Logo Tracce


Aufmacher
Der lange Weg zur Reife
Luigi Giussani

Aufzeichnungen eines Vortrags von Luigi Giussani bei einer Versammlung von Verantwortlichen von Comunione e Liberazione, Mailand, 27. Februar 1972.

1. Was wir suchen
Heute geht es darum, dem Punkt in der Geschichte der Bewegung ins Auge zu sehen, an dem unsere Erfahrung den bislang härtesten Schlag erlitten hat: im Jahr 1968.
Wir sollten uns vielleicht in Erinnerung rufen, dass Gott im Leben derer, die Er berufen hat, nichts geschehen lässt, was nicht ihrer Reifung dient. Das gilt zunächst für das Leben einer Person, doch letztlich und auf noch tiefere Weise für das Leben der Kirche und somit analog für das Leben jeder Gemeinschaft, sei sie nun eine Familie oder eine kirchliche Gemeinschaft im weiteren Sinn. Gott lässt nie etwas geschehen, das nicht dazu dient, dass wir reifer werden. Die Wahrheit des Glaubens zeigt sich gerade in der Fähigkeit eines jeden von uns und jeder kirchlichen Gemeinschaft (Familie, Gemeinschaft, Pfarrei, Kirche im Allgemeinen), das als Weg der Reifung wertzuschätzen und zu einem Instrument und Moment der Reifung werden zu lassen, was zunächst als Einwand, Verfolgung oder jedenfalls als Schwierigkeit erscheint. Nicht umsonst sagt der Herr, als er vom Ende der Welt spricht – doch das Ende der Welt ist jede Wende in der Geschichte –, dass „das Böse viel Anziehungskraft gewinnen wird, dass viele Pseudo-Christen und Pseudo-Propheten auftreten werden und die Liebe bei vielen erkalten wird“.
Für die Wahrheit und die mehr oder weniger große Wahrhaftigkeit unseres Glaubens kann uns folgendes Unterscheidungskriterium dienen: Ob bei uns wirklich der Glaube an erster Stelle steht oder eine andere Art von Sorge; ob wir uns wirklich alles vom Faktum Christi erwarten, oder ob wir uns vom Faktum Christi das erwarten, was zu erwarten wir entschieden haben, und Ihn letztlich darauf reduzieren, Anregung und Stütze für unsere eigenen Projekte und Pläne zu sein.
Das Gesetz der geistlichen Entwicklung, dieses dynamische Gesetz für das Leben unseres Glaubens, von dem wir gesprochen haben, ist sowohl für die Einzelnen als auch für die Gemeinschaft von außerordentlicher Wichtigkeit. Es bewahrheitet sich stets, dass für den, der Gott versteht und ihn ersehnt, alles zum Guten beiträgt; und ebenso bewahrheitet sich stets, dass sich in den Schwierigkeiten zeigt, ob du Gott ersehnst oder nicht. Dies ist das ewige Dilemma, das am Anfang jeder menschlichen Äußerung und Handlung steht; es ist die Alternative, die eine mögliche Zweideutigkeit an der Wurzel jeder menschlichen Handlung zum Vorschein bringt.
Für einen unklaren Geist stellt die Welt eine große Zweideutigkeit dar. Der menschliche Geist hat vor allem anderen die Versuchung der Zweideutigkeit. Nicht umsonst sprach Christus in Gleichnissen, „denn sie sollen sehen und doch nicht sehen, hören und doch nicht verstehen.“ Und die ganze Welt ist wie ein einziges Gleichnis: Sie zeigt Gott, so wie ein Gleichnis den Wert zeigt, an den es erinnern will, und „wer Ohren hat zum Hören, der höre!“ Dem Gleichnis gegenüber kommen die verborgenen Gedanken des Herzens zum Vorschein. Angesichts der Frage, des Problems, der Schwierigkeit kommt zum Vorschein, was der Mensch liebt.
Doch dieses Gesetz für das Verhältnis zwischen dem Geschöpf und seinem Schöpfer (nur wenn die angesprochene Zweideutigkeit ausgelöscht wird, wird die Existenz Gottes wahrgenommen und bekräftigt) gilt für jede Art einer wahrhaftigen religiösen Erfahrung. Es gilt daher auch für das christliche Leben und das Leben der Kirche: Einem Hindernis gegenüber kommt zum Vorschein, was du wirklich willst. Ob du Christus oder dich selbst im Sinn hattest, als du in der Gemeinschaft gelebt und von morgens bis abends für die Gemeinschaft gearbeitet hast, das sieht man in dem Moment, in dem eine Schwierigkeit, ein Einwand aufkommt und dir suggerieren möchte: „Lass es bleiben“, oder: „Was sie mir bis jetzt gesagt haben, war eine Lüge!“, oder: „Niemand versteht mich, niemand mag mich.“ Um es mit einem Vergleich des heiligen Paulus zu sagen: Ob die Haltung unseres Geistes Gold oder nur „Spreu“ ist, sieht man nur angesichts eines Einwands und einer Prüfung.
Diese geistliche Regel, dieses Sieb, mit dem sich unsere geistliche Haltung präzise und unmissverständlich prüfen lässt, wollte ich in Erinnerung rufen, bevor wir zu dem eigentlichen heutigen Thema kommen. Im Übrigen wird uns hier eine weitere Nachahmung Christi auferlegt, denn dass Christus wahrhaft der Sohn des Vaters ist, hat man durch Seine Agonie und Seinen Tod gesehen: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ , oder „consummatum est“ , ich war gehorsam bis zum Tod. Ob wir Christus oder nur uns selbst im Sinn haben, wenn wir unsere Zeit und Energie, unser Herz und unsere Sorge ganz für die Bewegung hingeben, das zeigt sich in den Zeiten der Prüfung. Hierauf bestehe ich deshalb so sehr, weil genau dies der Punkt ist, den wir uns immer vor Augen halten müssen, von den einfachsten Sekretariats- und „Handlangerdiensten“ bis hin zu den höchsten Aufgaben. Wenn wir uns das nicht vor Augen halten, so gelingt es uns nicht, auch nur ein bisschen zerknirscht zu sein (denn unsere Zerknirschung kann nur auf dieser Ebene geschehen), und außerdem werden wir beim Auftreten einer Schwierigkeit selbst entscheiden, ob diese Schwierigkeit ausreicht um wegzugehen, oder nicht, und wir folglich dabei bleiben. Versteht ihr? Das letzte Kriterium für die Entscheidung, ob unser Tun richtig ist oder nicht, geben wir nicht aus der Hand!
Ob wir Christus im Sinn haben oder nur unsere Eigenliebe und Selbstbehauptung, sieht man genau im Moment der Prüfung und der Schwierigkeit: Wenn das, was wir tun, nicht mehr nach unserem Geschmack ist. Es ist der Augenblick, in dem die weltliche Faszination und somit die teuflische Lüge in ihrer anziehenden Verkleidung vor unsere Augen tritt und eine Alternative suggeriert: „Es wäre besser, etwas anderes zu machen; etwas anderes wäre richtig.“ Und wie das Lied von Claudio Chieffo über Judas sagt, meinen wir dann, von dem betrogen worden zu sein, wofür wir uns aufgeopfert haben; während wir uns in Wirklichkeit gar nicht hierfür, sondern für uns selbst aufgeopfert haben, für unsere Eigenliebe. Jedenfalls wollte ich diese Anmerkung machen, die allein in der Lage ist, ein derartiges Licht auf das Geschehene zu werfen, dass wir es genau zu sehen und zu verstehen vermögen.

2. Die Faktoren dessen, was geschehen ist

Was ich jetzt sagen werde, ist nur beispielhaft und als Vorschlag gedacht. Es ist eine Analyse, die auch durch eure Beiträge ergänzt und bereichert werden könnte. Ich werde insbesondere ausführen – ausgehend von dem Zettel, den ihr erhalten habt –, was die beeindruckendsten und klarsten Faktoren sind, die einem jetzt nach Jahren in die Augen springen, wenn man sich an das Geschehene erinnert, insbesondere mit Blick auf das, was sich daraus entwickelt hat.

