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Die 68er und die Kirche
Als der Ungehorsam zur Tugend wurde
Pigi Colognesi

Benedikt XVI. bewertete die 68er als große Zäsur der westlichen Kultur. Auch die Kirche wurde davon erfasst. Im Namen der Erneuerung wurden in den Jahren nach dem Konzil Autorität und Tradition in Frage gestellt. Dies wirkt bis heute nach.

Wir kommen auf unsere Überlegungen zum Jahr \\'68 zurück (Spuren Nr.11, 2007, S.12-17) Nach Überzeugung von Papst Benedikt XVI. stellt es eine wesentliche «Zäsur» in unserer jüngsten Geschichte dar. Diese Überlegungen sollen aber nicht der bloßen Erinnerung dienen. Es geht weder um Nostalgie noch um die Feier von Jahrestagen. Im Gegenteil, es geht darum, die Gegenwart zu verstehen und darum wie stark wir heute von dem beeinflusst werden, was sich vor vierzig Jahren schlagartig durchsetzte.
Versteht man unter den Ereignissen von 1968 einen allgemeinen Umsturz der vorhergehenden Ordnung, ein umfassendes «in Bewegung»-setzen einer bis dahin stabilen oder gar statischen Situation, dann stellt sich die Frage, ob auch die katholische Kirche auch ihr «68» erlebt hat? Die Antwort ist zweifellos ein Ja.
Es lohnt aber zwei gleichzeitige, oft miteinander verflochtene, aber durchaus nicht deckungsgleiche Phänomene zu unterscheiden. Zunächst muss man von der Erneuerung sprechen, deren Anstoß auf das im Dezember 1965 abgeschlossene Zweite Vatikanische Konzil zurückzuführen ist. Die Kirche, die ganze Amtskirche und ihre Führungsspitzen, hatte auf dem Höhepunkt ihres Ansehens – gerade war das ökumenische Konzil um den Bischof von Rom versammelt – die Notwendigkeit eines Wandels, einer Vertiefung voll begriffen. Das damals am häufigsten gebrauchte Wort war «Aggiornamento»; später war es vielen Missverständnissen ausgesetzt. Die Kirche sah sich einer stürmischen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung gegenüber, die man kurz als die Durchsetzung der Wohlstandsgesellschaft, der Verschulung der Massen und der allgemeinen Säkularisierung beschrieben könnte. So sah sich die Kirche vor die dringende Aufgabe gestellt, die Formen ihrer Verkündigung zu überprüfen und zu sehr an die Vergangenheit gebundene Ausdrucks- und Organisationsformen zu überwinden. Vor allem junge Menschen empfanden diese Notwendigkeit, wie Paul VI. am 15. September 1968 während einer berühmt gewordenen Generalaudienz festgestellte: «Ist vielleicht nicht wahr, dass die Jugend heute begeistert ist von Wahrheit, Aufrichtigkeit, von \\"Authentizität\\" - wie man heute sagt. Ist ihre Unruhe nicht vielleicht ein Aufstand gegen die herkömmlichen Heucheleien, die häufig ein Kennzeichen der Gesellschaft von gestern gewesen sind?». «Authentizität»: Vielleicht ist genau dieses Wort der Schlüssel zum Verständnis des Wunsches nach positiven Veränderungen, der viele in jenen Jahren beseelte, sei es in Gesellschaft und Kultur, sei es in der Kirche, die uns hier interessiert. War nicht das Entstehen neuer und neuartiger Zusammenschlüsse wie «Gioventù studentesca» (aus dem später CL hervorgehen sollte) ein Beweis für den Wunsch das Christentum authentischer zu leben, also in anderen Formen als in der Vergangenheit; etwa im Rahmen einer in einem bestimmten Umfeld gebildete Gemeinschaft statt in der üblichen Pfarrgemeinde mit ihren Strukturen? «Authentizität» bedeutete auch Wiedergewinnung der gemeinschaftlichen Dimension der kirchlichen Erfahrung, die zu oft bei der typisch individualistischen Ausbildung verkannt worden ist. «Authentizität» bedeutete auch mehr Teilnahme an einer verständlicheren Liturgie, die neue Rolle der Laien, die kulturelle Öffnung gegenüber den Herausforderungen der Moderne, erneuerte Bemühungen um Sichtbarkeit in der Welt. Die Verwirklichung all dieser Wünsche ist jedoch nicht immer auf den Gleisen einer geordneten Vertiefung, eines organischen Reifens verlaufen. Von verschiedenen Seiten begann man den Gedanken zu vertreten, um mit der Zeit zu gehen und wirkliche Veränderungen zu erreichen, müsse man entschlossen mit der Vergangenheit brechen. Und hier zeigt sich eine der schlimmen Erbschaften der 68er, nämlich die Gleichsetzung von Veränderung mit Bruch, und damit eben eine «Zäsur».

