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Interview mit Don Julián Carrón
CL, die Herausforderung der Mission
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Ein Interview mit Don Julián Carrón nach seiner Wahl zu Präsidenten der Fraternität.

Don Julián Carrón, vor einem Jahr, am 24. März 2007, kamen Mitglieder von Comunione e Liberazione aus aller Welt auf den Petersplatz um an der Audienz mit Papst Benedikt XVI. aus Anlass des 25. Jahrestages der päpstlichen Anerkennung der Fraternität von CL teilzunehmen. Sie sind unlängst in Ihrem Amt als Präsident der Fraternität für die kommenden sechs Jahre bestätigt worden. Welche Bedeutung hatte die Audienz für Sie?
In Rom wurde der apostolische Wert des Charismas, das Don Giussani empfangen hat, für das Leben der Kirche bekräftigt. Papst Benedikt XVI. hob den persönlichen Ursprung des Charismas hervor und bestätigte, dass es seinen Bestand in der Erfahrung der Bewegung von CL hat. Und er erneuerte den Missionsauftrag an uns, den uns bereits Johannes Paul II. anvertraut hatte.
Wenn ich an das denke, was in den vergangenen Wochen in Brasilien geschehen ist, dann ist diese missionarische Herausforderung heute noch dringlicher als damals. Während einer Begegnung in São Paolo mit 50.000 Mitgliedern der Bewegung der Landlosen, sagten Cleuza Zerbini, die Gründerin dieser Initiative, und ihr Ehemann Marcos: «Carrón, vor einigen Jahren hatten Sie eine Bewegung mit dem Namen Nueva Tierra. Als sie Don Giussani kennen lernten, haben Sie ihm diese Bewegung anvertraut, weil Sie alles gefunden hatten, dessen Sie bedurften. Alles, was Sie suchten, haben Sie damals gefunden. Die Geschichte wiederholt sich nochmals. Heute gibt es keine zwei Wege, es gibt nur einen. Heute schließen sich Nueva Tierra und die Landlosen der Bewegung von Comunione e Liberazione an.» Sie können sich vorstellen, wie bewegt ich war, ebenso hatte ich empfunden, als mich Don Giussani aus Spanien an seine Seite berief, um mit ihm die Bewegung zu leiten. Und wie damals fühlte ich mich so gering, so nichtig; in São Paolo hatte ich genau dasselbe Empfinden. Aber diese neue Tatsache, vor die uns das Geheimnis stellt, macht mir keine Angst, denn derjenige, der das Werk in uns begonnen hat, wird es auch vollenden.

Wie haben Sie den erneuten Auftrag zur Leitung der Bewegung für die kommenden Jahre aufgenommen? Was bedeutet dies für Sie?
Ich habe die Entscheidung im selben Geiste aufgenommen, mit der ich die Entscheidung Don Giussanis aufgenommen hatte: Ich versuche, den Umständen zu gehorchen, in die mich das Geheimnis hinein beruft. Heute bin ich mir der vollkommenen Unverhältnismäßigkeit gegenüber der Aufgabe, die mir anvertraut wird, wesentlich bewusster. Was ich aber leben will, bringt die Aussage Solov’evs sehr gut auf den Punkt, die uns Don Giussani als ständiges Motto unserer Bewegung vorschlug: «Das Teuerste, was wir im Christentum haben, ist Christus selbst. Er selbst und alles, was von ihm kommt, denn wir wissen, daß in Ihm die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt». Ich wünsche mir, in meinem Leben nichts Wertvolleres zu haben als dies.

Was bedeutet das für die Zukunft von CL?
Die beeindruckenden Dinge, die in diesem Jahr geschehen sind, machen ein weiteres Mal unsere Verantwortung deutlich, wie sie der Auftrag vom 24. März 2007 aufzeigt: Es geht darum, einen tiefen persönlichen Glauben zu leben, der es uns erlaubt, in der Wirklichkeit zu stehen - wie es Benedikt XVI. gesagt hat: «durch eine Spontaneität und Freiheit, die neue und prophetische Möglichkeiten für die apostolische und missionarische Sendung eröffnen». Wir wollen mit den Hirten der Kirche zusammenzuarbeiten, um «das Geheimnis und das Werk der Erlösung Christi in der Welt zu vergegenwärtigen». Ein reifer Glaube zeigt sich in Werken, in denen sich der Wunsch des Menschen konkretisiert; damit leisten sie zugleich einen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben. Der katholische Glaube ist nicht nur Privatsache, und er beschränkt sich auch nicht nur auf bestimmte gesellschaftliche Bereiche. Er hat auch eine öffentliche Rolle, weil er ein Faktor ist, der das tägliche Leben besser, menschlicher und positiver macht. Er versetzt uns in die beste Haltung, um die Probleme und Schwierigkeiten in den Beziehungen unter den Menschen, in der Erziehung, in der Arbeit und schließlich im gesellschaftlichen und politischen Engagement anzugehen. Es ist ein Engagement, das als Nächstenliebe gelebt wird.

