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Werke am Werk / Die «Schule der Nächstenliebe»
Vom Bedürfnis zum Unendlichen
Stefano Filippi

Um Verantwortlichen sozial-karitativer Werke zu helfen, den Grund ihres Handelns tiefer zu verstehen, gibt es in Padua seit drei Jahren eine Schule. In Versammlungen, Kursen und Begegnungen geht es dabei vor allem darum, die eigene Erfahrung ernst zu nehmen.

Ca’ Edimar ist eine Oase inmitten von Asphalt und Zement. Im Rücken die Autobahn, die Umgehungsstraße zur Seite, das Gefängnis «Due Palazzi» dreihundert Meter entfernt, Häuser verstreut zwischen den Feldern. Vor zehn Jahren gab es in diesem äußersten Winkel der Peripherie von Padua nur zwei verlassene Gebäude. Doch jetzt sind diese Bauernhöfe sorgfältig saniert, weitere Gebäude sind um einen Hof herum entstanden. Hier pulsiert das Leben einer «Casa-famiglia». Sie besteht aus zwei Wohneinheiten, umgeben von einem Zentrum für die Aufnahme von Minderjährigen aus schwierigen Verhältnissen, einer Schule, einer Halle mit Werkstätten, dem «Dorf des Handwerks» mit dem Schusterladen, wo es nach Klebstoff riecht, und dem «Musik-Keller» mit einem Tonstudio. Dazu kommen Gesellschaftsräume, Küchen, die Kapelle und ein ständiges Kommen und Gehen zufriedener Leute.
«Vergesst nicht, es muss ein Werk sein, das in der Stadt gesehen wird», sagte Don Giussani, als er nach Padua kam, um sich selbst ein Bild zu machen. Schaut man sich heute um, dann sieht man die gemähte Wiese, Sanitäreinrichtungen ohne das kleinste Graffito an den Wänden, die Sorgfalt, mit der die Dachziegel und Balken der alten Schuppen aufgestapelt sind, die Ordnung einer schönen, großen Anlage. Und man sieht auch den Eifer der Jungen beim Kochen. Mario Dupuis, der Begründer der Ca’ Edimar stellt sofort eines klar: «Wir wollten hier keine Projekte oder Ziele verwirklichen, nichts dergleichen. Wir sind einer Erfahrung gefolgt, den Gelegenheiten, die die Wirklichkeit uns bot. Ein Weg des Erkennens, nicht die Anwendung einer bestimmten Vorgehensweise. Wir wollten auch nicht ein Werk der Nächstenliebe schaffen, es ist uns in die Hände gelegt worden». Die Einrichtung hat inzwischen Ableger in ganz Venetien und ist auch in den Sektoren Ausbildung, Beratung, Nachhilfe tätig.
Die Erfahrung in den Mittelpunkt stellen, das ist keine selbstverständliche Methode. Aber es ist genau die Methode, die in der Schule für Werke der Nächstenliebe befolgt wird, einer Schule, die gefördert wird von der Stiftung Subsidiarität und dem Verband der Sozialunternehmen in der CdO . Dupuis ist seit 2005 Verantwortlicher für die Schule. «Das Schöne an dieser Herausforderung ist, dass nichts im Voraus festgelegt ist, weil es unvorstellbar ist, aus reiner Liebe nach einem abstrakten Schema zu handeln, wie Don Giussani sagte.» Die Schule besteht aus einem Grundkurs, Fachkursen für verschiedene Fachgebiete und unterschiedlichen Niveaus der Auszubildenden und Führungen. Dann gibt es eine Einrichtung, wo besondere Probleme im Detail behandelt werden und wo die Mitarbeiter der Werke zugleich Lehrer und Schüler sind.

