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Die Heilige Schrift / Ein Gespräsch mit Don Ignacja Carbajosa
Der Wunsch, Christus tiefer zu entdecken
Alberto Savorana

Wer hörte, wie Don Giussani das Evangelium vorlas, fühlte sich ganz natürlich an die Orte des Lebens Jesu versetzt. Er fühlte sich hineinversetzt in die Menge auf dem Berg der Seligpreisungen oder am Ufer des Sees von Tiberias. Beim Eröffnungstag der Erwachsenen von CL aus der Lombardei wies Don Julián Carrón auf die Schwierigkeit hin, die „unverwechselbaren Züge“ Christi bei der Begegnung mit Tatsachen und Personen zu erkennen, die eine menschliche Andersartigkeit belegen. Und er fügte hinzu: «Es fällt uns schwer, weil uns das Einfühlungsvermögen in Jesus, in das Evangelium fehlt, das Giussani uns sein ganzes Leben lang bezeugt hat. Denn wir könnten uns nicht in diese Episoden einfühlen, wenn Don Giussani sie uns nicht so oft wiederholt hätte».
Von diesen Urteilen provoziert, haben wir Don Ignacio Carbajosa Pérez (1967 in Cartagena, Spanien geboren) gebeten, uns zu einem vertieften Verständnis zu verhelfen. Er lehrt Exegese an der Theologischen Fakultät San Damaso in Madrid und ist Dozent für semitische Sprachen am Institut für klassische und orientalische Philologie.


«Wir tragen den Dualismus in uns, den Carrón in diesem Sommer beschrieben hat, jene Trennung von Gott als dem Ursprung des Lebens und dem Gott unserer Vorstellung», betont Carbajosa. «Deshalb leben wir zwar in der Wirklichkeit, in der Er sich zeig, aber dann lesen wir das Evangelium oder nehmen an der Liturgie und am Gebet spiritualistisch, frömmlerisch teil. Bei Don Giussani gab es diese Einheit, die der heilige Augustinus so gut zum Ausdruck brachte. Carrón hat ihn bei der Synode zitiert: In manibus nostris sunt codices, in oculis nostris facta. Das heißt vor unseren Augen haben wir die mächtigen Taten Seiner Gegenwart, in unseren Händen die Evangelien, die den Ursprung dieser Gegenwart beschreiben, ihre wahren, unverwechselbaren Züge.

Aber das Evangelium spiritualistisch zu lesen – wie das in gewissen Predigten geschieht –, entfernt es von der Wirklichkeit des täglichen Lebens und führt unweigerlich zur Frage: Warum sollte man dann Zeit mit dem verlieren, was die Bibel sagt? Diese Frage hat auch die kürzliche Bischofssynode über das Wort Gottes und seine Lektüre in Bezug auf Leben und Sendung der Kirche heute beschäftigt.
Diese Art der Bibellektüre ist Frucht des Dualismus, den ich eben erwähnte. Bei der Beschreibung der Wirklichkeit bleiben wir beim Anschein stehen. Wir legen nicht den ganzen Weg der Vernunft zurück, bis wir beim Geheimnis ankommen. Und dann ist die Wirklichkeit nicht mehr Zeichen. Früher oder später wirst Du deiner Frau leid. Dagegen hat Don Giussani uns beigebracht, die Wirklichkeit so zu sehen, dass wir das Geheimnis erkennen, das sie ständig hervorbringt. Mehr noch, von ihm haben wir gelernt, dass Geheimnis und Zeichen zusammenfallen und sich unserer Deutung anbieten. Im konkreten, fleischlichen, wirklichen Zeichen bietet sich das Geheimnis mir an, zärtlich – ja noch wirklicher, denn ohne das Geheimnis gäbe es kein Zeichen.

Wie ist es also möglich, dass wir in den Evangelien lesen, aber nicht bewegt sind von den Gesten, den Zügen jener Gegenwart, die uns hier und jetzt mit einer grenzenlosen Flut an Zeichen und Zeugen berührt?

