alleine erziehen. Man erzieht in dem Maße, wie man einen Ort, ein Haus und Freunde hat, zu denen man gehört.
Wenn ich jetzt wieder in die Schule komme, habe ich das vorzuschlagen, was ich selbst gerade prüfe: Ich bin der Literatur begegnet und ich habe sie – durch das, was ich von Don Giussani gelernt habe – als alltägliche Überprüfung der Begegnung mit den Schriftstellern lieben gelernt. Sie sind mir Meister, mit denen ich mich persönlich auseinandersetze. Ich habe meine Schüler immer darum gebeten, sich in dieser «Überprüfung» gegenseitig zu begleiten. In dieser Hinsicht ist die Geschichte von Cento Canti, einem Studentenverein, der sich mit Dante Alighieri befasst (siehe Kasten) beispielhaft: Alles ist entstanden, ohne dass irgendjemand es geplant hätte. Eines Tages habe ich zu einem Jugendlichen gesagt: «Ich gehe so mit Dante um: Ich spreche mit ihm, denn er hat mir für mein Leben viel zu sagen und zu lehren. Lass uns das gemeinsam tun!» So habe ich immer alle Schriftsteller unterrichtet. Das brauchen die Jugendlichen, sie suchen verzweifelt einen Erwachsenen, der zu ihnen sagt: «Ich möchte dir ein Weggefährte sein, weil mein und dein Herz gleich sind. Ich habe etwas in meinem Leben gefunden, das du mangels Gelegenheit noch nicht entdecken konntest. Ich lade dich dazu ein, ein Stück des Weges mit mir zu gehen.»

Die Wahrheit entdeckt man in einer Beziehung
Matteo Severgnini
In meinem ersten Jahr als Lehrer habe ich einen Jungen kennen gelernt, der jeden Vorschlag ablehnte. Er war ganz in sich selbst verschlossen. Ich habe dann entdeckt, dass sein Verhalten von Schwierigkeiten in der Familie herrührte. So habe ich mich um ihn gekümmert. Seine Gegenwart in meiner Klasse war eine Frage an mich. Zwei Monate vor dem Ende des Schuljahres hatte er sehr schlechte Noten. Bei einem Gespräch mit seinem Vater haben wir herausgefunden, dass dieser nichts wusste. Für ihn waren diese trüben Aussichten für seinen Sohn «eine Katastrophe». Ich sagte ihm: «Schauen Sie: Ich erlebe Ihren Sohn wie meinen eigenen, bis zur letzten Minute der letzten Schulstunde, und ich lasse ihn nicht im Stich.» In diesem Augenblick brach der Junge, der dabei war, in Tränen aus. Später sagte er mir dann auf der Treppe: «Herr Lehrer, ich möchte mich für heute entschuldigen. Ich habe nicht aus Traurigkeit geweint, sondern aus Freude. Denn noch nie hat mir jemand gesagt, dass ich zu jemandem gehöre. Ich weiß nicht, ob ich sitzen bleibe oder nicht. Aber das, was mich interessiert, ist, dass jemand da ist, der mich erwartet, wenn ich morgens in die Schule komme. Und jetzt ist es sogar ein Lehrer!» Am Ende des Schuljahres war er in drei Fächern versetzungsgefährdet, darunter auch Mathematik. Er verbrachte den Sommer mit Lernen, in Begleitung eines Lehrers. Schließlich schaffte er die Nachprüfungen. Was habe ich aus dieser Erfahrung gelernt? Ich habe daraus gelernt, dass man die Wahrheit in einer Beziehung entdecken kann. So beginne ich das neue Schuljahr mit dieser großen Hoffnung, die in erster Linie mich selbst betrifft.