a) Das Entstehen der Protestbewegung unter den Studenten hat uns besonders wegen des grundlegenden Drängens nach einem im allgemeinen Sinne wahrhaftigen Ansatz beeindruckt, den es anmahnte. In erster Linie beeindruckte uns dieser grundlegende Drang nach einer größeren Wahrhaftigkeit des Lebens, des öffentlichen Lebens wohlgemerkt. Dies möchte ich nachdrücklich unterstreichen: des öffentlichen, gesellschaftlichen Lebens. Eine solche Feststellung konnte man nur formulieren, insofern es eine Unruhe war, die zu einer derartigen Anklage und einem derartigen Bedürfnis drängte. Und die menschliche Unruhe wird stets von einem Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit hervorgerufen. Das Unbehagen und die Unausgeglichenheit werden stets von einer Lüge hervorgebracht, die sich auf irgendeine Weise in die Lebenshaltung eingenistet hat. Dieses Drängen nach Wahrhaftigkeit des gesellschaftlichen Lebens und der Formen des gesellschaftlichen Lebens konnte von einer Unruhe hervorgerufen werden, die auch die Suche nach einer Wahrhaftigkeit für die Person, nach einer persönlichen Wahrhaftigkeit einbezog.
Ich glaube, dass der Einsatz für eine globale Umgestaltung der Gesellschaft – für ein wahrhaftigeres, menschlicheres Antlitz der Gesellschaft – nicht vergessen werden darf: wir müssen dies stets vor Augen behalten als die Herausforderung, die Gott gerade durch die Welt an unsere Trägheit und unsere Bequemlichkeit stellt. In der Geschichte der Kirche war dies immer so: gerade der weltliche Einsatz – der eine Notwendigkeit oder einen Aspekt des Lebens unterstreicht, wenn auch einseitig und partiell – ruft innerhalb des wahrhaftigen christlichen Volkes eine Krise und einen Wiedergewinn des Bewusstseins hervor. Gott bedient sich aller Geschehnisse. Erinnert euch an die Prämisse von vorhin: Alles was geschieht, lässt Gott nur zu, damit die, die er erwählt hat, reifer werden. Und diese Wahrhaftigkeit können wir an einem bestimmten Punkt unseres Weges, an den Rändern der Straße, in denen finden, denen nicht die Gnade zuteil wurde, die uns zuteil geworden ist. Dies ist die Art und Weise, mit der Gott uns und unsere Eigenliebe bestraft. Doch Gott züchtigt die, die er liebt, um sie zur Reinheit zu führen – sagt die Schrift: „Wen ich liebe, den weise ich zurecht und nehme ihn in Zucht.“

b) Kommen wir nun zum zweiten Faktor, der sich – wenn wir uns an das zurück erinnern, was passiert ist – deutlich zeigt und der beispielhaft ist. Um zu dieser Veränderung der Gesellschaft zu gelangen oder um eine Wahrhaftigkeit gegenüber dem zu behaupten, was zweideutig ist, gegenüber der Lüge, der Maske, mit der man lebte, wurde grundsätzlich Folgendes gefordert: Es müsse einen Umsturz der Vergangenheit geben, man müsse der Vergangenheit gegenüber feindlich gesinnt sein, es sei notwendig, die Vergangenheit zu leugnen oder – was aber letzten Endes dasselbe ist – man müsse sie vergessen und dürfe sich nicht für sie interessieren. Die Vergangenheit zu vergessen bedeutet immer eine Feindschaft gegenüber der Vergangenheit, denn die Vergangenheit an sich lässt nicht locker, sie setzt sich durch: Die Vergangenheit wäre bedeutungslos, wenn sie sich nicht in der Gegenwart durchsetzte. Jemand, der in der Gegenwart lebt, kann von der Vergangenheit überhaupt nur sprechen, insoweit sie sich durchsetzt, bei uns anklopft, weil unsere Wurzeln in der Vergangenheit liegen (vergisst man seine eigene Mutter, dann kommt das potentiell einer Feindschaft ihr gegenüber gleich).
Das heißt nicht, dass Vergangenes nicht neu zum Ausdruck gebracht werden muss; aber der ausschlaggebende Faktor für uns – wenn wir das Grundlegende dessen betrachten, was passiert ist, und dabei besonders darauf schauen, was sich im Innern der Person verändert hat – ist die Leugnung der Vergangenheit, eine Feindschaft ihr gegenüber. Die Idee vom Umsturz, von der Revolution als Umsturz, der weltliche Revolutionsbegriff muss notwendigerweise bedeuten, dass der Vergangenheit der Krieg erklärt wird.
Es ist klar, dass an der Wurzel einer solchen Haltung, einer solchen Einstellung eine grundlegende Naivität steht: die Naivität Adams, der glaubte, dass er auf erschöpfende Weise zum Wissen um Gut und Böse gelangen könne, als er von der verbotenen Frucht aß. Nun, ich bin naiv, wenn ich von mir als „Maß aller Dinge“ ausgehe; man ist naiv, wenn man sagt: «Jetzt nehme ich die Dinge in die Hand und bringe sie in Ordnung.» Man ist naiv, wenn man
sich als Maß der Dinge betrachtet; es ist die Naivität der Eigenliebe. „Technisch“ gesprochen ist es eine Naivität. Moralisch gesehen ist es ein Verbrechen, eine Lüge, etwas Teuflisches, um noch einmal auf die erste Seite der Bibel Bezug zu nehmen.
Welch eine Traurigkeit haben wir da empfunden! Welch eine Traurigkeit kam da auf und hat sich mit den Jahren immer mehr verstärkt. Welch eine Traurigkeit haben wir angesichts dieses Wunsches nach einer solchen Veränderung der Gesellschaft sofort verspürt. Zumindest viele von uns, das heißt diejenigen, die nicht gleich mit diesen neuen Strömungen einverstanden waren, haben sie verspürt. Diese Vorstellung von einer veränderten Gesellschaft war für uns mit einem Fragezeichen verbunden; wir wurden von diesem Willen zur Veränderung und dem Druck, der damit einherging, überrascht, denn wir lebten eine Art von Erfahrung, die diese Probleme nicht kannte. Wir waren noch nicht reif für solche Probleme, wir waren noch auf einer Stufe, die diesen Problemen vorausging. Es war eine wesentliche Erfahrung. Aber sie war angesichts der Dringlichkeit, mit der sich uns diese kulturelle Strömung zeigte, noch unbeholfen, noch unwissend (der Same entfaltet sein ganzes Vermögen, wenn er auf etwas Anderes stößt, wenn er mit etwas zusammenstößt). Wir gingen die Frage noch recht schüchtern an, da gab es auch eine gewisse Neugierde und letzten Endes noch eine Zurückhaltung aus Respekt, so dass wir in Einzelfragen sehr genau unterschieden (weil die Notwendigkeit einer Veränderung ganz grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden konnte). Auf jeden Fall stellte das Ganze für uns eine große Frage dar, es war alles ziemlich undurchsichtig, dennoch hatten wir letzten Endes Respekt vor dem, was geschah. Aber die Traurigkeit kam unweigerlich über uns, als wir sahen, was für eine Art von Beziehung angesichts des Wunsches nach Wahrhaftigkeit zum Beispiel zwischen Jungen und Mädchen vorgeschlagen und gelebt wurde; sicherlich ist das einer der Punkte – auch für die Ethnologen, glaube ich –, die am deutlichsten über die Moralität einer Bevölkerungsgruppe oder einer Epoche Aufschluss geben. Es ist in der Tat ein sehr relevanter Punkt, will man die moralische Statur, die Würde oder die moralische Reife einer Person oder einer Situation in den Blick nehmen. Ich spreche jetzt natürlich von der inneren Einstellung, die jemand hat, dem grundsätzlichen Urteil über die Dinge. Von der Gesinnung her hatte die angestrebte Wahrhaftigkeit eine Zügellosigkeit zur Folge, sie brachte eine Vorstellung von „freier Liebe“ hervor, die in nichts den niedrigsten und verdorbensten Ausdrucksformen des Bürgertums nachsteht und auf jeden Fall Frucht einer Feindschaft gegenüber der Vergangenheit ist, Widerstand gegen die Vergangenheit, ein „jetzt komme ich“; und damit wurde das, was der Einzelne fühlte, der Einzelne wahrnahm, als ursprünglich angesehen, als ursprüngliche Reinheit, als das „goldene Zeitalter der Menschheit“!