Derzeit stehen die Christen in Spanien und Italien vor besonderen Herausforderungen. Einmal abgesehen von den notwendigen Unterscheidungen: Welche Bedeutung spielt das kulturelle und politische Umfeld dieser Länder für die Christen?
Ein Beitrag von Don Giussani aus dem Jahre 1972 scheint mir hier von großer Aktualität. Er beurteilt darin einen ebenso dramatischen wie geschichtlichen Augenblick, nämlich die Krise von 1968. Und bestimmte derzeitige Ereignisse sind nur die letzte Konsequenz jener Zeit. Er sagt in dem Beitrag: «Gott lässt nie etwas geschehen, das nicht dazu dient, dass wir reifer werden. Die Wahrheit des Glaubens zeigt sich gerade in der Fähigkeit eines jeden von uns und jeder kirchlichen Gemeinschaft (Familie, Gemeinschaft, Pfarrei, Kirche im Allgemeinen), das als Weg der Reifung wertzuschätzen und zu einem Instrument und Moment der Reifung werden zu lassen, was zunächst als Einwand, Verfolgung oder jedenfalls als Schwierigkeit erscheint».
Ich möchte aber vor allem den folgenden Satz hervorheben: «Für die Wahrheit und die mehr oder weniger große Wahrhaftigkeit unseres Glaubens kann uns folgendes Unterscheidungskriterium dienen: Ob bei uns wirklich der Glaube an erster Stelle steht oder eine andere Art von Sorge; ob wir uns wirklich alles vom Faktum Christi erwarten, oder ob wir uns vom Faktum Christi das erwarten, was zu erwarten wir entschieden haben, und Ihn letztlich darauf reduzieren, Anregung und Stütze für unsere eigenen Projekte und Pläne zu sein».
Deshalb ist die schwierige Lage in unseren Ländern ein Umstand, den der Herr zuläßt um uns zu erziehen, um ans Licht zu bringen, was jeder von uns wirklich bevorzugt und um so alle Zweideutigkeiten zu demaskieren, die in jeder menschlichen Initiative aufgrund ihrer natürlichen Begrenztheit liegen können.

Welche Konsequenz hat dies für die öffentliche Präsenz der Christen?
In der aktuellen Situation, in der es, wie wir gesehen haben, nicht ausreicht, nur zu reagieren, sind wir dazu gedrängt, die Originalität des Christentums wiederzuentdecken. Es braucht eine ursprüngliche und keine reaktive Gegenwart. «Eine Gegenwart ist ursprünglich, wenn sie aus dem Bewusstsein der eigenen Identität und der Zuneigung zu ihr hervorgeht, und darin ihren Bestand findet.» (Don Giussani) Unsere Aufgabe als Christen besteht nicht darin, unsere dialektischen oder strategischen Fähigkeiten nachzuweisen. Stattdessen sind wir dazu berufen, die Neuheit zu bezeugen, die der Glaube in die Welt eingeführt hat, und die zuerst uns \\"erobert\\" hat. Vor uns liegt stets dieselbe Herausforderung: der Erziehung zu einer Reife im Glauben, und zwar nach einer Methode, die die Zustimmung zu Christus als vernünftig aufweist. So wie Don Giussani bei der Synode von 1987 sagte: «Was fehlt, ist aber weniger eine verbale oder kulturelle Wiederholung der Botschaft. Der Mensch von heute erwartet statt dessen vielleicht unbewusst die Erfahrung der Begegnung mit Personen, für die die Tatsache Christi eine so gegenwärtige Wirklichkeit ist, dass sie ihr Leben wandelt. Diese menschliche Begegnung kann den Menschen von heute aufrütteln»: Also die Begegnung mit etwas, das den Erwartungen des Herzens entspricht, das die Vernunft aus der Trägheit herausführt, der sie verfallen ist, und das eine Anwort umfasst, die sich kein Moralismus je erträumen lässt.

Was kann das Charisma von CL kurz gesagt an ursprünglich Neuem anbieten?
Das, was wir von der großen Tradition der Kirche empfangen haben und was die menschliche und christliche Genialität Don Giussanis für das Heute anziehend und attraktiv gemacht hat: Im Glauben ist die Einsamkeit und der Skeptizismus überwunden, und das Leben wird zu einer grenzenlosen Gewissheit, gerade weil ein Anderer in der Geschichte am Werk ist. So kann man in jedwedem Umstand und jeder Prüfung leben. Das ist der Beitrag, den wir dem Leben unserer Leute mitgeben können: Wir können die Wirksamkeit des Glauben gegenüber den Forderungen des Lebens aufzeigen – dem Verlangen nach Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit und Glück – und damit den Nutzen des Glaubens für das Leben der Menschen in unserer Zeit. Dieser Glaube ist Hoffnung für das Leben aller.

Reicht dies, um dem Ansturm einer Welt zu begegnen, die sich schrittweise von der Kirche und dem Glauben entfernt hat und die sich unabhängig, wenn nicht ausdrücklich gegen das Christentum errichten will?
Ich möchte Ihnen mit der Aussage Antworten, die Don Giussani nach der Niederlage der italienischen Katholiken beim Referendum über die Abtreibung im Jahre 1981 machte: «Dies ist ein Augenblick, in dem es schön wäre zu Zwölft in der ganzen Welt zu sein. Das heißt, es ist wirklich der Augenblick, an dem man von vorne anfängt. Denn noch nie wurde so deutlich, dass die Mentalität nicht mehr christlich ist. Das Christentum als beständige Gegenwart, als beständig und damit fähig zu einer Überlieferung, zu einer Tradition, zu einer Mitteilung, fähig eine Tradition hervorzubringen, gibt es jetzt nicht mehr: Es muss von neuem entstehen. Es muss aus den Herausforderungen der täglichen Fragen, das heißt des täglichen Lebens neu hervorgehen.» Gibt es etwas, das ursprünglicher und mitreißender wäre als dies?