In der Schule lerne ich selbst am meisten
Francesco Fadigati
Als ich anfing zu unterrichten, forderte mich Franco Nembrini mit folgendem Satz heraus: «In diesem Beruf hat man die Möglichkeit, jung zu bleiben». Von Anfang an merkte ich, dass ich vor dreißig 12-13jährigen Jugendlichen kein Theater spielen konnte, weil sie mir ernsthaft zuhörten. Jeden Vormittag hatte ich vor mir in der Klasse Jugendliche, die mich ab und zu sogar wortwörtlich fragten: «Wieso sollte ich Ihnen zuhören?». Ich erinnere mich, dass mich ein Mädchen bei all meinen Sorgen, mit dem Geschichtsstoff fertig zu werden, immer wieder mit ihren Fragen platt machte, wie zum Beispiel: «Was ist denn an der Landung in der Normandie so interessant?». Sie zwang mich, den Stoff im Unterricht von dieser Frage aus zu betrachten: Was ist für mich dabei interessant. Der zweite Grund, weswegen ich auf das neue Schuljahr gespannt bin, ist, dass dieses mit meinen Freunden erlebte Abenteuer, Lehrer zu sein, mich immer mehr ergreift. Einmal rief ich den Vater einer meiner Schülerinnen an. Er fing an zu weinen. «Bitte helfen Sie mir mit meiner Tochter, denn ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.» Ich antwortete «Ich auch nicht. Ich habe kein Rezept, aber mich interessiert das Gleiche wie Sie. Ich wünsche, dass Ihre Tochter menschlich heranreift. Wenn Sie möchten, können wir ihr gemeinsam helfen». Ich ging zu ihnen zum Abendessen und nach einer Stunde Beschwerden sagte der Vater schließlich zur Tochter: «Siehst du, dein Lehrer bräuchte sich nicht um dich zu kümmern, und doch ist er zu uns zum Abendessen gekommen». Schließlich wollten sie mich gar nicht mehr fort lassen. Dabei habe ich verstanden, dass ich meinen Beruf nicht halbherzig ausüben kann.
Wenn man unterrichtet, hat man die Möglichkeit sich zu verändern, aus dem Klassenzimmer gleichsam verwandelt herauszugehen. In der ersten Stunde in der Früh gehe ich ziemlich schläfrig ins Klassenzimmer, aber wenn ich auf die Gesichter meiner Schüler schaue, die da sind, egal ob ich schläfrig bin oder nicht, und wenn ich manche Fragen von ihnen höre, erlaubt mir das, etwas Neues zu entdecken. Die Schule bringt mich zum Lernen. Ich gehe zur Schule, um selber etwas zu lernen. Deswegen glaube ich, dass ich jung bleiben kann.

Ein einziges jener Gesichter hebt meine Gleichgültigkeit auf
Cristina Rossi
Die Schule stellt die Frage nach der Bedeutung der Wirklichkeit. Entweder ist sie sinnlos, und dann herrscht das Nichts, dem man allenfalls mit etwas Zerstreuung entfliehen kann. Oder sie hat einen Sinn, aber dann stellt sich die Frage, woher er kommt? Bin ich es, der den Dingen ihren Sinn verleiht? Der Sinn kommt mir aus einer Vergangenheit entgegen, aus einer Tradition. Ich unterrichte die ersten beiden Klassenstufen in einer Berufsschule. Dort herrscht ein tiefer Bruch zwischen Kultur und Leben. Und wenn du die Klasse betrittst, dann drängt sich diese Frage machtvoll auf: entweder kommt aus der Vergangenheit etwas, das den Jugendlichen Gelegenheit gibt, ein klareres Bewusstsein ihrer selbst zu gewinnen, oder es hat keinen Sinn, sie jeden Tag in der Schule zu versammeln. Wenn meine Schüler, die später beispielsweise Elektriker werden, nicht ganz der Mode und Macht ausgeliefert sein wollen, müssen sie etwas erahnen können, was über den Moment hinausgeht.
Das Unbehagen der Jugendlichen schafft zusammen mit der Frustration der Lehrkräfte eine problematische, gewalttätige, ja explosive Situation, eine ständige Notlage. Bis vor ein paar Jahren hatte ich am Ende des Sommers immer Angst vor dem Beginn des Schuljahres. Sobald ich mich aber in der Klasse hinsetzte, mochte ich auch zwei Minuten zuvor noch alle denkbaren Ausflüchte erwogen haben, um die Schule oder den Beruf zu wechseln, genügte ein einziges jener Gesichter, um meine Gleichgültigkeit zu durchlöchern und mich aufzurütteln. So hege ich stets den Wunsch, die Dinge zu vertiefen und mich weiterzubilden. Denn obwohl ich in einer Berufsschule unterrichte, betrat ich nie am Morgen die Klasse, ohne die Stunde sorgfältig vorbereitet zu haben. Das tue ich für diese Gesichter, für diese Menschen, die mich herausfordern, mir über die Gründe Rechenschaft abzulegen. Es ist ein Abenteuer, das begeistert. Getragen von der Erwartung, dass jener «schöne Tag» eintreten könnte, an dem ein Jugendlicher aufwacht, überrascht entdeckt, dass er da ist, und einen neuen Zug seiner Persönlichkeit hervorholt. Und da du nie weißt, wann das geschehen wird, brauchst du Geduld und eine unermüdliche Energie, die meine Fähigkeiten fast übersteigt.
