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Weihnachten 2008
Weihnachten
Antonio Socci

Große Heilige wie Augustinus oder Bakhita bezeugen es ebenso wie Andrea, Cilla oder die Berichte beim Meeting. In den dramatischsten Situationen des Lebens kann nur Christus auf die Fragen des menschlichen Herzens antworten – wenn wir es zulassen.

Die Herrin langweilte sich an jenem Tag. So entschloss sie sich, die drei schwarzen Mädchen, die sie als Sklaven gekauft hatte, misshandeln zu lassen. Sie waren etwa zehn bis elf Jahre alt. Bakhita wurde auf die Erde geworfen und mit einem Rasiermesser ritzten sie ihr 114 Schnitte ins Fleisch. Dann streuten sie Salz in die Wunden. Einfach so, aus Spaß. Weil die muslimischen Herren das Mädchen als ihren Besitz ansahen. Bakhita war im Alter von sieben Jahren, 1876, aus ihrem sudanesischen Heimatdorf geraubt und viermal als Sklavin verkauft worden. Sie hatte nur Grausamkeit kennen gelernt.
Dies ist die menschliche Geschichte – ohne Jesus. Joseph Ratzinger erklärt in seinem Buch Jesus von Nazareth, dass die Welt vor der Ankunft des Erlösers durch Dämonen verseucht war. Überall dominierten Grausamkeit und Unmenschlichkeit. Dann, eines Tages, erklangen diese Worte: »Ich habe das Elend meines Volkes gesehen (...) und ihre laute Klage gehört. Ich kenne ihr Leid.« (Exodus 3, 7). »Er hat sich gezeigt. Er in Person, vor 2000 Jahren. Und seitdem zeigt er sich jeden Tag aufs Neue im Phänomen einer andersartigen Menschlichkeit« ,wie Don Giussani sagt. Auch dieses arme Mädchen Bakhita »stößt darauf und gewinnt die Vorahnung eines neuen Lebens ... eines Lebens, wie es sich keiner erwartet, nicht einmal erträumt hätte.«
Auch Bakhita gelang es nicht, das zu erträumen. Mit 16 Jahren brachten sie ihre Besitzer zufällig nach Venedig in Italien. Dort lernte sie die Canossianischen Schwestern kennen. Die Menschlichkeit und Güte dieser wahrhaft christlichen Schwestern berührten sie tief. »Ein Mensch mit einem goldenen Herzen«, der mit dem späteren Papst Pius X. verwandt war, schenkte ihr ein Kreuz. »Als ich es annahm«, so erinnert sich das Mädchen, »küsste ich es mit Ehrerbietung. Dann erklärte er mir, dass Jesus Christus, der Sohn Gottes, für uns gestorben war.« Bakhita war wie geblendet. War er für sie gestorben? War es möglich, dass jemand sie liebte? Ja. Sie sah es auf den Gesichtern »dieser heiligen Mütter, die mich Gott kennen lernen ließen«; besonders bei jener Schwester, von der sie später sagte: »Ich kann mich nicht an ihre Sorge für mich erinnern, ohne zu weinen.« Als die Besitzer Bakhitas zurückkehrten, um sie wieder mitzunehmen, weigerte sich das Mädchen zum ersten Mal, ihnen zu folgen. Auf Intervention des damaligen Patriarchen von Venedig erklärte der Prokurator des König Bakhita am 29. November 1889 zur freien Bürgerin. Sie blieb daraufhin in Italien, ließ sich taufen und bat darum, Schwester zu werden. Sie lebte 78 Jahre lang, »in denen ich immer mehr die Güte Gottes mir gegenüber kennen gelernt habe.« Sie starb 1947, und wurde im Jahr 2000 heilig gesprochen.