Erste Zielscheibe war bei dieser explosiven Einstellung jene Stelle, die für die Weitergabe der Vergangenheit zuständige war: die Autorität. Damit sind wir beim zweiten Phänomen, das nichts mit Erneuerung zu tun hatte, sondern nur mit Protest. Es ist hier nicht möglich eine auch nur oberflächliche Beschreibung dieses Phänomens zu geben. Aber man kann versuchen, einige wesentlichen Merkmale zu erfassen. Das aufsehenerregendste Phänomen war der um sich greifende Ungehorsam gegenüber der Autorität. Die Protestler gebrauchten den berühmten Ausspruch Don Milanis «Gehorsam ist keine Tugend mehr». So unterbrachen junge Leute die Fastenpredigt in der Kathedrale von Trient und besetzten die Kathedrale von Parma. In Florenz verweigert ein Pfarrer seinem Bischof öffentlich den Gehorsam und Theologen unterzeichneten Stellungnahmen die im Widerspruch zum Papst standen. Eine kirchliche Protestversammlung der Katholischen Universität von Mailand störte die von einem Kardinal vorgenommene feierliche Eröffnung einer Tagung. Hinzu kam die endlose Flut von Zeitungen, Dokumenten, offnen Briefen, die von den verschiedensten \\"Basisgemeinden\\" herausgegeben und verteilt wurden. Was sie einte, war die radikale Distanzierung von der kirchlichen Autorität. Es schien als wäre gerade die Ablehnung der Autorität ein Beweis für Authentizität. Paul VI. ging wiederholt gegen dieses Phänomen vor. Erst kürzlich wurde eine noch unveröffentlichte Notiz gefunden, die seine ständige Sorge bestätigt. Scharfsinnig beurteilte der Papst das Verhalten der \\"unruhigen\\" Katholiken folgendermaßen: «Forscht man in der Psychologie dieser Protestler was eine erträgliche Weise der Ausübung [der Autorität] wäre, dann scheint es zwei zu geben: 1) Die Autorität soll schweigen; 2) Sie soll den Protestierenden zustimmen.»
Gegen die Autorität protestieren heißt notwendigerweise auch das in Frage zu stellen, dessen Hüter sie ist: Der seit zwei Jahrtausenden kirchlichen Lebens überlieferte Inhalt des Glaubens. Paul VI. wusste was auf dem Spiel stand. Deshalb verkündete er feierlich das Kredo des Gottesvolkes, und zwar kurz vor dem Fest, das seine Autorität als universaler Hirte feiert: am 30. Juni 1968. Er wollte so den festen Fels des christlichen Glaubens aufrichten. Natürlich hielten die Protestler diesen Akt des obersten Lehramts für die reine, autoritäre Geste eines rückständigen Traditionalismus.