3. Die Verwirrung
Das waren, so meine ich, die beiden Faktoren, die uns in der Situation von damals am meisten ins Auge fielen. Wie kam all das bei der Bewegung in ihren Vorläufern Gioventù Studentesca („Schülerjugend“) und Gioventù Lavoratrice („Arbeiterjugend“) an?
Es herrschte eine Verwirrung, wie ich schon vorher sagte, eine Verwirrung, die typisch für jemanden ist, der selber seinen Weg geht und eine grundlegende Erfahrung lebt und dann von Ereignissen überrascht wird, die eine Lesart, eine Übersetzung, eine Interpretation und eine Entscheidung auf einer Ebene provozieren, zu der die eigene Erfahrung noch nicht vorgedrungen ist, an deren Punkt man auf dem eigenen Weg noch nicht gelangt ist. Es ist so, als würde man in einer Stadt, die belagert wird, alles für einen Krieg vorbereiten, Verteidigungsstrategien überlegen, Verteidigungswälle errichten und so weiter, und der Feind würde drei Tage früher als erwartet angreifen. Es ist ganz und gar ausgeschlossen, dass die Stadt bei dieser Gelegenheit nicht in Panik ausbrechen würde – außer es herrschen dort klare, ausgereifte Ideen oder es gibt gute Anführer.
Es herrschte Verwirrung: Dieses Wort kann das, was passiert ist, wohlwollend beschreiben. Es herrschte eine allgemeine Verwirrung. Diese Verwirrung betraf nicht nur einzelne von uns, sondern war bei allen zu beobachten. Ich möchte bei diesem Begriff bleiben, weil er das, was passiert ist, aus einem wohlwollenden Blickwinkel heraus betrachtet.
Einerseits wurde diese Verwirrung von vielen energisch überwunden. Und zwar dadurch, dass man sich von der berechtigten Kritik einnehmen und begeistern ließ. Andererseits hielt die Verwirrung weiter an. Was verhärtete die Verwirrung noch weiter? Es war die Art und Weise, wie man die Modalität, den Akzent, die falsche Methode wahrnahm, mit der das Ereignis beanspruchte, die Dinge zu ändern. Was heißt aber falsche Methode? Vielleicht ist es zu früh, das so zu sagen, sprechen wir also von einer nicht angemessenen Methode, die dem widerspricht, zu dem man [in der Bewegung, A.d.Ü.] erzogen worden war, einer Methode, einer Akzentsetzung, die nicht der eigenen Geschichte entsprach.
Im ersten Fall wird die Verwirrung plötzlich und kraftvoll durch einen Willen zum Handeln, zur „Fleischwerdung“ (im profanen Sinne des Wortes) überwunden (für einen Christen ist es aber ein Sakrileg, die Welt nicht gemäß dem Geheimnis Christi zu gebrauchen). Die Verwirrung wird dann plötzlich durch den Willen zum Handeln überwunden. Dieser wird durch die Positivität wachgerufen, die dem Phänomen innewohnt, also durch den erklärten Willen zur Wahrhaftigkeit, durch die Anklage der Unwahrhaftigkeit und so weiter.
Man kann sich jedoch nicht plötzlich von der ganzen Geschichte, der man vorher vorbehaltlos und in aller Freiheit folgte – was auch immer darüber gesagt wird jetzt oder in Zukunft –, loslösen; von einer Geschichte, der man mit ganzem Herzen, voller Begeisterung folgte. Man kann sich davon nicht plötzlich trennen. Um sich selbst nicht demütigen zu müssen und sich nicht dem Schock auszusetzen, dass man nun Werte verriet, die man zuvor anerkannt hatte, vollzog man den Schritt von einer Mentalität zur anderen, indem man den Diskurs und die Art von Erfahrung, an der man vorher teilgehabt hatte, bagatellisierte und abstrahierte: «Durch Bagatellisierung der sozialgeschichtlichen Tragweite des christlichen Ereignisses», wie es im Flugblatt heißt, das zu unserem Treffen verteilt wurde. Die Geschichtlichkeit des christlichen Ereignisses wurde verkürzt und und ihres Nutzens beraubt. Bei dieser Hinwendung zu einem anderen Diskurs versuchte man den früheren „beizubehalten“, um nicht dem Schock zu erliegen, dass man die Werte verriet; man versuchte das, was man vorher gelebt hatte, dahingehend zu interpretieren, dass man die geschichtliche Tragweite bagatellisierte, dass man diese „verschwinden“ ließ und behauptete, das Christentum habe keine geschichtliche Wirkung. Man interpretierte es rein eschatologisch, und so hatte es mit der Welt und dem Leben nichts mehr zu tun.
Vielleicht trifft der Begriff ‚Bagatellisierung‘, der im Flugblatt verwendet wird, das Ganze am besten: eine Bagatellisierung der Wucht der Präsenz, eine Bagatellisierung des Gewichts, das das christliche Ereignis hat. Es war der Versuch, das christliche Ereignis auf Liturgie und Sakramente zu verkürzen, die sicher die Wurzel und die Mitte im ganzen Leben der christlichen Gemeinschaft sind (ihr Ursprung sind der Tod und die Auferstehung Christi, sie sind die Vorwegnahme seiner Wiederkunft: und das Übernatürliche erkennen wir als den Grund unseres ganzen Lebens an!). Aber gerade weil die Sakramente die Quelle des christlichen Lebens sind, die Quelle der erneuerten Welt, die Quelle des neuen Menschen, haben diese Gesten eine Gestalt, die für den normalen Menschen und seine Wahrnehmung der Dinge am seltsamsten und am fremdesten sind. Die Sakramente wurden in Folge dessen gemäß ihrem Wesen als eschatologischer Aufruf, als eschatologische Vorbereitung verstanden und gelebt. Aber die Vorbereitung und dieser Aufruf waren ihres gegenwärtigen Inhalts völlig entleert.
Diese Bagatellisierung der Art und Weise, das christliche Ereignis zu verstehen, führt unweigerlich zu einem letzten Dualismus mit Blick auf die Präsenz in der Welt. Sie führt zu einem Dualismus der Art, dass man an etwas Übernatürliches glaubt – was der erklärende und im Letzten heilbringende Faktor dabei ist –, das jeden Moment über die Gegenwart hereinbrechen kann, ohne dass es aber eine Auswirkung auf die Gegenwart hätte, ohne dass es ein Urteil über die geschichtliche Gegenwart abgeben könnte oder zu einer Veränderung der geschichtlichen Gegenwart führen würde. Es wäre keine Hilfe in der Gegenwart, außer in einem rein moralistischen Sinn, insofern es zur Tat inspiriert: «Du musst dich einbringen.» Das bleibt eine vage Inspiration zur Tat, ein moralistischer Aufruf im weitesten Sinn des Wortes: «Du musst dich für die Welt einsetzen», und sobald ich das gesagt habe, lasse ich dich auch schon wieder allein. Andererseits sind da die weltlichen Gegebenheiten in ihrer ganzen Wucht, die du instinktmäßig, auf deine eigene Weise, auf deine Art die Dinge zu sehen, deine Art die Dinge wahr zu nehmen, gemäß deiner Analyse, deiner Theorie und gemäß der Gewalt deiner Praxis angehst.

4. Die Verkürzung des christlichen Faktums
Welche Folgen hat diese Einstellung für viele in der Bewegung zu der Zeit, über die wir gerade sprechen?
a) Zunächst, wie es in dem Flugblatt heißt: «Eine Vorstellung vom christlichen Engagement, die sich am Nutzen orientiert, mit einem moralistischen Touch». Aber man kann hier nicht nur von einem „Touch“ sprechen: Das Christentum wurde ganz auf Moralismus reduziert! Weswegen sollte man noch Christ bleiben? Weil das Christentum einen zum Handeln anhielt, es regte einen dazu an, sich zu engagieren, und das war’s! Wie ein Vater und eine Mutter, die dir sagen: «Nur Mut, guck mal, du musst das so machen!» Und dann musst du die Sache allein angehen, als gäbe es sie nicht (dagegen gilt: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt» , so sagt Jesus). Das ist eine Vorstellung von Fleischwerdung, in der der Christ wirklich zweigeteilt ist, in zwei gespalten. Und vom geschichtlichen Standpunkt her betrachtet, hat der Christ dann nur noch insoweit das Recht in der Welt zu sein, wie er sich in der Welt engagiert. Das ist ein Christentum als Ethik, das heißt: die christliche Ethik, das christliche Verhalten, das, was Christ sein in der Welt bedeutet, wird mit einem weltlichen Engagement identifiziert. Deswegen heißt Christ sein in der Welt, sich für die Ausgegrenzten zu interessieren, für die Armen, gegen ungerechte Löhne zu kämpfen, für die Gerechtigkeit in der Arbeitswelt einzutreten: das ist das Christ sein. Das Christentum reduziert auf einen leistungsorientierten Moralismus.
Ich erinnere mich noch, als einer vor der katholischen Universität (einer, der vorher Verantwortlicher bei GS war) mir erwiderte, als ich ihm begegnete und einen Spruch losließ – man sah sich oft in der katholischen Universität und „schoss“ dann, einer wie der andere, „ein paar Pfeile ab“, die ernst gemeint waren, aber man sagte sie doch mit einem Lachen; aber dieses Mal lachte er nicht –: «Schauen Sie, ich frage mich, warum ich noch Christ bleiben soll.» «Ja, genau – antwortete ich –, wenn Christ sein heißt, dass du das tust, was du tust. Die anderen haben dir das so beigebracht; aber sie sind einflussreicher als wir, deswegen verstehe ich nicht, warum du nicht einfach ganz auf ihre Seite wechselst.» Jetzt scheint es uns ganz klar zu sein, dass Christ sein nicht bedeutet, einen Sit-in vor der katholischen Universität zu veranstalten (dass der christliche Einsatz auch dazu führen kann, steht auf einem anderen Blatt, aber das ist nicht das Christentum!). Damals, in der Verwirrung der Zeit, war es uns aber nicht klar.
Es geht also vor allem um eine leistungsorientierte Vorstellung vom Christentum. Und mit der Zeit lässt sich bei dem, der diesen Weg gegangen ist, wenn er Christ geblieben ist, ein grundsätzlicher Dualismus wahrnehmen, eine Spaltung. Vielleicht sind sie auch «linke Christdemokraten», aber das christliche Ereignis hat nicht das Geringste mit dem zu tun, was sie machen: Sie berufen sich auf die Christdemokraten der Nachkriegszeit, das heißt sie identifizieren sich mit derselben Gesinnung, mit derselben Geisteshaltung.

