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Caritativa
Die Jugend und das Gesetz des Lebens
Paola Bergamini

Es ist die Geschichte einer einfachen Person, die sich selbst wiederentdeckte, indem sie an der Caritativa teilnahm. Und es ist die Geschichte von 3.000 Personen, die ebenfalls Lebensmittelpakete an Bedürftige verteilen, und dadurch lernen, ihre eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen. Das zeigen die Zeugnisse der Versammlung der Solidaritäts-Tafeln in Mailand.

Auf der Bühne des Mailänder Teatro Smeraldo stehen nur ein Tisch, zwei Stühle und an der Seite ein Mikrofon. Nach und nach füllt sich der Saal. Aber es sind nicht die üblichen Konzertbesucher oder Musicalfans, sondern Hausfrauen, Angestellte, Unternehmer, Lehrer, Rentner. Mancher hat eine lange Reise auf sich genommen, um hierherzukommen. Es sind Frauen und Männer jeden Alters aus ganz Italien, die ein einfacher Gestus verbindet. Sie verteilen Lebensmittelpakete an Leute, die in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken. Es geht um die Erfahrung der »Solidaritäts-Tafeln«, die hier ihre Jahresversammlung abhält. Der Gestus entstand vor mehr als zehn Jahren. Heute gibt es 120 Vereinigungen in ganz Italien und seit Juni auch eine in Madrid. Rund 3.000 Freiwillige helfen dadurch 25.000 Bedürftigen. Aber noch beeindruckender und überraschender als die Zahlen ist der Reichtum der erlebten Geschichten, der Beziehungen und der Erfahrungen. Ja, es ist gleichsam ein Tag voller Freude für den, der daran teilnimmt und die Pakete austeilt.
«Wir sind hier, weil jeder von uns in seiner Sehnsucht, glücklich zu sein, irgendwann der Umarmung von Christus begegnet ist, und zwar durch die Umarmung eines Menschen. Wir sind hier, um zu bezeugen, wie in dieser Umarmung die Initiative der „Tafeln“ unser Leben erzieht, verändert«, betont Andrea Franchi bei der Einführung den über zweitausend Teilnehmern. Er leitet die Versammlung gemeinsam mit Julián Carrón. Ein Paket auszuteilen, ist vor allem eine Handlung für mich selber, weil es „die höchste“, mehr noch die einzige Pflicht des Lebens erfüllt, das heißt sich selbst zu verwirklichen«. Paola aus Salsomaggiore sagt es auf diese Art und Weise: »Am Anfang fühlte ich mich verpflichtet, in einer Notlage zu helfen, aber das ging nicht auf, denn die Wünsche der Familien, die ich besuchte, waren vielfältig und sehr widersprüchlich. Manches Mal habe ich mich sehr geärgert.« Alles ändert sich aber, wenn man das Ich wieder ins Zentrum rückt. »Früher hätte ich geradezu Schuldgefühle gehabt, nur daran zu denken, dass dieser Gestus mir etwas bringen würde. Stattdessen wurde mir gesagt, dass ich mich selber so lieben solle, wie Christus mich liebt. Denn nur auf diese Weise könne ich anderen helfen und sie lieben. Wenn ich darüber nachdenke, scheint mir dies fast unglaublich. Die Hilfe für andere wurde zum Werkzeug, um vor allem mir selbst zu helfen!« Das ist unglaublich weil es auf wundersame Weise die alltäglichen Beziehungen – mit ihrem Mann, den Kindern, den Schülern – ändert. Die vorgeschobenen Ansprüche werden unwichtig.
Es bewegt Herz und Verstand, wenn man sieht, welchen erzieherischen Wert ein so einfacher Gestus für die Beteiligten hat. Das gilt auch für Deflio.