Es gibt keine noch so extreme und dramatische Situation, die nicht von Gott erreicht und umgewandelt werden kann. Auch heute, in Zeiten andersartiger Sklavereien. Unvergesslich ist das Zeugnis des an Aids erkrankten Andrea, der sich zwei Wochen vor seinem Tod in einem Brief an Don Giussani wandte: »Ich schreibe Ihnen nur, um Danke zu sagen; Danke dafür, dass Sie diesem meinem trockenen Leben einen Sinn gegeben haben.« Andrea erklärte seine Dankbarkeit folgendermaßen: »Ich bin ein Freund von Ziba... Als Ziba den Angelus vor mir aufsagte, fluchte ich ihm ins Gesicht, ich hasste ihn und sagte ihm, er sei ein Feigling. Da das Einzige, das er tun könne, sei, dieses lächerliche Gebet vor mir zu sprechen. Jetzt, wenn ich selbst stammelnd versuche, die Gebete mit ihm zu sprechen, verstehe ich, dass ich der Feigling war, und nicht einmal die Hand vor Augen sah, die sich mir als Wahrheit vorstellte. »Danke, Don Giussani«, ist die einzige Sache, die ein Mensch wie ich sagen kann. Danke, denn in meinen Tränen kann ich sagen, dass ein Sterben in dieser Art und Weise einen Sinn hat. Nicht, weil es schöner ist, denn ich habe eine große Angst vor dem Sterben, sondern weil ich nun weiß, dass mich jemand liebt. Und vielleicht schaffe auch ich es und kann beten, damit meine Zimmergenossen das sehen, was ich gesehen habe und dem begegnen, dem ich begegnet bin. So fühle ich mich nützlich ... mit der einzigen Sache, die ich noch gut zu benutzen weiß, nämlich meiner Stimme. Ich, der ich das Leben weggeworfen habe, kann Gutes tun, nur indem ich den Angelus bete. Ich denke, dass es meine größte Erfüllung ist, Sie kennen gelernt zu haben und Ihnen diesen Brief zu schreiben. Aber eine noch größere Erfüllung ist es, dass ich Sie in der Barmherzigkeit Gottes, wenn ER es möchte, kennen lernen werde. Dort, wo alles neu, gut und wahr sein wird. Neu, gut und wahr wie die Freundschaft, die Sie in das Leben vieler Personen gebracht haben und von dem ich sagen kann \\'auch ich war da\\', auch ich habe in diesem schmutzigen Leben dieses neue, gute und wahre Ereignis gesehen und daran teilgenommen.«
Eine Geschichte unserer Tage also. Genauso wie die Berichte auf jenem außergewöhnlichen Meeting 2008, die Paolo Brizzi und Alberto Savorana in dem Band Ein Abenteuer für mich gesammelt haben und die den Geschichten von vor zweitausend Jahren so ähnlich sind. Denn so geschah es auch im vierten Jahrhundert des Augustinus. Er war einer der klügsten Intellektuellen Roms. Im Jahre 384 ging er dann nach Mailand, um zu unterrichten. Es fehlte ihm an nichts, weder am akademischen Erfolg, noch an materiellen Gütern, weder an der Liebe der Frauen, noch an der Genugtuung der Vaterschaft, weder an Ablenkungen noch an der Freundschaft mit den mächtigen Politikern der Stadt.