b) Zweite und weitaus schlimmere Konsequenz: Man ist unfähig aus dem Diskurs eine Kultur entstehen zu lassen, die eigene christliche Erfahrung zu einem Punkt zu führen, wo sie zu einem systematischen und kritischen Urteil wird, und damit zu einer Anregung, wie zu handeln ist. Dadurch wird die christliche Erfahrung daran gehindert, sich potentiell auf die Welt auszuwirken. Denn eine Erfahrung zeigt nur in dem Maße Wirkung in der Welt, in dem sie sich kulturell Ausdruck verschafft (was nicht heißt, dass sie akademische Formen annehmen muss: das hat damit nichts zu tun!). Kultureller Ausdruck heißt Urteil, Fähigkeit zum systematischen und kritischen Urteil über die Welt, über das Weltliche, über die historischen Zusammenhänge und damit Anregung, wie ein grundsätzliches Vorgehen und das konkrete Tun auszusehen haben.
Eine Erfahrung, die nicht bis zu diesem Punkt vordringt, hat kein Gesicht, hat in der Geschichte kein Antlitz; sie hat kein Gesicht und deswegen kann sie sich lange in weniger zivilisierten Zeiten halten, aber in dem Maße, in dem die Gesellschaft, das menschliche Leben sich in seinen Beziehungen verdichtet, muss sich diese Position „beweisen“, was sie aber nicht kann. Sie verschwindet, weil sie unter dem Druck der Umwelt entfremdet wird. Genau dasselbe Schicksal haben viele Versuche unserer Familien erlitten (ich brauche das hier nicht weiter auszuführen): die Versuche von mehreren Familien, sich zusammen zu tun, sind nicht zu „Siedlungen“ geworden. Sie beginnen nur dann ein Versuch von Erfahrung zu werden, sie werden nur dann „Siedlungen“, wenn sie kultureller Ausdruck werden, kritisches Urteil und damit ein vorgeschlagenes Konzept und eine Art des Handelns. Und das kann nicht geschehen, wenn eine Gruppe von sich aus dahin gelangen will, wie es diese Gruppen immer versucht haben. Wenn eine Gruppe wirklich fähig wäre, es aus sich selbst heraus umzusetzen, würde sie ein Netz von Beziehungen mit der ganzen Bewegung schaffen – und das ist das, was wir uns wünschen –, sie würde positiv auf die Veränderung der Bewegung Einfluss nehmen.
Die zweite Konsequenz ist also eine Unfähigkeit, aus dem Diskurs eine Kultur entstehen zu lassen und als Folge eine Unfähigkeit zu einem einheitlichen Urteil über die Dinge. Nur ein kultureller Ausdruck, der aus einer einheitlichen Erfahrung heraus entsteht, befähigt zu einem einheitlichen Urteil über die Dinge. Statt dessen ist man, wie in der Fabel des Äsop vom Fuchs und den sauren Trauben, dazu übergegangen (ich spreche von GS und GL von damals), dafür zu plädieren, dass in bestimmten Situationen unterschiedliche Einstellungen gelten könnten und diese als normal zu betrachten seien. Trotzdem hatte man auf organisatorischer Ebene die Macht, bestimmte Akzente zu setzen. Und so pries man auf theoretischer Ebene sogar die Tatsache, dass gleichzeitig die unterschiedlichsten Urteile und Verhaltensweisen galten: «Wir sind frei, jemand kann links, ein anderer auch rechts sein». Ließ aber jemand verlauten, dass er nicht ein Ultralinker war, wurde er außer Gefecht gesetzt, wenn auch noch nicht gelyncht (so weit war es da noch nicht). Wenn man nicht physisch gelyncht wurde, dann doch moralisch.
Deswegen kam es zu einer Trennung gegenüber der Welt und dem, was in der Geschichte dringlich wird, den konkreten Bedürfnissen. Es war eine furchtbare Trennung, die einmal mehr verhinderte, dass das christliche Ereignis in der Welt Zeugnis geben konnte. Das Zeugnis des christlichen Faktums der Welt gegenüber besteht in der Tat darin, in den Bedürfnissen der Welt präsent zu sein: Es geht um eine Präsenz des christlichen Ereignisses in den Bedürfnissen der Welt, nicht um die Präsenz der Christen bei den Kundgebungen des „Roten Kreuzes“.

c) Dritte Konsequenz: theoretisch und praktisch hat man die Bedeutung der Autorität, der Erfahrung dessen, der Autorität ist, unterschätzt. Seht, es gibt kein systematisches Handeln, keinen systematischen Gedanken und keine systematische Tat, ohne dass man Schüler irgendwelcher Lehrer wird! Deswegen gibt es zwei Fälle: entweder erkennst du an, dass dir die Autorität gegeben ist und du ihr folgen kannst, oder du wählst sie; entweder ist die Autorität Gnade deiner Geschichte, Gnade Gottes innerhalb deiner Geschichte, oder du wählst dir die Autorität. Die Namen der Anführer von damals (und einige sind es heute noch) wurden auf dieselbe Weise benutzt, mit der man vorher den Namen eines bestimmten Priesters oder eines anderen im Munde führte, um das zu rechtfertigen, was man tat. Auf jeden Fall – sagen wir es noch einmal – hat das christliche Ereignis in der Autorität, die von Christus geschaffen ist, den geometrischen Ort, wo das Geheimnis bewahrt wird, einen Ort, wo die Anerkennung und die Beachtung des Geheimnisses dokumentiert, garantiert und bezeugt sind. Ich glaube, dass wenige Leute wie wir gezwungen sind, diese Dinge fast empört zu wiederholen, so sehr schmerzt es sie. Schade, dass wir keine Leute mehr haben, die das literarisch zum Ausdruck bringen können! Und ich weiß nicht, ob das nicht vielleicht im Letzten Ausdruck einer Faulheit oder Nachlässigkeit oder der Instinktivität ist, mit der wir uns bewegen, und die uns nicht erlaubt, klarere Prioritäten zu setzen bei den Dingen, die wir aufgrund der Charismen, die uns gegeben sind, angehen müssten.

In der allgemeinen Verwirrung dominierte bei GS und GL als erste konkrete, geschichtliche Reaktion der Versuch, die Schwierigkeiten zu überwinden, indem man Hals über Kopf der Welt folgte (genauer gesagt war dies bei GL quantitativ zu 100 Prozent der Fall und bei GS war es zwar die Mehrheit, aber keine große Mehrheit; allerdings war GS durch die Art der Leitung ebenfalls davon bestimmt). Die eigene Geschichte mit ihren inhaltlichen Werten wurde klein geredet und soweit wie möglich gemäß einer abstrakten Sichtweise des Lebens interpretiert. So wurde sie der Möglichkeit, auf den zeitgeschichtlichen Verlauf Einfluss zu nehmen und damit der Möglichkeit einer wirklichen Fleischwerdung beraubt. Man nahm dem christlichen Faktum die Dichte (was die beste Beschreibung ist, wie ich nochmals betonen möchte). Bei denen, die blieben beziehungsweise im christlichen Umfeld verbleiben wollten, entwickelte sich ein Dualismus: Der Dualismus zwischen einem bevorstehenden Himmel und einer Welt, die ihren eigenen Wegen und Bestimmungen folgte. Aus dem Blickwinkel der Kirchengeschichte ist das eine im eigentlichen und reinen Sinne protestantische Haltung. Die säkulare Theologie ergriff schmerzlicherweise die Jüngsten und Lebendigsten im katholischen Klerus und durch sie auch die Jugendlichen, die sich um sie scharten. Sie kann meines Erachtens letztlich nicht anders verstanden und beurteilt werden als nach der Kategorie eines wahrhaftigen, reinen, orthodoxen Protestantismus im Sinne Karl Barths; und zwar aus einem kulturellen Blickwinkel, nicht als Intention und im Sinne einer Beurteilung der Umsetzung.