Es kommt nämlich vor, dass ich den Schülern Lesen und Schreiben beibringe. Meine Schüler sind mehrheitlich Ausländer, ein Drittel sind Muslime. Ich habe die Genugtuung erlebt, junge Menschen zu sehen, die eine Leidenschaft für das Schreiben entwickeln, weil es für sie eine Gelegenheit ist, «ich» zu sagen. Sie scheinen allem absolut gleichgültig und fremd gegenüber zu stehen, aber sobald sie einen Spalt finden, der es ihnen ermöglicht, als Personen aufzutauchen, öffnen sie sich. Sie waren so begeistert über die Entdeckung, dass sie «ich» sagen können und dass die Wirklichkeit ihnen gehört, dass wir einen Gedichtwettbewerb gewonnen haben!>

Die Erziehung, das Ausloten einer Fülle
Giorgio Pontiggia
Während ich Euch reden hörte, dachte ich, dass sich das, was Eure Zeugnisse eint, in einer Frage zusammenfassen lässt: Kann man unterrichten, wenn man nicht glücklich ist mit dem, was man lebt, wenn man nicht «Mitleid» hat (im ursprünglichen Wortsinne des Leidens mit jemandem) mit den Menschen, die man um sich hat? Mir kommt ein Sprichwort in den Sinn, das lautet: Wer weiß, der tut, Wer nicht weiß, unterrichtet. Schrecklich, denn das Problem der Schule ist nicht die Schule. In der Schule kommt das Problem nur zum Vorschein: Wenn jemand nicht glücklich ist mit dem, was er lebt, wenn er nicht erfüllt ist von dem, was er lebt, dann kann er nicht den Überfluss an Mitteilung haben, dann kann er nicht die Empfindsamkeit haben, das Bedürfnis des anderen wahrzunehmen. Der Grund, zur Schule zu gehen, ist die Erfahrung, die man macht. Es kann auch sein, dass man eine Leidenschaft für die Schule hat – als ich noch in einer staatlichen Schule unterrichtete, gab es dort Lehrer der Linken, die auch zehn, zwölf, fünfzehn Stunden am Tag dort waren, aber letztlich unter einem Schleier der Traurigkeit – und dass die Schule dennoch verkommt. Wenn es keine Leute gibt, die aus einer Fülle heraus leben, vermittelt man am Ende eine Ideologie, die eine Leere des Ichs zu überdecken sucht. Wenn man hingegen reich an Erfahrung ist, wird die Schule eine große Gelegenheit für die Freiheit in Aktion. Das ist der einzige Grund, weswegen ich, nachdem ich gerade erst die Schule verlassen habe, an der ich Rektor war, jetzt wieder unterrichten gehe.
Die Erziehung ist wie das Ausloten einer Fülle, das sich mit den Mitteln des eigenen Berufs vollzieht. Sie zeigt auch das Ideal des Weges auf: Die Entwicklung der Unverwechselbarkeit des anderen, und nicht der Anschluss des anderen an das, was du denkst: eine «aufrichtige Sorge um das Ideal» – um einen Ausdruck von Don Giussani zu gebrauchen – nicht ein Gefühl, das man spüren lässt, im Sinne des «flüchtigen Augenblicks». Das ist es, was uns zur Schule gehen lässt. Und das lässt uns die ganze Herausforderung der Beziehung mit den Jungen und Mädchen ins Spiel bringen, im normalen Lehrbetrieb, den man nicht auf eine Frage verkürzen kann, die ausschließlich Pädagogen etwas angeht.