Große Bedürfnisse und Wünsche
Es lohnt sich, den Weg der letzten Jahre zu verfolgen. 2005 war das Thema der Schule «Nächstenliebe ist zuerst Erziehung». «In diesem Jahr fiel als zentraler Punkt eine Zweideutigkeit auf», berichtet Dupuis, «dass man nämlich ein Werk unternimmt, um auf ein Bedürfnis zu antworten. Mit der Zeit haben wir angefangen zu begreifen, dass diese Antwort erst etwas anderes zum Vorschein kommen lässt. Man unternimmt ein Werk nicht nur, um auf ein besonderes Bedürfnis zu antworten. Auf Dauer hältst du das nicht durch, denn das wahre Bedürfnis ist unendlich, und das schaffst du nicht. Das ist die Tragik vieler, die von der Härte der tagtäglichen Wirklichkeit müde, demotiviert und ausgepumpt sind». Das Leben ist schon voller Probleme, warum sich noch die der anderen aufbürden?
Dupuis antwortet darauf: «In den Bedürfnissen dessen, der vor mir steht, eines Behinderten, eines obdachlosen alten Mannes, eines Jungen ohne Familie begegne ich in Wirklichkeit einem Menschen, einem “Ich”, das wieder zu seinem wahren Selbst erwachen möchte. Und ich selbst entdecke wieder das ganze Ausmaß meines eigenen Bedürfnisses. Deshalb zeigt sich die Nächstenliebe zuerst darin, dass wir uns gegenseitig erziehen. Wir haben den Blick statt auf ein Bedürfnis auf den Menschen gerichtet». So erklärt sich ein ganz eigenes Phänomen: «Oft stellt man fest, dass die Mitarbeiter häufiger wechseln. Das sind Leute, die vom Druck der Umstände gestresst sind, enttäuscht angesichts der Vielfalt und des Ausmaßes der Nöte oder einfach demotiviert nach Jahren der Arbeit. In vielen unserer Einrichtungen gibt es diese Versuchung zu fliehen hingegen nicht. Das heißt, man ist nicht von der Vielzahl der Dinge bestimmt, die man tun muss. Angesichts eines grenzenlosen Bedürfnisses bedarf es einer ebenso grenzenlosen Nächstenliebe. Da wird Gott gebraucht. Wir machen nur den ironischen Versuch, Ihn nachzuahmen.»
Diesen Gedanken hat die Schule im Jahr darauf unter dem Titel «Das Bedürfnis, ein Schritt hin zum Unendlichen» vertieft. Es war eine Entwicklung des in den vorangegangenen Monaten begonnenen Weges. «Es ging darum, dem Ursprung der Werke noch näher zu kommen, und noch mehr die Tatsache zu vertiefen, dass das Werk ein Unternehmen ist, das von konkreten Tatsachen lebt, von Bilanzen, Finanzierungen, Leuten, die arbeiten. Hier haben wir einen weiteren Schritt nach vorn gemacht», erläutert Dupuis, «Wir haben verstanden, dass es keinen theoretischen Ausgangspunkt gibt, während die Probleme ihren eigenen Weg gehen. Das ist eine zweideutige Einstellung. Ansonsten wäre es so, als hielten wir unsere Werke für so wunderschön, dass wir sie auch unternehmen müssten, wenn das Geld dazu fehlt, denn es gibt ja jemanden, der uns rettet. Mein Handeln ist stattdessen davon geleitet, was ich tun kann: Ich helfe, wo ich kann, den Rest biete ich Gott an. Diese Grenze erdrückt nicht, sondern lässt mich verstehen, wozu ich wirklich berufen bin. So ist der Wunsch, den Ursprung zu vertiefen, zum Urteil über alle Einzelheiten des Werks geworden. Es gab keine am grünen Tisch erdachten Lösungen, alles ist eine immer offene Baustelle.»

Ein unerwarteter Boom
Das Schuljahr 2007, das im vergangenen Februar durch die Versammlung mit Don Carrón abgeschlossen wurde, stellt eine dritte Etappe dar: «Die Nächstenliebe an der Wurzel der Bedürfnisse des Ich». 13OO Teilnehmer hatten sich für die Grundausbildung eingeschrieben, ein unerwarteter Boom. In den Jahren davor waren es zwischen 700 und 800. Dupuis führt dies auf zwei Gründe zurück: «Erstens haben wir Audio-Video-Verbindungen mit einer Reihe von Städten in Mittel- und Süditalien eingerichtet. Das hat vielen die Teilnahme ermöglicht, die nicht jedes Mal nach Mailand kommen konnten. Zweitens haben sich viele Personen eingeschrieben, die nicht in karitativen Werken arbeiten, sondern einen karitativen Freiwilligendienst, die “Caritativa”, machen.» Dies war aber auch Anlass für eine wichtige Klärung: «Es war hilfreich, dass all diese Leute gekommen sind. Das hat uns nämlich die Gelegenheit gegeben zu erklären, dass die Caritativa nicht Hilfe für ein Werk ist. Vielmehr erfüllt sie, wie Carrón nicht müde wird zu unterstreichen, einen erzieherischen Zweck: die Ungeschuldetheit zu erlernen, zur Empathie erzogen zu werden, nicht nur “ein Werk zu unterstützen”. Und der Ort dafür ist das Seminar der Gemeinschaft. So haben wir entschieden, dass sich in diesem Jahr nur diejenigen für die Schule der Werke einschreiben können, die auch in den Werken arbeiten, und nicht jene, die nur die Caritativa machen.»