5. Der Diskurs wird aufgegeben
Man kann also drei wichtige Konsequenzen festhalten. Und die Bedeutung dieser Aussage wird dabei nicht von der Liebe zur geschichtlichen Analyse bestimmt, sondern von der Tatsache, dass diese Dialektik stets gegenwärtig sein wird. Dieser Anstoß, diese Versuchung wird immer mehr oder weniger vorhanden sein. Die erste Konsequenz ist ein Verständnis des christlichen Einsatzes unter dem Gesichtspunkt der Effizienz; ein moralistischer Einsatz. Das heißt: Angesichts der Nöte der Welt kommt zunächst die Analyse, dann folgt die Theorie, um sie zu beheben, und schließlich folgt die Antwort im Sinne dieser Theorie. Alles spielt sich auf der Ebene menschlicher Maßstäbe ab. Christus spielt dabei keine Rolle. Er hat nur eine Bedeutung jenseits von Zeit und Raum. Er ist eine moralische Inspiration, jenseits von Zeit und Raum, im „Transzendenten“. Die zweite Konsequenz ist die Unfähigkeit, den Diskurs in eine Kultur zu überführen. Denn die Inkulturation, der man sich hingibt, hat als Verständnishintergrund die marxistische Analyse oder die marxistische Theorie, jedenfalls eine weltliche Analyse und eine weltliche Theorie. Sie entstammt der weltlichen, nicht der christlichen Erfahrung. Und damit wird die Theoretisierung, die Betonung, die Idealisierung der verschiedenen Meinungen und Zugangsweisen, ebenso wie der ganz Weg der Studentenbewegung, sowohl praktisch wie organisatorisch einem „einzigen“ Leitbild unterworfen. Die dritte Konsequenz ist die theoretische wie praktische Unterschätzung der Autorität. Denn die Autorität hat die Aufgabe, die Wahrhaftigkeit der christlichen Erfahrung zu garantieren.
Aus den Beiträgen, die man mir gegeben hat, könnte ich dies reichlich belegen. Das betrifft sowohl den begeisterten Wunsch nach wirklicher Wahrhaftigkeit als auch den Gedankengang, der dann die eigene Geschichte verraten hat. Wir können hierzu aus einer Zeitschrift von Gioventù Studentesca von damals einige Auszüge lesen.
„Auch wir haben das Schuljahr ganz in der Sorge begonnen, die Initiativen für das erste Trimester voran zu bringen. Dabei entfernten wir uns de facto von der realen Situation der Schule, auch wenn wir schüchtern etwa von der Notwendigkeit einer größeren Teilnahme am Lebensumfeld stammelten. Aber all dies war noch ausschließlich auf unsere Initiativen, auf unsere Vorschläge ausgerichtet.“ Man müsste nur diesen Abschnitt analysieren, um der damaligen Frage auf den Grund zu gehen. Natürlich konnte dieses Unbehagen nur jemand verspüren, der kraftvoll und lebendig war, und kein toter Hund. Vor allem aber seht ihr, wie man bereits den Diskurs der Bewegung, die Geschichte von GS aufgegeben hatte! Man hatte die Anmerkungen zur christlichen Methode radikal aufgegeben. Das Vorwort zu den Anmerkungen zur christlichen Methode, das der Schlüssel für unsere Haltung war, gab es nicht mehr, man beachtete es nicht mehr.
„Auch wir hatten das Schuljahr ganz in der Sorge begonnen, die Initiativen für das erste Trimester voran zu bringen.“ Und bei den einflussreichen und entscheidenden Leuten von damals waren die Texte von Anmerkungen zur christlichen Methode oder Spuren Christlicher Erfahrung nicht mehr vorhanden, außer einigen Abschnitten aus dem grünen Buch , wo man von der Entscheidung und der umfassenden Tragweite der Entscheidung sprach. Aber dies stammte aus Il cristianesimo non è un umanesimo / Das Christentum ist kein Humanismus, von Gonzalez-Ruiz, und so weiter. Letztlich kam in der Prüfung das zum Ausdruck, wofür man sich bereits vorher entschieden hatte: man hatte sich bereits für anderes entschieden, ob in einer Frage oder einem Problem, man ging „auf Abwege“ (dies ist ein anderer Aspekt dessen, was ich bereits in der Vorbemerkung ausführte).
Die Lage von Gioventù Studentesca konnte gerade deshalb ein Nachgeben befördern – wie es dann auch geschehen ist –, weil man jene Gedanken aufgegeben hatte. Vielleicht begriffen dies die Leitungsgremien von damals nicht einmal, es war jedenfalls nicht mehr als kulturelles Instrument vorhanden, aus dem man sich inspirierte oder das man nutzte. Und in der Tat führte ein beachtlicher Drang zur Effizienz bereits vor dem Jahre 1968 bei denen zu Unmut, die die Dinge mit einer gewissen Objektivität wahrnahmen oder im Bewusstsein dessen betrachteten, was man sich stets gesagte hatte. Und nochmals, das Phänomen einer kulturellen Umsetzung als Suche nach dem, was die anderen sagten, wirkte bereits. Damit vertiefte man die Dinge nicht mehr aus einer Inspiration, die aus der eigenen Erfahrung hervorging. Es war wie eine Stadt, die man belagert und erobert hatte, weil sie die Wälle nicht bewacht hatte: Man hatte die Wachposten, die Wächter von den Befestigungswällen der Stadt abgezogen, und die Wachsamkeit beim Diskurs aufgehoben.
Das lässt sich aber nicht verstehen, wenn man sich nicht in das „Warum“ hineinversetzt. Und das „Warum“ bestand letztlich in der Schwierigkeit des christlichen Diskurses, der christlichen Erfahrung, zu reifen. Wenn wir uns dies nicht bewusst machen, werden wir uns nicht nur empören und in ungerechter Weise über unsere alten Freunde urteilen, wir laufen auch Gefahr, in der Gegenwart am Ziel vorbeizuschießen. Die Ungeduld ist nicht die erste, sondern die letzte Falle. Denkt daran, die christliche Erfahrung wird die Welt verändern. Aber um die Welt zu verändern, braucht es den gesamten Ablauf der Geschichte. Es ist eine beeindruckende Analogie: Die christliche Erfahrung wird mein Leben verändern, aber es braucht dafür den ganzen Verlauf des Lebens; sie wird unsere Gruppen, unsere Gemeinschaften verändern, aber dafür braucht es den Verlauf der geschichtlichen Existenz dieser Gemeinschaften. Es bedarf des ganzen Weges!
Kurz, die christliche Erfahrung befriedigt nicht den fieberhaften Durst des Menschen nach Effizienz, das Verlangen, es sofort zu haben, es zu besitzen. Denn dies ist die Versuchung der Pharisäer, die zu Jesus sagten: „Mache die Wunder, wie wir es dir sagen, und dann werden wir dir glauben.“ Sie legten fest, wie das Wunder zu sein hatte. Wenn Christus ihren Maßstäben gerecht geworden wäre, hätten sie geglaubt. Dies ist wirklich das Pathos, das unter dem Drama von damals lag und das unter der Ungewissheit, der Schwermut, der Trägheit und dem Zweifel von heute liegt.
Von daher versteht man, was glauben heißt; was an Ihn zu glauben heißt. Was es heißt, dem christlichen Faktum zu vertrauen. Denn in bestimmten Augenblicken ist es tatsächlich so, als würde man sich selbst sterben, ja es ist ein regelrechtes Sterben seiner selbst. In dem Abschnitt heißt es weiter: „Wir sind uns als erstes bewusst geworden, dass wir fast nichts wussten, und dass wir nichts zu sagen hatten.“ Versteht ihr die Zweideutigkeit dieser Aussage? Sie ist dieselbe wie jene von vorhin: „Aber all das war noch ausschließlich auf unsere Initiativen und auf unseren Vorschlag ausgerichtet.“ Sie haben sich die Anklage, die man uns macht, zu eigen gemacht: Das wir nämlich „unsere Sache“ behaupten wollen. Wir wollen die Tatsache Christi bekräftigen, wir wollen die Kirche behaupten, und zwar gerade, weil die Kirche die Rettung der Welt ist!
„Wir hatten nichts zu sagen“: Da die vergangene Geschichte, da der christliche Einsatz uns nicht ermöglicht, mit derselben Unverfrorenheit gegen die Professoren vorzugehen wie die Marxisten, sagten sie: „Siehst du? Sie haben uns verraten!“ In dem bekannten Lied sagt Judas „es war nicht aufgrund der 30 Denare, sondern wegen der Hoffnung, die er in mir an jenem Tag geweckt hat.“ Aber es war eine Hoffnung nach eigenem Maß! „Wir sind also zu Personen oder Gruppen in Kontakt getreten, die bereits eine Erfahrung im Protest an der Schule gemacht hatten, um durch ihre Erfahrung und ihre Arbeit die anstehenden Probleme zu klären!“ Hier ist bereits alles vorhanden: Hier ist die Reduzierung bereits in vollem Gang. Die Reduzierung ist bereits vollkommen vollzogen, wie man auch im Editorial von Michelaccio – verstehen wir uns recht: des damaligen Michelaccio – sieht. Das einzige Problem liegt für die Zeitschrift in der Demokratie. Man hatte langsam und schrittweise alles auf das Problem der Demokratie hin austariert. Doch das Problem bestand in dem zuvor Gesagten. Welchen Unterschied gibt es zwischen einem Christentum, das sich mit dem sozialen Handeln identifiziert, wie in den marxistisch-katholischen Protestgruppen von heute, und dieser Aussage, dieser Haltung als Methode? Seid euch klar, dass gerade der lebendigste Aspekt unserer Versammlungen, der lebendigste Aspekt unserer Gruppen – lebendig im Sinne der menschlichen Energie – dieser Versuchung am meisten unterlag. Ich lese einen letzten Satz: „Die größte Frage ist unsere Eingliederung in die Gesellschaft.“ So wie diese Sätzen klingen, sind sie beherrscht von einer Zweideutigkeit; aber die Entscheidung, die dahinter liegt und die unserem gesamten Gedanken widerspricht, war längst getroffen.