Er kommt aus Como und kennt die »Tafeln« aus der Klinik für Suchtkranke, wo er behandelt wurde. Sein Problem ist der Umgang mit Geld. »Ich gab das Dreifache von dem aus, was ich verdiente. Ich sagte zu mir: Vielleicht finde ich einen Weg, um da rauszukommen, wenn ich bei der Initiative mitarbeite. Und tatsächlich hat es mir geholfen. Aber darüber hinaus gelang es mir, meinem Leben einen Sinn zu geben. Ich bin Gott näher gekommen. Jeden Mittwoch, wenn ich die Lebensmittel einpacke, fühle ich mich von Nutzen, ich bin mit mir im Reinen. Ich fühle mich gut, weil ich die Wertschätzung meiner Freunde bei der Solidaritäts-Tafel spürte. Diese Freunde stärkten in mir wieder den Willen, meinem Leben einen Sinn zu geben – was ich vor vielen Jahren aufgegeben hatte.«
Diesen Sinn kann auch jemand erneut entdecken, der seit vielen Jahren in der Bewegung gewesen ist und irgendwann entschieden hat aufzugeben, weil es nur noch »CL-Alltag« war. So geschah es Fabio aus Domodossola. Als er seine Frau dieses Jahr zum Meeting begleitet, ist er von einigen Veranstaltungen, etwa dem Zeugnis von Vicky (siehe Spuren September 2008), sehr beeindruckt. »Ich kehrte mit der Frage zurück: Warum geschehen Wunder immer nur bei den anderen?« Carrón unterbricht ihn: »Aber wenn Vicky in einer derartigen Lage, wie du gehört hast, zufrieden leben kann, ist das nicht eine Hoffnung auch für dich?« »Genau, danach sind auch bei mir Wunder geschehen.« Nach der Rückkehr nimmt Fabio die Arbeit für die »Tafeln« wieder auf, weil er noch keinen Ersatz gefunden hat. Eines Tages begleitet er ein 14-jähriges Mädchen, das auch an der Caritativa teilnehmen möchte, beim Verteilen der Pakete. Im Auto erzählt sie, was ihr die »Tafeln« bedeuten. Fabio schweigt. Nachdem sie einer bedürftigen Familie ein Paket abgeliefert haben, umarmt die Mutter das Mädchen wie eine eigene Tochter. Einige Tage später sagt das Mädchen: »Ich habe verstanden, dass es den „Tafeln“ nicht nur darum geht, das Paket zu verteilen. Es ist eine Frage der Beziehungen«. »Das war der erste Seitenhieb«, erzählt Fabio. »Dann kam der zweite. Ich bin Polizist. Eines Tages muss unsere Streife einschreiten, um jemandem vor dem Selbstmord zu retten. Doch dieser Mann kommt nach einer Woche auf die Wache und sagt, er habe Angst, er könne es erneut versuchen. Die Kollegen schicken ihn zu mir. Ich weiß nicht, was ich sagen soll außer: „Komm doch zum Abendessen mit meinen Freuden von den „Solidaritäts-Tafeln“. Du brauchst jemanden, der dich liebt und ich kann dich nur dazu einladen. Diese zwei Wunder haben wieder den Glauben in mir wachgerufen.« »Du sprachst vom „Glauben wachrufen“; das sind Tatsachen, die dich neu geöffnet, weit aufgetan haben«, merkt Carrón an.
Giovanni lebt in Pellestrina, einer kleinen Ortschaft bei Chioggia. Er ist Maurer. Dank eines Freundes kennt er die Bewegung, »diese wunderbare Wirklichkeit«, wie er sie bezeichnet. Sie schlugen ihm die »Solidaritäts-Tafel« vor. »Jeden Monat verteilen wir ein gutes Dutzend Pakete. Ein Teil davon lassen wir vor der Tür, andere übergeben wir den Menschen persönlich. Jedesmal fühle ich in mir eine Explosion, eine enorme Freude, etwas Wunderbares, das ich nur schwer beschreiben kann. Ich fühle mich neu. Nach dem ersten Austeilen bin ich sogar zum Pfarrer zur Beichte gerannt. Meine Frau, die nicht in der Bewegung ist, sagte mir: „Das Paket brachte dich zur Beichte?“« Carrón fragt nach: »Warum kam es dir in den Sinn, zur Beichte zu gehen?« – »Weil ich mich in jenem Moment als etwas ganz Neues gefühlt habe. Ich spürte, dass vor mir ein Anderer war, wie meine Freunde mir sagten, wie das Seminar der Gemeinschaft es erklärt. Als ich versuchte, das meiner Frau und den Freunden in meiner Gemeinschaft zu erklären, sagten sie mir: „Es ist wirklich ein Wunder, dass dich gegenüber vorher verändert hat“«. »Der Grund war also jene „unglaublich große Freude“ «, erläutert Carrón. »Damit nimmt das Fleisch an, was Don Giussani in den ersten Zeilen des Büchleins über die Caritativa sagt: „Wenn es etwas Schönes in uns gibt, sind wir davon beseelt, es den anderen mitzuteilen. Das nennen wir zu Recht das Gesetz des Daseins. Wir handeln karitativ, um dieses Bedürfnis zu befriedigen“. Es ist beeindruckend zu sehen, wie das Geheimnis dich sogar das Schlechte in dir umarmen lässt«.