Das ist eine Frage des Realismus: Es geht darum, die Wirklichkeit vor unseren Augen genau anzusehen, bis auf den Grund. Die Evangelien bezeugen und beseelen sie uns auf einmalige Weise. Kurz und gut, wir sind zu virtuell in unseren Beziehungen. Don Giussani fordert uns erneut heraus mit seiner Art, die Evangelien zu lesen, und zwar zu einer intensiven Beziehung mit der Wirklichkeit als Zeichen, voll Leidenschaft und Zuneigung.

Wenn das Evangelium nicht zur Flucht in einen von der Wirklichkeit getrennten „Himmel“ dient, dann wird es Anlass für „moralische“ Appelle, so als wäre es ein Handbuch für Regeln: Dinge, die man tun und Verbote die man beachten soll, mit besonderer Betonung der Bemühung um Kohärenz, die vom Gläubigen verlangt wird, wenn er ein guter Jünger Jesu sein will. Genügt das, um die Verkündigung Christi zeitgemäß und überzeugend zu machen?

Als ich Kind war gab es in meiner Pfarrei einen Priester, der in seinen Predigten immer wie einen Kehrreim wiederholte: «Deshalb, Brüder, müssen wir uns bemühen…». Und das war seine logische Schlussfolgerung aus dem Evangelium. Aber ich frage mich: Wie kann ein Mensch das Evangelium nicht auf moralische Regeln reduzieren? Was wäre das Gesetz (das heißt die Thora, die ersten Bücher der Bibel) für die Jünger Jesu gewesen, wenn Er sich ihnen nicht genähert hätte, wenn Er nicht zu ihnen in so überzeugender Weise in Beziehung getreten wäre? Regeln - was es übrigens für die Pharisäer war. Aber als sie auf Ihn stießen … dann ja: die ganze Schrift sprach dann von Ihm!

Willst du sagen, dass nur eine Begegnung die Jünger davor bewahrte, die Schrift auf das Gesetz zu reduzieren?

Genau. Es ist ein Schauspiel zu sehen, wie die Autoren des Neuen Testamentes ständig im Alten Testament (das heißt für sie in der Schrift) überrascht die Ankündigung dessen entdeckten, wovon sie die Protagonisten waren. Petrus sagt dies in seinem Ersten Brief, wo er von den Propheten spricht: «Den Propheten wurde offenbart, dass sie damit nicht sich selbst, sondern euch dienten; und jetzt ist euch dies alles von denen verkündet worden, die euch in der Kraft des vom Himmel gesandten Heiligen Geistes das Evangelium gebracht haben. Das alles zu sehen ist sogar das Verlangen der Engel». (1Petr 1,12).
Wir müssen zu dem stehen, was das Evangelium bezeugt. Entweder ist Jesus auch heute so gegenwärtig, dass Er in mir Vernunft und Zuneigung anrührt, wie einst bei Johannes und Andreas am Jordanufer, oder es wird unvermeidbar sein, die Schrift auf das zu reduzieren, was ich denke oder fühle.

Aber die Moderne erhebt den Anspruch einer objektiven Erkenntnis durch eine vom Glauben und vom Gefühl getrennte Vernunft. Der Glaube galt als subjektiv und deshalb unzuverlässig, und das Gefühl als etwas, das die Objektivität verfälscht. Man sagt: nur eine unbeteiligte Vernunft, die sich nicht vom Objekt gefühlsmäßig ergreifen lässt, kann die Wirklichkeit wahrhaft kennen. Aber das Prinzip „Nur die Vernunft“ als Methode der Erkenntnis einer „Tatsache“ hat sich als ungeeignet erwiesen, wie zum Beispiel die Untersuchungen Albert Schweitzers über die Geschichtlichkeit Christi und der Evangelien gezeigt haben. Er sah die Gefahr einer vollkommenen Ungewissheit über das, was man zeigen wollte…