6. Treue gegenüber der eigenen Geschichte
Das dritte Element unserer Diagnose. Angesichts der allgemeinen Verwirrung blieb ein großer Teil von Gioventù Studentesca, Entschuldigung, ein gewisser Teil von Gioventù Studentesca, und unserer ersten Studenten (unsere Studenten und praktisch alle unsere Erwachsenen) wie versteinert. Sie waren von der Lage blockiert, eingeschüchtert und verwirrt. Vielen von ihnen war aber zumindest eines sofort klar: Die Treue gegenüber der eigenen Geschichte musste stärker und bestimmender sein, als der aufsehenerregendste Aspekt der gerechten Forderungen oder die Attraktivität der praktischen Ausführungen der anderen. Diese Treue gegenüber der eigenen Geschichte war für die, die sich – verzeiht den Ausdruck – gerettet haben, zweifelsohne der eigentliche Auslöser ihrer Grundhaltung.
Die Treue gegenüber der eigenen Geschichte hatte aus dem Blickwinkel ihrer Bewusstseins zwei wichtige Bestandteile:
a) Der erste Bestandteil wurde auf dem Blatt mit dem Wort „Geheimnis“ ausgewiesen. Die Treue zur eigenen Geschichte nährte sich nicht aus einem Fideismus, noch aus einem „Treueschwur“. Es war eine Treue gegenüber der eigenen Geschichte: sie hatte die Aufmerksamkeit des Bewusstseins mit aller Deutlichkeit auf die entscheidende Bedeutung der religiösen Dimension für die Existenz und die Geschichte des Menschen gerichtet. Für das Leben des Menschen und der Geschichte bedeutet die religiöse Dimension: ich bin mir des Einflusses des Geheimnisses auf das Kontingente, auf die Zufälligkeit meines Lebens bewusst. Das Geheimnis, das auf die Zufälligkeit meines Lebens Einfluss nimmt, nennt sich Christus in seiner geschichtlichen Fortsetzung: „Kirche“. Dies war sofort klar.
b) Der zweite Faktor dieser Treue gegenüber der Geschichte bestand darin, dass man in der Wertschätzung und im Vertrauen ernsthaft und verlässlich war. Das hieß, man stützte die eigene Person auf die Autorität; man entdeckte erneut die grundlegende Bedeutung der Funktion der Autorität in der gelebten Geschichte. Im Übrigen garantiert gerade die Funktion der Autorität den Respekt vor dem Begriff des Geheimnisses und dessen Gebrauch.
Jedenfalls retteten sie sich, weil sie der eigenen Geschichte gegenüber die Treue hielten, wobei ihnen – man kann sagen ausschließlich – klar vor Augen stand, welche einschneidende Bedeutung die religiöse Dimension für das konkrete Leben hat. Und so wussten sie auch um die Gegenwart des Geheimnisses, als einschneidendem Faktor im Zufälligen des Menschseins. In einem weiteren Schritt entdeckten sie aufrichtig und klar das Vertrauen, das man der Autorität entgegenbringen muss, sowie die geschichtliche Funktion der Autorität.
Auf verschiedene Weise blieb diese Haltung aber lange Zeit in einer Unreife befangen und war durch sie beschränkt. Denn in der Entfaltung unserer Erfahrung fehlte noch jene Entdeckung, die die zwei vergangenen Jahre gekennzeichnet hat. Ihren Ausgangspunkt nahm sie vom Appell im Péguy-Center, also von der Dialektik von „Kreuz und Auferstehung“. Aber der wesentliche Punkt, der die Dynamik in Gang setzte und die Grenzen der Unreife sprengte, war der Hinweis auf das „Selbstbewusstsein“ vor zwei Jahren. Zuvor war die Zeit noch nicht reif. Deshalb gab es eine Verhärtung in den Grenzen der Unreife, die eine mechanische Treue im Formalen begünstigte. Deshalb trug man über lange Zeit vor allem bei der Erziehung einen Konformismus voran, eine Unbeweglichkeit und eine gewisse Gefühlskälte, deren Folgen wir zweifellos erst heute, im Sinne des Jahres 1972, nach und nach objektiv betrachten können, und zwar wenn wir uns dieser Unreife in uns wirklich stellen.
Was fehlte, war dieses Selbstbewusstsein, es fehlte das Bewusstsein für das, was mir mit Christus geschehen war. Denn dann kann die ganze Welt einschließlich des ganzen Klerus sich abwenden, aber mich bringt davon nichts mehr ab, weil ich selbst es bin. Es ist ein Faktum, das mein Fleisch und Blut definiert, meinen Geist und mein ganzes Sein: Ich bin ein neues Geschöpf. Was fehlte, war dieses Selbstbewusstsein, so dass wir sowohl in den ersten Jahren an der Universität als auch über lange Zeit an der Schule von einem Minderwertigkeitskomplex geprägt waren, der viele davon überzeugte, die Seiten zu wechseln. Und der Komplex blieb auch denen als Stachel im Fleisch, die unserer Geschichte treu blieben. Er versteifte die Bewegungen und die Redeweisen und machte die Hingabe schematisch und mechanisch, so dass sie letztlich nichts hervorbrachte.
Diese Feststellungen sind allerdings summarisch. Denn nicht alle waren so. Man höre etwa, welche Klarheit bereits aus folgendem Dokument unserer Studenten spricht, auch wenn es noch nicht das Klima in unseren Gruppen bestimmte: „Der Ausgangspunkt besteht darin, dass die Solidarität und die Gruppen an der Universität damit aufhören, sich aus der Pflicht legitimieren, etwas tun oder sagen zu müssen. Sie sollen statt dessen Orte der Umkehr für jeden werden, Ort der Erfahrung einer Gemeinschaft, die das persönliche Bewusstsein prägt.“ Oder in einem anderen Schreiben heißt es: „Das neue Leben, das uns gegeben wurde, besteht vor allem in unserer Erkenntnis. Wir stellen deshalb der Studentenbewegung nicht eine Theorie entgegen, die uns verständlicher oder menschlicher wäre: wir schlagen statt dessen ein anderes Leben vor, von dem wir eine andere Art der Erkenntnis besitzen [das ist bereits vollkommen!], und dies ist die Grundlage unseres Bewusstseins. Wenn wir aber allgemeiner sagen, dass unsere tägliche Erfahrung im Leben der Gemeinschaft besteht, dann bedeutet dies, dass wir deutlich machen: in der Welt ist ein Ort aus der Macht Gottes entstanden. Die Tatsache, die wir darstellen, kann man nicht auf die Interpretation einer Geschichtstheorie zurückführen, und dennoch kann man dieses Faktum sehen und berühren; was uns selbst als erste überrascht.“ Natürlich kann man das Faktum in der Kirche, im Sakrament – etwa in der Eucharistie – berühren. Aber man kann nicht umhin zu erkennen, dass die ganze Spannung des Christseins darin besteht, dieses Faktum an der Universität oder bei der Arbeit sichtbar und berührbar zu machen.
Und ein weiteres: «Gegenüber Kategorien wie „Globaler Protest“, „Revolution“, „Antiimperialistischer Kampf“, „Klassenkampf“ stellt unsere Anwesenheit an der Universität eine wesentlich ursprünglichere und radikalere Herausforderung dar. Es geht darum, eine Dimension des Glaubens und ein Bewusstsein gelebter Gemeinschaft zu bezeugen, die verhindern, dass der politische Horizont der Studentenbewegung sich verabsolutiert und alle weiteren Sichtweisen der Welt ausschließt. Die gesellschaftliche Entfremdung ist aber nicht in der Lage, die Ungeschuldetheit einer Gabe in Frage zu stellen, die für den Menschen die Möglichkeit eröffnet, von oben neu geboren zu werden.» Das sind klare Sätze, und der Ausdruck eines glasklaren Bewusstseins seit jener Zeit. Jeder von uns stellt zwar fest, dass es noch eine weit entfernte Morgendämmerung ist, die sich in einigen Sätzen andeutet; ein positiver, einschneidender Aspekt, der eine Alternative gegenüber der Mentalität und der weltlichen Theorie darstellt. Es ist zwar noch nicht da, aber es ist die Methode, dorthin zu gelangen – darin liegt die Bedeutung der Sache.
Was die Kontinuität unserer Erfahrung gerettet hat, war die Treue zur eigenen Geschichte – auch wenn dies durch eine Verwirrung ging, die uns verhärtete, durch Jahre der Konfusion und der Minderwertigkeitskomplexe, durch formale Mechanismen, die wir schematisch mit einem Konformismus gegenüber dem verwirklichten, was wir die Jahre davor getan hatten; und wir taten es vielleicht mit einem jugendlichen Anhängen an die Autorität. Doch hat uns diese Treue zur Geschichte ermöglicht, dass nach dem Winter der Frühling zurückkehrte und die Pflanze weiter wächst.
In unserer unbedeutenden Zufälligkeit, in unserem kaum sichtbaren geschichtlichen Versuch, wiederholt sich analog das, was der Kirche in der Weltgeschichte widerfährt: Die Treue zur Tradition macht die Kirche zu einer Gegenwart, die die Welt heilt und befreit. Es gibt nichts anderes als die Treue zur eigenen Geschichte. Natürlich handelt es sich um die Treue des lebendigen Menschen, nicht des toten Hundes. Das ist als selbstverständlich vorausgesetzt. Es wäre eine Beleidigung, wenn wir uns ohne diese Voraussetzung betrachten würden. Es geht um die Treue des lebendigen Menschen, der die Probleme seiner Zeit wahrnimmt, der seine Intelligenz nutzt und alles, was ihn umgibt, wie der gute Familienvater, der aus seinem Schatz das Alte wie das Neue hervorholt, wie Jesus im Evangelium sagt. Wer hätte Angst vor diesen Dingen? Und wer wüsste sie nicht? Das Problem liegt aber in der besonderen Form, im Selbstbewusstsein, in der Persönlichkeit, die ihre ganze Natur aus dem christlichen Faktum bezieht und deshalb ihre Aufgabe in der Treue zur Geschichte verrichtet, in der Treue zur Geschichte unserer Erfahrung: Diese ist die zusammenfassende Formel einer gesunden Methode, sowohl in erkenntnistheoretischer wie in praktischer Hinsicht. Das hat uns gerettet.

