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Vorschau auf das Meeting / Eugenio Borgna
Entweder Protagonisten oder Niemand
Luca Doninelli

«Ein Protagonist? Das ist jemand, der anderen die Möglichkeit eines erfüllten Lebens aufzeigt. Jemand, der seinerseits wieder Protagonisten hervorbringt». Der bekannte Psychiater und Buchautor Eugenio Borgna äußert sich zum Thema des diesjährigen Meetings.

Der erste Gegner, mit dem man sich auseinandersetzen muss ist diese Begrenztheit bei der Wahrnehmung der Wirklichkeit, das was Don Giussani als das Austrocknen des Ich bezeichnete. Als Folge dieses inneren Ausdörrens, erreicht uns alles Gesagtes, auch das Großartigste, schon in reduzierter, lebloser Form.
So denken wir auch beim Wort Protagonist zunächst an das Bild eines Stars, an einen Schauspieler, Fußballer, Spitzenpolitiker, einen erfolgreichen Unternehmer oder einen Vordenker. Es sind diejenigen, die Eliot als «die tausend Polizisten» bezeichnet, «die den Verkehr regulieren», und die heute wie gestern «dir nicht sagen können, woher du kommst und wohin du gehst».
Ist das alles, was man zum Protagonisten sagen kann? Wir fragen dazu Eugenio Borgna. Er ist Psychiater und Buchautor und hat sich besonders dem Verhältnis zwischen psychischem Leiden, künstlerischer Erfahrung und der Frage nach dem Unendlichen befasst.

Dem Stereotypen des Protagonisten steht heutzutage der dramatische Anstieg an Depressionen gegenüber.
Jüngsten Schätzungen zufolge macht in unserer Gesellschaft jeder Fünfte, manche sagen sogar jeder Vierte, die schmerzhafte Erfahrung von Depressionen. Und die Zahlen steigen. Es handelt sich um einen Zustand, der im Kern an die Einsamkeit gekoppelt ist. Der Missbrauch der Technik verwehrt der Seele eine wahre Lebenserfahrung, so dass die Auseinandersetzung mit einem selbst immer verwirrter wird. Romano Guardini schrieb 1928 in dem Aufsatz «Vom Sinn der Schwermut» einen Satz von bemerkenswerter Aktualität, dass jede depressive Erfahrung mit einer begrabenen Hoffnung, mit der aufgegebenen Suche nach dem Unendlichen zu tun hat. Deswegen kann man sagen, dass wir in der Depression die Spur des Unendlichen finden, die Suche nach einem Sinn, der über unser vorgetäuschtes Wohlergehen hinausgeht.

Sie scheinen der Depression geradezu eine positive Bedeutung zu zuschreiben. Mir scheint jedoch, dass in einer depressiven oder demoralisierten Person sogar die Fragen abhanden gekommen sind.
Wenn wir auf die Oberfläche der Tatsachen schauen, enthüllt das psychische Leiden ein Aufgeben, einen Verlust an Hoffnung und damit der Fragen, die sie zum Ausdruck bringen. Aber wenn wir unseren Blick mehr in die Tiefe richten, auf den Kern des Problems und nicht auf seine rein pathologische Erscheinung, entdecken wir, dass die Depression und das psychische Leiden auch die Quelle großer Kreativität sein können, denken Sie nur an den Zibaldone von Leopardi oder an die Buddenbrocks von Thomas Mann.

Welche Gefahren sehen sie aber in der Benutzung moderner Technik, wie PC, Internet oder Mobiltelefon?
Eine uneingeschränkte Nutzung dieser Ressourcen führt zu einer Schwächung, zu einer Entleerung der Persönlichkeit. Es gibt immer mehr Menschen, die heutzutage fast ausschließlich mit dem eigenen Computer reden. Sie haben andere Formen der Kommunikation und finden sie in entstellter Weise im Verhältnis zur Technologie wieder.

Online-Freundschaften, Online-Liebe, Arbeitsbeziehungen online – beziehen Sie sich darauf?
Auch. Aber die Entstellung von der ich sprach, zeigt sich vor allem in der Unfähigkeit zuzuhören. Diesbezüglich gibt es etwas, das mich als besonders als Arzt sehr beunruhigt. Ich bemerke, dass je mehr die Technologie voranschreitet, desto weniger hören die Ärzte ihren Patentien zu, desto weniger berühren sie ihre Patienten. Alles geht über Computer. Die Patienten sind von den Medizinern, die ihnen nicht mehr zuhören frustriert und leben ihre Krankheit als etwas vollkommen Unsinniges. Das passiert in der Medizin mittlerweile auf allen Gebieten, auch in der Psychiatrie: Es gibt keinerlei Auseinandersetzung des Arztes mehr mit der Leidenszeit, und man reduziert den Schmerz auf eine gewisse Anzahl von Symptomen, die dann mit Psychopharmaka behandelt werden. Das Leiden ist jedoch eine Sprache, die uns etwas von uns selbst enthüllt: Wenn man sich auf die oberflächlichen Erscheinungsformen begrenzt, dann ist das so, als ob man eine Person einmauert. Dann korrodiert das äußere Leben immer mehr das innere.