Tatsächlich entstand noch vor dem Prinzip Sola Ratio das Luthersche Sola Scriptura als Versuch, sich der Tradition der Kirche (Dogmen, Papst, Sakramente) zu entziehen; also jener Tradition, die die Interpretation der Heiligen Schrift begleitet. Aber was bleibt uns ohne die lebendige Gegenwart Christi in der Tradition der Kirche, um die Schrift zu interpretieren? Die Vernunft. Eine vom christlichen Ereignis losgelöste Vernunft. Aber die Geschichte hat gezeigt, wie das Sola Ratio die Zuverlässigkeit der Bibel zerstört hat. Es hat das in den Evangelien geschilderte geschichtlich Außergewöhnliche reduziert auf das Vorhersehbare. Zum Beispiel muss das Wunder gestrichen werden, denn es ist nicht vernünftig. Da es sich heute nicht ereignet, konnte es auch damals nicht geschehen.

Was bleibt also von Jesus?

Jesus ist nichts anderes als der höchste Ausdruck des religiösen Menschen (so bei Kant und Harnack). Und die Schrift, die uns „diesen\\" Jesus bringt, entfernt sich jeden Tag weiter von uns. Das ist der große und unüberbrückbare Graben zwischen mir und Jesus, von dem Lessing sprach. In der heutigen Exegese gehen viele Untersuchungen über den historischen Jesus noch von diesem Graben aus. Und das Resultat ist ein schreckliches Misstrauen gegenüber Jesus und eine Ungewissheit in Bezug auf die in den Evangelien überlieferten Daten. Sie seien Ausdruck eines Glaubens sind und deshalb nicht „objektiv\\", so wird uns gesagt. Das ist die dramatische Lage, die den Papst gedrängt hat, sein Buch Jesus von Nazareth zu veröffentlichen.

Kommen wir auf die Herausforderung von Don Carrón zurück: «Die Evangelien sind und bleiben der Maßstab, die Regel, die uns hilft, festzustellen, wann eine Erfahrung christlich ist, wann wir uns wirklich vor einer christlichen Erfahrung befinden. Denn jetzt und in jedem Augenblick der Geschichte geschieht dasselbe, was am Anfang geschah (wenn auch mit anderen Gesichtern). Es geschieht durch andere Gesichter aber ER macht sich für uns gegenwärtig in Gesichtern mit unverwechselbaren Zügen, mit den Seinen». Was bedeutet diese Feststellung für die Methode?

Man braucht nur zu sehen, wie Don Giussani das Evangelium las. Für ihn war es eine echte Korrektur, eine kontinuierliche Quelle der Neuheit. Es war wie ein Dialog mit dem Geheimnis, das er vor Augen hatte und das sich mit einem außergewöhnlichen, authentischen Zeugnis in den Evangelien anbot. Wir können heute nicht von Sittlichkeit reden, ohne das Gespräch zwischen dem auferstandenen Jesus und Petrus am Ufer des Sees von Tiberias vor Augen zu haben. Oder wir können nicht von Christentum als Ereignis sprechen, ohne auf die Erzählung von der ersten Begegnung Jesu mit den beiden Jüngern des Täufers, Johannes und Andreas, zurückzukommen. War es eine Übertreibung, wenn Don Giussani empfahl, diese Abschnitte täglich zu lesen?

Es war gerade die Einübung des Einfühlens. In einem Dokument der päpstlichen Bibelkommission aus dem Jahr 1993 lesen wir: «Die heutige Hermeneutik ist eine gesunde Reaktion auf den geschichtlichen Positivismus und auf die Versuchung, auf das Studium der Bibel die von den Naturwissenschaften benutzten Kriterien für Objektivität anzuwenden. Einerseits sind die in der Bibel berichteten Ereignisse schon interpretiert, und andererseits erfordert jede Exegese der Erzählungen dieser Ereignisse notwendigerweise die Subjektivität des Exegeten. Die wahre Kenntnis des biblischen Textes ist nur dem zugänglich, der eine gelebte Vertrautheit mit dem hat, wovon der Text spricht». Was müssen wir unter diesem Ausdruck „gelebte Vertrautheit\\" verstehen?