Das Paket zu verteilen, bedeutet, auf ein Bedürfnis zu antworten. Aber durch diesen Gestus hindurch gibt es die Sehnsucht, innerhalb einer Freundschaft, ein noch größeres Bedürfnis zu teilen, auf das nur Christus antworten kann. »Im Kapitel des Seminars der Gemeinschaft über den Gehorsam wird uns einer der unverwechselbaren Gesichtszüge Jesu gezeigt, nämlich wie er dem Bedürfnis entgegentritt. Es ist unmöglich das zu lesen, ohne von Rührung ergriffen zu werden. Denn auch wir sind so betrachtet worden. Es ist ein und dasselbe, Mitleid mit den Leuten zu haben, weil sie nicht wissen, was ihre Bestimmung ist und Mitleid zu haben, weil sie hungrig sind. Mit dem Gestus der „Solidaritäts-Tafeln“ erziehen wir uns dazu, das Bedürfnis des anderen in seiner ganzen Dimension zu betrachten und uns bewusst zu machen, dass wir nur wirklich einander lieben können, wenn wir das, was wir aus Gnade erhalten haben, miteinander teilen. Heute Morgen haben wir mit der Hand Seine Gegenwart berührt, denn die Dinge, die wir gehört haben, können nicht von uns selbst geschaffen werden. Es sind Dinge, die heute wie damals geschehen, weil Er da ist», fährt Carrón fort.
In einer so schwierigen wirtschaftlichen Lage wie jetzt besteht das Risiko darin, sich einzuschließen, sich über die eigenen Schwierigkeiten hinaus gefühllos zu machen. Wenn man aber nicht von einem Mangel, sondern von einer Fülle ausgeht, die man gesehen und getroffen hat, dann öffnet das einen neuen Horizont und zeigt einen anderen Ursprung, eine andere Kultur.
Deswegen betonte Carrón zum Abschluss: »Wir wollen allen zurufen, was wir empfangen haben: Die Gnade, dass uns jemand mit Barmherzigkeit angeschaut hat«. Auch wenn wir ein Lebensmittelpaket verteilen.

Wie eine »Tafel« entsteht
Mai 2008. Manuel war im Urlaub in Italien. Seine Freunde aus der Bewegung haben ihm die Caritativa der »Solidaritäts-Tafeln« vorgestellt. Er ist von dieser Erfahrung beeindruckt, vor allem von den Erzählungen derer, die sie machen. Aber das schein für den Moment alles zu sein. In Madrid nimmt er seine Arbeit in der Finanzbranche wieder auf. Die wirtschaftliche Lage ist auch in Spanien schwierig. In seinem Büro sieht Manuel viele dramatische Situationen. Eines Tages kommt ein völlig verzweifelter Kunde zu ihm. Er hat zwei Kinder, ist arbeitslos, die staatliche Unterstützung läuft aus, er hat kein Geld mehr, nicht nur für die Hypothek, sondern auch für die alltäglichen Einkäufe. Manuel fällt die Erfahrung der »Solidaritäts-Tafeln« wieder ein, die er in Italien gesehen hat. Vor allem kommt ihm jener wohlwollende Blick auf sich selbst und die Wirklichkeit ins Gedächtnis, von dem die italienischen Freunde berichtet haben. Er sucht die Adresse des Kunden und besucht ihn einige Tage später mit einem Lebensmittelpaket. Das ist der erste Gestus der »Solidaritäts-Tafeln« in Spanien. Heute hilft Manuel gemeinsam mit einigen seiner Freude 15 Familien.