Damit sind wir bei der zweiten Zielscheibe der Polemik einer Erneuerungsbewegung, die im Protest endete: die Tradition. Dies widerspricht einer dynamischen Beziehung zur Tradition, wie sie Don Giussani in Das Wagnis der Erziehung beschreibt. Giussani spricht dort von der Tradition als einem Rucksack, den die Autorität dem Jugendlichen gefüllt und über die Schultern gelegt hat. Der Jugendliche stellt ihn vor sich hin und stöbert darin, um zu überprüfen, ob der Inhalt seinen eigenen elementaren Bedürfnissen entspricht. Doch nun forderte man einfach, den gesamten Rucksack wegzuwerfen, weil sein Inhalt völlig ungeeignet sei, die Gegenwart zu bewältigen. Der Katechismus galt als verstaubtes Erbe, die Autorität der Bischöfe oder des Papstes als eine unannehmbare Knechtschaft in Zeiten allgemeiner Demokratie. Man stellte mit der Liturgie waghalsige Versuche an (und auch hier ist das Erbe von \\'68 noch gut sichtbar). Das Gemeindeleben wurde nach demokratischem Vorbild ungestaltet. Während das Wort \\"Tradition\\" jahrhundertelang für eine wertvolle Hinterlassenschaft aus Weisheit und tausendjähriger Schönheit gestanden hatte, war es in jenen Jahren Synonym für verstaubte Rückständigkeit.
Gewiss hatten in der Kirche viele geglaubt, die Tradition sei etwas Unveränderliches, sogar in ihren Formen. So haben sie schließlich, um es mit Péguy zu sagen, vergeblich versucht etwas Lebendiges in «ranzigem Öl» aufzubewahren. Dagegen, sagte der große Dichter, ist die Tradition gerade ein Erbe das Herz und Verstand lebendig überliefert wird, die dann aufgerufen sind, es lebendig aufzunehmen und lebendig weiterzugeben. Die vom Dichter getadelte Haltung gegenüber der Tradition ist Traditionalismus. Man findet ihn bei denen, die einem starren Weltbild verhaftet sind und nicht einmal ein Detail des Überlieferten ändern wollen. Oder er findet sich in der weicheren Version derer, die sich gegen den Wunsch nach Authentizität, der auch seine Berechtigung hat, wappnen und nur abwarten, dass die Geschichte der Kirche darüber hinweggeht, wie sie schon andere Prüfungen überstanden hat.
Die Protestler betrachteten die Tradition hingegen als komplett veraltet, überholt und unnütz. Paul VI. sagte dazu in der oben erwähnten Generlaudienz: «Das Band des Gehorsams, der gemeinsamen Norm, der Abhängigkeit in Familie, Gesellschaft, und Tradition ist gelockert bis zu einem Punkt, wo es nicht mehr existiert.» Papst Benedikt XVI. formulierte bei einer Unterhaltung mit Priestern der Diözese Belluno-Feltre und Treviso zu diesen Themen am 25. Juli 2007 die Absicht der Gegner der Tradition perfekt: «Wir müssen wieder bei Null auf eine absolut neue Weise anfangen». «Bei Null anfangen», als wäre die Tradition nur eine Last; etwas «absolut Neues» tun, als hätten zweitausend Jahre nichts Gutes hervorgebracht. Die Interpretation und Anwendung des Konzils selbst war eine Gratwanderung zwischen «Erneuerung in der Tradition» und «Wende gegen die Tradition». Indem sie sich auf einen nicht näher (vielmehr von ihnen selbst) identifizierten «Geist» des Konzils beriefen, haben die Protestler es interpretiert und interpretieren es immer noch als einen unheilbaren Bruch mit der Vergangenheit. Dabei halten sie die Zurückweisung der Autorität gegenüber allem was in ihren Augen in die Richtung des «Aggiornamento» geht (Priestertum der Frauen, Demokratie in der Kirche, Priesterehe, Revision der Sexualmoral, und so weiter) für Verrat am Konzil selbst, für «Restauration».
Benedikt XVI. fuhr fort: Vielen die wieder «bei Null beginnen wollten» schien «der Marxismus das wissenschaftliche Rezept zu sein, um endlich die neue Welt zu schaffen». Sie gingen so weit «diese neue marxistische Kulturrevolution mit dem Willen des Konzils zu identifizieren». Das führte zur Entstehung von Gruppen wie Christen für den Sozialismus.