Wege der Liebe und Fragen
In der Schule für karitative Werke kommt ein außerordentlicher Reichtum an Erfahrungen zusammen. Da gibt es die Familien der Cometa aus Como, einer «Stadt in der Stadt», wo es von Jungen wimmelt, denen zum ersten Mal jemand sagt «du bist etwas wert». Oder die Schwestern der Carità dell’Assunzione der Via Martinengo, die mitten unter den Familiendramen in einem Stadtviertel an der Peripherie von Mailand leben. Es gibt die sozialen Genossenschaften der Gruppe Pinocchio, die sich im reichen Gebiet der Franciacorta in der Provinz Brescia der Wiedereingliederung von Häftlingen, Drogenabhängigen, psychisch Kranken und Außenseitern widmen; oder das beeindruckende Werk des Banco Alimentare, der in großem Stil Lebensmittel sammelt und an Bedürftige verteilt. Es ist ein beeindruckendes Schauspiel von Menschen, die zeigen, dass Nächstenliebe nicht ein Gedanke oder eine gute Eingebung ist und auch kein Anflug von Großzügigkeit.
Jede Wirklichkeit hat ihre beruflichen Werdegänge und ihre Fragen. Warum werden so viele Werke zur reinen Fürsorge? Sind wir Versager, wenn es uns bei vielen Menschen, denen wir beistehen, nicht gelingt, sie von ihrem Leiden zu befreien? Welchen Sinn hat es, jemandem zu helfen, von dem du weißt, dass er nie gesund wird. Und wie ist die Beziehung zur Politik und den Institutionen? Viele Fragezeichen und viele Erfahrungen, aus denen man lernt. Walter Sabattoli (von Pinocchio) erzählt, dass oft der berufliche Werdegang zu der Entdeckung führt, dass gewisse Übel nicht beseitigt werden können und man lernen muss, mit ihnen zu leben.

Keine Gebrauchsanleitungen
Wie Schwester Gelsomina Angrisano bezeugt, ist es die Erfahrung mit sozial schwachen Familien, die ihr Werk geprägt hat. Stefano Giorgi von In-presa erklärt, wie eine große Idee auch innerhalb enger gesetzlicher Grenzen verwirklicht werden kann. Marco Lucchini (vom Banco Alimentare) erklärt an einem Beispiel, wie man einerseits die Regeln der Politik akzeptieren und sich zugleich bemühen kann, sie so zu ändern, dass die Politik so weit wie möglich das Prinzip der Subsidiarität berücksichtigt.
Hier versammeln sich keine Experten, die Theorien erklären, sondern Menschen, die über ihre Erfahrungen nachdenken. Diese Methode wird in der Schule konsequent angewandt. Sie beginnt am kommenden 17. Mai unter dem Motto «Nächstenliebe wird immer notwendig sein». Die Begegnungen der Grundausbildung werden alle die direkte Auseinandersetzung mit einigen Sozialwerken zum Thema haben. «Keine allgemein gehaltenen Zeugnisse», präzisiert Dupuis, «sondern die Beschreibung des ganzen Weges eines Werks, vom Ursprung zur Entwicklung, bis zu seinem rechtlichen Status, seiner karitativen und kulturellen oder politischen Rolle. Wir haben gebeten, Schwierigkeiten, Probleme, Stärken und Schwächen deutlich zu machen. Denn wir wollen von der Grenzsituation ausgehen, von der ruhelosen Frage, die wir in uns tragen. Gebrauchsanleitungen werden hier nicht gegeben.»