Das Zweite Vatikanische Konzil brauchte einen ähnlichen Ausdruck: die Schrift «in dem gleichen Geist zu lesen, in dem sie geschrieben wurde». Entweder gibt es eine Gleichzeitigkeit mit Jesus (und es ist der Geist, der heute in der Kirche dieselbe Geschichte erzeugt, die die Evangelien erzählen) oder ich muss, wie wir gesagt haben, notwendigerweise was ich lese auf das reduzieren, was ich denke oder fühle. Carrón erzählte bei der Synode eine Episode, die sich in Madrid zugetragen hatte. Eine Frau, die gerade dank christlicher Freunde dem Glauben begegnet war und das Evangelium hörte, sagte: «Diesen (den Aposteln) geschah dasselbe wie uns!» Das ist sie, die gelebte Vertrautheit: Ich mache heute die Erfahrung jener Außergewöhnlichkeit, von der die Evangelien sprechen.

Die Erfahrung des sich Einfühlens ist dem menschlichen Leben eigen. Das Kind wächst in der Beziehung mit den Eltern, der Schüler in der mit dem Lehrer. Und doch hat die 68er Revolution die Befreiung von jeder Bindung als das Geheimnis der Selbstverwirklichung des Ich verkündet…

Aber diese Anmaßung ist sehr alt! Schon beim Propheten Jesaja lesen wir: «Ich habe Söhne großgezogen und emporgebracht, doch sie sind von mir abgefallen. Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht» (Jes 1,2-3). Der Prophet lässt uns die Unvernunft dieser Rebellion mit einem sehr eindrucksvollen Bild sehen. Und ihre Folgen: die Zerstörung und das Exil. Mir scheint, dass wir heute nicht allzu weit von dieser Prophezeiung entfernt sind.

Liest man Don Giussani, dann hat in Kann man so leben? das Einfühlen die Eigenschaften der Nachahmung. Warum löscht das Nachahmen eines Anderen nicht die Unterscheidungsmerkmale dessen aus, der sich einfühlt? Warum also ist das nicht eine Entfremdung?

Die Nachahmung ist eine Mühe des Schauens, des Herzens, der Intelligenz: Das Sich-Einfühlen in die Gründe eines Anderen, mit einer Abwandlung, die ich mir zu Eigen machen will. Wer nicht so nachahmt, wiederholt mechanisch. Heute wiederholen die Leute ständig: Die Art, sich zu kleiden, zu denken, sich gegenüber der Freundin zu verhalten… Allein die Nachahmung befreit und gibt dir ein eigenes Gesicht zurück (dein Herz!). Sie macht dich fähig, allem gemäß deinem Charakter und deiner Begabung zu begegnen. So war es für Jesus mit seinen Aposteln. Judas wiederholte: Er blieb an der Oberfläche, bei dem beziehungsweise mit dem er bei Jesus „einverstanden\\" sein konnte. Im Gegensatz dazu hat sich Petrus in die Gründe eines anderen eingefühlt: Er hat die Beziehung Jesu mit dem Vater entdeckt, hat das Geheimnis von Jesu Anspruch erahnt. Er war ein Protagonist der Geschichte, mit einer Fähigkeit zur Zuneigung, die ihn dazu gebracht hat, das Leben für Christus hinzugeben.

Wie ist unter diesen Voraussetzungen der folgende Satz des damaligen Kardinals Ratzinger zu verstehen: «Der Glaube ist ein Gehorsam des Herzens gegenüber der Form der Lehre an die wir übergeben wurden»?

Dieser Satz stammt aus einem Abschnitt des Briefs des Apostels Paulus an die Römer: «Gott aber sei Dank, denn ihr wart Sklaven der Sünde, seid jedoch von Herzen der Lehre gehorsam geworden, an die ihr übergeben wurdet» (Rm 6,17). Der Gehorsam des Herzens ist aber kein Gegensatz zur Freiheit, wohl aber zur Sklaverei. Um es klar auszudrücken: In der Erfahrung staunen wir, dass der Gehorsam gegenüber der Schönheit, der wir begegnen, zur Freiheit führt. Der eigenen Meinung im Namen der Freiheit zu folgen, führt nur zur Langeweile und es zerstört das, was man am meisten liebt.