Und so trat fast unversehens in den vergangenen zwei Jahren eine Veränderung ein. Alles ereignete sich 1968. Es sind also insgesamt vier Jahre, aber mindestens zwei oder drei Jahre zuvor konnte man bereits eine fragwürdige Entwicklung in GS bemerken: ein Leistungsdrang, ein Mangel an kultureller Vertiefung und so weiter. Wer von uns empfände die Vorwürfe, wir seien weltabgewandt, würden uns nicht für die Probleme der Welt interessieren, nicht als fremd und abwegig, obwohl wir uns noch immer verwirrt und irgendwie durcheinander fühlen? Ich dachte daran, als ich vor einigen Tagen die Richtlinien der kulturellen Arbeit unserer Studenten in Cagliari las. Ich war gerührt beim Lesen des Textes, weil ich dachte: Aber wann ist so etwas entstanden? Es ist gleichsam ein Wunder! Es ist das Wunder, das aus der Tätigkeit der letzten zwei Jahre aufgeblüht ist. Trotz der labilen Situation und der noch sporadischen und bruchstückhaften Hilfen zeigt sich eine beeindruckende Übereinstimmung; was für ein reicher Horizont, wie angemessen, ja ich würde sagen: was für eine kühne Herausforderung! Wir müssen in einfacher und aufrichtiger Treue zu unserer Geschichte weitermachen, in der Treue zu unserer Erfahrung als Quelle unseres kulturellen und politischen Einsatzes.
Die Faktoren, den Nährboden, den Nektar unserer Präsenz und damit der Fähigkeit zur Mitgestaltung der Welt durch unsere Präsenz finden wir ausschließlich im Gedächtnis: Ausschließlich! Das heißt in dem Maße, in dem wir gleichsam ganz Gedächtnis sind, in dem also der Sinn für das Gedächtnis und für die Autorität wirklich die zwei entscheidenden Faktoren sind… (der eine ist der ideale Faktor: er betrifft die Auffassung der Dinge und das Bewusstsein, und der andere betrifft die konkrete und praxisbezogene Methode); also in dem Maße, in dem wir dieses Gedächtnis sind, werden wir wahrhaft Familienväter, Väter der Weltfamilie, die aus ihrem Schatz Neues und Altes hervorholen. Uns wird kein einziges Haar vom Kopf der Welt entgehen, uns werden die Lilie auf dem Feld, das Blümlein auf dem Feld der Welt nicht entgehen, so wie es den Augen Christi nicht entging. Ich möchte uns eigentlich dazu aufrufen, die Unreife, die Steifheit zu überwinden, die uns immer noch gleichsam in einer Schablone aus Eis einsperrt. Merkt eines: Die Wärme, die das Eis zerbricht, die Energie, die das Eis zersplittert, die das Eis zum Schmelzen bringt, wird nicht von eurem Tatendrang entfacht, sondern besteht in der Bekehrung entsprechend all ihren Dimensionen.
«Comunione e Liberazione» [Gemeinschaft und Befreiung] ist gewiss die Formel, die die ganze Entwicklung, den Höhepunkt unserer Geschichte umfassend beschreibt. „Gemeinschaft“ und „Befreiung“: Das müssen wir wirklich verstehen, denn das ist noch nicht der Fall. Bei dem meisten von uns ist das Verständnis dessen noch unausgegoren. Und ich meine damit nicht Arbeiter, die nicht einmal die Grundschule besucht haben, sondern Universitätsdozenten. Das Verständnis ist in uns noch unausgegoren, denn es überwiegen noch moralistische, aktivistische oder ästhetische Akzente.
Unser eigentliches Problem besteht darin, diese Unreife zu überwinden. Ich hoffe, dass wenigstens einige von uns in diesem Augenblick an die Aussage gedacht haben, die im Vorwort des braunen Büchleins enthalten ist . In Klammern gesagt: Dabei denke ich vor allem an die „Schriftgelehrten“ und „Pharisäer“ in unserem Gottesvolk, das heißt an die, denen mehr gegeben wurde; an die, denen das Charisma oder die Zeit gegeben wurde, die kulturelle Analyse, das Interesse für die Kultur und deren Ausdrucksmöglichkeit zu vertiefen – genau bei diesen bin ich mir nicht sicher, ob unsere Texte ihre Quelle sind! Auf jeden Fall: die Methode besteht immer in der Treue zur Erfahrung. Ich weiß nicht, ob jemand unter uns in diesem Augenblick an die Aussage in jenem Vorwort gedacht hat: Dass das Christentum nicht als Ergebnis unseres Schaffens entsteht, sondern durch die Gnade Gottes! Demnach erfolgt die Überwindung der Unreife, also das Reifen durch die Gnade des Geistes in uns. Erinnern wir uns daran! Und der Heilige Geist ist in den Saal des letzten Abendmahls herabgestiegen, in dem sich alle versammelt hatten, dort, wo sich alle versammelt hatten. Der Geist steigt über unsere Communio herab. Deshalb ist die Siedlung Ergebnis einer kulturellen Ausprägung, aber noch bevor sie das Ergebnis der kulturellen Ausprägung ist, ist sie zumindest tendenziell deren Voraussetzung. Unsere Reife zeigt sich nämlich als tiefe Neigung, als Leidenschaft dafür, dass die Kirche Gottes dort sichtbar lebt, wo wir sind. Deshalb ist sie Leidenschaft für den Aufbau der christlichen Gemeinschaft überall dort, wo wir sind, damit dieser «neue Mensch», dieser «Eine», wie ihn der heilige Paulus beschreibt : «Es gibt nicht mehr Mann und Frau, Griechen und Barbaren, weder Rechte noch Linke» – («denn ihr alle seid „einer“ in Christus Jesus») – damit dieser «Eine» in seinem Wohnviertel, an der Universität, auf der Arbeit, in der Pfarrei, in der Welt das Gute tut, das Gute der Welt bewirkt. Eine Fleisch gewordene Präsenz, Fleisch geworden!
Aber die Logik der Fleischwerdung, die Logik der Mission entsteht ganz und gar in uns. Denn die Fleischwerdung in der Welt als Interesse und Hilfe für die Probleme der Welt, als wirkliche Teilnahme am Drang nach Wahrhaftigkeit, den die Welt verspürt, ist bloß ein Widerschein, eine unvermeidliche Folge jener Probleme. Sie ist Folge der Bedürfnisse der Welt, des Fleisches und Blutes, des als christliche Gemeinschaft gelebten Lebens, des vom Glauben bekehrten und geformten Lebens. Die Fleischwerdung besteht nicht darin, dass man sich für die Gewerkschaft, die Firma und die Universität interessiert. Die Fleischwerdung, das heißt die Mission, besteht darin, dass man die Firma, die Universität und so weiter als Communio lebt. Es ist nicht die Beschäftigung mit diesen oder jenen kulturellen, praktischen oder sozial-politischen Problemen, sondern es geht darum, unser ganzes Menschsein als Communio zu leben.
Ich möchte zusammenfassen: Die Welt mit all ihren Erschütterungen ist für alle Mittel des Aufrufs Gottes zur Wahrhaftigkeit und Wahrheit des Lebens. Sie stellt aber vor allem einen Aufruf für den Christen dar, der wie der Wächter auf dem Feld der Welt ist. Wahrhaftigkeit, Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit: Das ist der Wert, der damals dem Herzen zugrunde lag, dem Herzen des damaligen „Aufstandes“ (denken wir zum Beispiel an unsere Gegenwart in der Kirche: merkt ihr, dass wir für Protestler gehalten werden? Wir sind für die anderen bis zu einem bestimmten Punkt Teil des Phänomens \\'68: Protestler. Und tatsächlich bewegt uns doch der Wunsch nach Wahrhaftigkeit in den Pfarreien oder in den Diözesen!). Aber man verfolgte diese Wahrhaftigkeit in der Verleugnung der Vergangenheit, wie einen plötzlichen Ausbruch, wie einen Vulkanausbruch. Man verstand das „Neue“ als Aufbruch ohne vorhergehende Verbindungen.