Aber das Problem ist subtiler und besteht als Methode weiterhin, auch jetzt, da der Marxismus als Ideologie seine Anziehungskraft zum großen Teil verloren hat. Das ist eine weitere Erbschaft jener Jahre. Sie bezieht sich auf das Problem der Beziehung zwischen Kirche und Welt. Benedikt XVI. hat die Ansichten der «\\'68er» zusammengefasst im Begriff eines «Triumphalismus des Denkens: wir selbst machen jetzt die Dinge, wir haben den Weg gefunden, und auf ihm finden wir die neue Welt.» Hat man einmal auf die Tradition verzichtet und die Autorität radikal in Frage gestellt, dann besteht der Weg in der eigenen Gesellschaftsanalyse und in den für ein Eingreifen am besten gehaltenen Instrumenten. Das Heil der Welt ist nicht mehr das Dasein der Kirche selbst als Beginn der heilen Welt (die Gemeinschaft ist die Befreiung), sondern das eigene Handeln. So schafft man den großen Dualismus zwischen dem Glauben, der dann nur noch ein Heil in der Zukunft betrifft (Eschatologie) und dem täglichen Leben, das, vor allem was seinen politischen Aspekt angeht, Motive und Methoden von etwas anderem bezieht; nach dem Motto: Wenn es Gott gibt, dann hat er nichts damit zu tun. Benedikt XVI. nennt das die «große Kulturkrise des Westens».
Eine Krise, und das ist die letzte Hinterlassenschaft der «\\'68er» die wir in Betracht ziehen wollen, die zutiefst die Selbstwahrnehmung der Person berührt. Paul VI. schrieb in seinen Notizen: «Der Mensch fühlt sich als Sklave seiner Instrumente, weil sie ihn zwingen, bei seiner Tätigkeit auf eine Reihe für ihn äußerlicher Beziehungen äußerste Rücksicht zu nehmen. Diese Instrumente sind oft eintönig und werden gerade durch die Einfachheit der Produktion unpersönlich. Daraus ergibt sich die schreckliche Versuchung einer Suche nach Personalismus in einer total unlogischen und zügellosen Freiheit, in der Anarchie, wo man sich dem Vergnügen des leidenschaftlichen und verantwortungslosen Instinkts überlässt». Da ist sie: die Freiheit als Anarchie, also ohne jede Bindung; vor allem ohne die für die Tradition grundlegende Bindung an den Vater als Autorität. Sie führt zur Vorherrschaft des Instinktes. Hier versteht man also – und einige Beobachter, auch Laien, beginnen sich dessen bewusst zu werden – wie prophetisch die am meisten angegriffene und verhasste Enzyklika Pauls VI., die Humanae Vitae war, die er genau im Sommer des schicksalhaften Jahres 1968 veröffentlichte. Sie hat, weit über die Frage der Pille hinaus, das Problem einer anthropologischen Mutation aufgezeigt, das an einem der delikatesten menschlichen Phänomene sichtbar wird, den Liebesbeziehungen, auch an ihrem sexuellen Ausdruck. Im Grunde hatte die Autorität der Kirche ein weiteres Mal vor einer schweren Gefahr gewarnt: Der Mensch zerstört sich, wenn er sich für sebstbesimmt hält. Gerade da, wo er unbeschränkte Freiheit fordert, versagt er sich die Möglichkeit, wirklich frei zu sein. Der heilige Ambrosius würde sagen: «Wieviele Herren hat der, der den einzigen HERRN ablehnt».
Und das positive Erbe der 68er? Die Lebendigkeit der kirchlichen Erfahrung derer, die das Dringen auf Authentizität als Ermahnung verstanden haben, die Tradition im Gehorsam gegenüber der Autorität, auch unter Opfern, zu verifizieren: diese Lebendigkeit gibt die Antwort.