Wenn wir jetzt mal von einer negativen Einschätzung weg zu etwas positivem kommen, wie würden Sie dann die Faktoren definieren, in denen sich die erfüllte menschliche Persönlichkeit offenbart – also die Persönlichkeit eines Protagonisten?
Die Großzügigkeit, die Fähigkeit sich selbst zu schenken, die Haltung, dem anderen zuzuhören und seine Leiden mitzuerleben. Eine Psyche, die unfähig ist in sich die Leiden anderer nachzuempfinden ist schädlich. Denn wir verwirklichen uns nur dann wirklich, wenn wir von einem Dialog ohne Grenze umgeben sind. Wenn ich Dialog sage, meine ich nicht nur einen Dialog mit Worten, sondern einen Dialog aus Beziehungen, von Personen, von Gesichtern, von Blicken. Diesen Akzent des Wortes „Dialog“ hat Don Giussani immer nachdrücklich unterstrichen. Unser Leben verwirklicht sich schlussendlich nur, indem es den Klauen des Anscheins entkommt, dem Erfolgsmythos, dem Kult des Ich. Die Hoffnung lädt uns ein, auch in Formen die schmerzhaft erscheinen können, diese Wand zu überwinden, den Konkurs des Menschlichen, der nicht so sehr in der Depression besteht, sondern im Aushöhlen der Fähigkeit zum Zuhören und zum Dialog.

Man spricht heutzutage, und das nicht immer in konstruktiver Weise, vom Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft. Wie würden Sie Vernunft definieren?
Zunächst kann es dabei nicht um jene verkürzte Sicht der Vernunft gehen, wie sie nicht zuletzt im italienischen Fernsehen immer wieder propagiert wird, und die dazu geführt hat, dass der Papst nicht an der römischen Universität la Sapienza sprechen konnte. Das sind Ideen aus dem 19. Jahrhundert, die von Leuten im Leben erhalten werden, die Verwirrung stiften wollen. Die Vernunft kann nur in einer kontinuierlichen Dialektik mit dem ganzen Menschen, mit seinen Emotionen, mit seinen Leidenschaften, und vor allem mit seinem Glauben Bestand haben. Dass der Glaube ein kognitiver Akt ist und im Gewissen sein Fundament hat, wird heutzutage auch von bedeutenden Wissenschaftlern bestätigt. Glaube und Vernunft sind keine Antipoden, wie manchmal behauptet wird, sondern werden in einem gemeinsamen kognitiven Horizont eins, basierend auf der Erfahrung.

Wer ist also ein Protagonist?
Ein Protagonist ist ein Mensch, der in der Lage ist, den anderen die Möglichkeit eines menschlichen Lebens zu bezeugen, das die üblichen kalten und unverständlichen Modelle übersteigt. Wenn das nicht so ist, dann bedeutet Protagonist sein auf die eine oder andere Weise, dem anderen Gewalt anzutun. Das wäre eine ganz unmenschliche Definition des Protagonisten. Personen wie Don Giussani oder Chiara Lubich haben den Weg gezeigt, der den Protagonisten auf eine andere Weise versteht. Als jenen, der es anderen erlaubt, in ihrer Umgebung der Berufung zur eigenen Bestimmung auf den Grund zu gehen, wobei in jedem die Sorge um das Unendliche entsteht und das Leben auf die Ebene einer ständigen Teilnahme erhoben wird. Mit anderen Worten, meiner Meinung nach ist der Protagonist derjenige, der in origineller Weise den Sinn der menschlichen Persönlichkeit offenbart, nämlich die Hingabe seiner selbst. Einen Protagonisten zu betrachten heißt in einen Spiegel zu schauen, der uns ein Bild voller Hoffnung zurückgibt und die dunkle Nacht der Befürchtungen und die noch dunklere Nacht der banalen und unbedeutenden Alltäglichkeiten.

Was ist die Frucht eines solchen Menschen?
Ein Protagonist bringt immer andere Protagonisten hervor.

Vor zehn Jahren sagte Don Giussani, dass «der Bettler der wahre Protagonist der Geschichte ist». Wie kommentierten Sie diesen Satz?
Das ist außergewöhnlich, auch aus rein psychologischer Sicht. Der Bettler lebt die eigene Armut bis auf den Grund und ist deswegen offener, die Dinge im Kern zu begreifen. Er stellt sich unseren verzweifelten Blicken als Opfer dar. Der Blick eines Bettlers ist aber tatsächlich immer offen für die Hoffnung.