Und dennoch umgab ihn eine unerklärliche Mühe, zu leben: »Ich war unglücklich.« Er spricht von einer tiefen Öde, von einer »Todesangst«. Aber ein Treffen mit Ambrosius, dem Bischof der Stadt, der nur wenige Jahre älter ist als Augustinus, beeindruckt ihn sehr: »Die Milde seines Redens war mir sehr angenehm.« Er nimmt ihn für sich ein, fasziniert ihn und verringert auch seinen intellektuellen Hochmut: »Sicher ist immer die Demut der Vernunft nötig, um ihn annehmen zu können; die Demut des Menschen ist ebenso nötig, um auf die Demut Gottes zu antworten.«
Sein Leben ändert sich. Schon längst hatten die Gier nach Ehre und Verdienst keine Macht mehr über ihn ... im Vergleich zu Deiner Milde und dem Glanz Deines Hauses, das ich liebte. »Aber«, so beichtet er, »ich war noch von den Frauen gefangen, meine damaligen Geliebten beherrschten mich.« Und noch einmal sind es unvorhergesehene Treffen, die der Anziehungskraft eines größeren Glücks überlegen sind. Dies passiert, als Ponticiano ihm erzählt, dass in Treviri zwei seiner Freunde ihre Bräute verlassen hätten, um in eine jungfräuliche Gemeinschaft einzutreten ( die ersten klösterlichen Erfahrungen), und dass die zwei Mädchen dasselbe getan hätten. Eine neue Lebensform, die viele junge Christen auch in Mailand ansteckte, wo sie von Ambrosius selbst begleitet wurden. Augustinus trifft diese Leute und ist begeistert und angesteckt von ihnen. Später wird er beichten: »Spät habe ich Dich geliebt, Du Schönheit, so alt und doch so neu, spät habe ich Dich geliebt. Und siehe, Du wartest im Innern und ich war draußen und suchte Dich dort. Und ich, missgestaltet, verlor mich leidenschaftlich in die schönen Gestalten, welche Du geschaffen. Mit mir warst Du und ich war nicht mit Dir. Die Außenwelt hielt mich lange von Dir fern, und wenn diese nicht in Dir gewesen wäre, so wäre sie überhaupt nicht gewesen. Du riefst und schriest und brachst meine Taubheit. Du schillertest, glänztest und schlugst meine Blindheit in die Flucht. Du wehtest und ich schöpfte Atem und atme zu Dir auf. Ich kostete Dich und hungre und dürste. Du berührtest mich und ich entbrannte in Deinem Frieden.«
Im Abstand von vielen Jahrhunderten findet man denselben Durst nach Glück und dasselbe, gerührte Staunen im Leben eines piemontesischen Mädchens. Don Primo Soldi hat ihre Geschichte aufgeschrieben. Ich möchte nur zwei Dinge aus seinem Werk herausgreifen. Vor der »Begegnung mit Christus« schreibt die erst 15- Jährige mit beeindruckender Intelligenz und Tiefe in ihr Tagebuch unter der Überschrift Mitteilungen an die Familie : »Herr, ich teile Ihnen mit, dass Ihre Tochter alleine ist. Herr, ich teile Ihnen mit, dass Ihre Tochter nicht glücklich ist. Herr, ich teile Ihnen mit, dass Ihre Tochter lieben möchte und es nicht schafft.«
Und eines Tages geschieht etwas. Es beginnt mit der einfachen Einladung von Freundinnen, die den Weg der Gemeinschaft von CL anfangen, zum Gebet der Laudes. Ein Wunder passiert. Cilla notiert: »Das erste Mal bete ich so ... Ich glaube, ich hatte bisher eine der wichtigsten Dinge meines Lebens verloren.« Im Verlauf weniger Wochen und mit der Entdeckung eines neuen Lebens und einer wahren Freundschaft folgt dann die unvorhergesehene Blüte. In ihrem Tagebuch liest man: »Zuerst existierte ich nicht. Ich bin geboren in dem Moment, in dem ich verstanden habe, was die Gemeinschaft ist: das Mittel, das mir Christus gebracht hat.«
In jeder Epoche lässt Christus sich innerhalb »eines Phänomens einer andersartigen Menschlichkeit finden: ein Mensch stößt darauf und wird überrascht von der Vorahnung eines neuen Lebens.«
Augustinus sagt: »Gott ist Mensch geworden. Du wärst für immer gestorben, wenn Er nicht in der Zeit geboren worden wäre. Nie wärst Du befreit worden von der Sünde des Fleisches, wenn ER nicht Fleisch angenommen hätte ähnlich dem der Sünde. Du würdest Dich immer in einem Zustand der Schwäche befinden, wenn er sich Dir gegenüber nicht erbarmend gezeigt hätte. Du wärst nicht zum Leben zurückgekehrt, wenn Er nicht Deinen Tod geteilt hätte. Du wärst ohnmächtig geworden, wenn er Dir nicht zu Hilfe gekommen wäre. Du hättest Dich verloren, wenn er nicht gekommen wäre.«