Zweitens: angesichts dessen, was normalerweise in der Welt geschieht, werden wir uns ein bisschen verwirrt fühlen, werden wir unter Minderwertigkeitskomplexen leiden, denn unser Weg ist ein langer Weg zur Reife. Die vollkommene Reife werden wir am Jüngsten Tag erleben. Wenn die Kirche und die Christen in der Kirchengeschichte nicht unter diesem Minderwertigkeitskomplex litten, wie viele Male lebten sie dann jedoch die weltliche Zweideutigkeit (ich meine seit dem Humanismus)? Die Gnade eines heiligen Thomas von Aquin ist eine wundersame Gnade, die Gott in der Geschichte nicht zwangsläufig bewirkt, sondern nur wenn Er es will. Im Grunde können wir diese Verwirrung in der Regel nicht vermeiden. «Die Welt wird sich freuen; ihr werdet bekümmert sein. Die Welt wird euch auslachen». Dies beschreibt den Begriff der Verfolgung. Die Welt findet reichlich Anlass an uns, in unserem Leben, um uns zu verfolgen. Die Welt nimmt Anstoß an uns und hat recht vom Standpunkt des konkreten Anlasses her. Man findet reichlich Anlass zur Verfolgung in unserem Verhalten. Deswegen haben wir in dieser Verwirrung nicht einmal ein reines Gewissen. Wir können nicht sagen: «Ich bin rein, unschuldig, aber ich habe Angst»; «Ich bin ein Sünder» müssen wir in dieser Verwirrung wohl sagen.
In dieser Verwirrung zeichnet sich eine Wasserscheide ab, und zwar zwischen demjenigen, der der eigenen Geschichte treu bleibt, der dem treu bleibt, was er gesehen hat («Erneuere o Herr das Wort, mit dem du meine Hoffnung neu erweckt hast») und demjenigen, der wegen der Ungeduld, von der im Lied über Judas die Rede ist, der Welt das entlehnt, was ihn zufrieden stellt und ihm ein Gefühl eines ehrenwerten Lebens vermittelt. Man wird ungeduldig, denn die Verheißung entspricht nicht dem gegenwärtig gespürten Wunsch, dem Wunsch, so wie man ihn in der Gegenwart verspürt. Man entlehnt daher der Welt den Sinn der eigenen Vorläufigkeit und der Bedeutung der Geschichte; und falls man das Alte bewahrt, den Glauben bewahrt, bewahrt man ihn in eschatologischer Weise, als einen fernen Punkt, den man durch merkwürdige Gesten heraufbeschwört (die Priester in der Kirche, die Religion der Sakramente). Auf der Ebene des Handelns verkürzt man die Kraft des christlichen Faktums auf die Aufforderung: «Sei anständig und interessiere dich für die Welt», also auf einen Hinweis zum Einsatz, auf einen Moralismus und nichts mehr. Wer aber angesichts dieser Verwirrung der eigenen Geschichte treu bleibt, wird eine mehr oder weniger kurze Zeit des Märtyrertums erleben, in der er versteht, dass etwas zu tun ist, aber nicht weiß, was er tun soll. Deswegen wird er einerseits von der Welt ausgelacht, von der Welt mit Fußtritten verbannt, und andererseits steigen in ihm Zweifel an seinem Glauben auf, weswegen er gegen alle kämpfen muss, auf allen Fronten. Das ist wirklich die Prüfung. Das wird in größerem oder geringerem Maße immer geschehen, es sei denn, wir ziehen uns in den Schatten des Glockenturms oder in die Gruppe der Gemeinschaft zurück, gemäß der Unreife, von der vorher die Rede war.
Die Überwindung der Unreife ist deswegen äußerst wichtig für die, die als Kriterium im Leben die Treue zur eigenen Erfahrung und zur eigenen Geschichte haben. Woher kommen all unsere Schwierigkeiten im einheitlichen Verständnis des Problems von Comunione e Liberazione in den Fabriken, oder an der Universität, bei der eigenen Pfarrgemeinde oder in der Gemeinschaft befreundeter Familien, wenn nicht von einer Unreife?! Denn die Person ist eine (das Bewusstsein seiner selbst) und das christliche Faktum ist eins. Das bedeutet nicht, dass ich mich für meine Pfarrgemeinde entscheide. Gott entscheidet für dich, und wenn du zur Arbeit, zur Uni gehst, ist es genauso wie im Schatten des Glockenturms! Wenn du von der Arbeit zurück nach Hause kommst, nach einer Auseinandersetzung in der Gewerkschaft, findest du einen weiteren Lebensbereich vor, und im Rahmen deiner Energien und deiner Zeit, sollst du auch dort das Geheimnis der Communio leben.
Die Unreife. Aber andererseits ergreifen diejenigen, die die Verbindung der Treue zur Tradition abbrechen, den Weg des Aktivismus und der unmittelbaren Effizienz – es sind diejenigen, die ihre Hoffnung auf die Pferde, die Wagen und die Ägypter, auf den Bund mit den Ägyptern setzen, wie es im Buch Jesaja heißt (sie behaupten nicht, sie würden den Bund mit Jahve brechen, aber sie brechen ihn, wenn sie auf ein Bündnis mit den Ägyptern eingehen. So sagt es ihnen Gott. Siehe die ersten Kapitel des Buches Jesaja oder die Kap. 30–31). Gibt es ein weltlicheres Kriterium als dieses? «Viele falsche Propheten werden auftreten, und sie werden Großes vollbringen und die ganze Welt in Staunen versetzen, so wird die Liebe bei vielen erkalten». Was ist die Liebe? Es ist der Glaube an Christus, das heißt mit dem eigenen Leben ein Anhänger Christi zu sein, Christus anzuerkennen und deshalb die Communio anzuerkennen. Das ist die Liebe. Da die anderen Großes vollbringen, wird man der Communio die Anerkennung entziehen und sich auf den Drang nach Effizienz stürzen. Aus diesem Grund wird es dann unmöglich, das christliche Faktum, den Glauben, auf den Bereich der Kultur zu übertragen. Dem Glauben einen kulturellen Ausdruck zu verleihen. Damit aber entzieht man sich ganz der Aufgabe, am Werk Gottes in der Welt mitzuarbeiten. Man überlässt dem Heiligen Geist alles und interessiert sich nicht dafür, seiner Kirche in der Geschichte eine Bleibe zu schaffen. Man arbeitet nicht an der Verwandlung der Welt zur Kirche mit. Es ist so als ob man meinen würde: Die Kirche ist dank des Heiligen Geistes unfehlbar, und selbst wenn ich mich nicht für sie interessiere, geht sie trotzdem weiter.
In der Treue zur eigenen Geschichte tauchen zwei harte Punkte auf. Einer betrifft die Kultur: die Auswirkung des Geheimnisses auf die Art und Weise, wie man die Dinge auffasst, analysiert und Theorien entwickelt. Die Auswirkung des Geheimnisses auf den Bereich der Kultur. Das ist hart. Dabei zeigt sich unsere Unreife. Unsere Methode ist in ihrem kulturellen Ausdruck noch der Welt entnommen (und tendenziell wird das immer so sein). Aber das Geheimnis ist nicht das „Mysterium“. „Gott“ ist Christus und die Kirche. Der harte Punkt ist daher die christliche Gemeinschaft, das Geheimnis des Bundes, der Communio. Sie ist methodisch der Faktor, der die eigene Denkweise, die eigene Kultur bestimmt. Das ist der Punkt. Andererseits ist der zweite harte Punkt, das Hindernis, unsere Eigenliebe. Der erste ist die Schwierigkeit der metanoia [Bekehrung] als Kultur, der zweite ist die Schwierigkeit der metanoia als Moral, das heißt das Zurückweisen der Eigenliebe und die Anerkennung der Autorität, der Bedeutung der Autorität.

Vgl. Mt 24,11–12.
Lk 8,10.
Lk 8,8.
Mt 3,12; Lk 3,17.
Lk 22,42.
Joh 19,30.
Claudio Chieffo, Il monologo di Giuda, Liederbuch (pro Manuscripto), S. 184.
Offb 3,19.
Mt 28,20.
Vgl. L. Giussani, «Hinweise zur Methode christlicher Erfahrung », in Der Weg zur Wahrheit ist eine Erfahrung, EOS-Verlag, Sankt Ottilien 2006, S. 105–166.
Vgl. L. Giussani, «Spuren christlicher Erfahrung», ebd., S. 67–103.
Vgl. L. Giussani, «Gioventù Studentesca. Betrachtungen über eine Erfahrung», ebd., S. 19–64.
J. M. Gonzales-Ruiz, Il cristianesimo non è un umanesimo: appunti per una teologia del mondo, Cittadella, Assisi 1968.
Vgl. Mk 8,11.
Vgl. Mt 12,35.
Siehe Anmerkung 10.
Vgl. Gal 3,28.
Vgl. Joh 16,20.
Mt 24,11–12.