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Standpunkte
Keine Gefechte für das Leben, sondern ein gelebtes Zeugnis
Giorgio Vittadini

Im Folgenden geben wir einen Kommentar des Präsident der Mailänder Stiftung für Subsidiarität, Giorgio Vittadini, wider. Ein aktueller Beitrag zum politischen Handeln des Christen in einer zunehmend säkularen Gesellschaft am Beispiel der Auseinandersetzung um die Abtreibung.

Die gegenwärtige demographische Situation in Italien und Europa weist erstaunliche Parallelen zum Römischen Reich in der Zeit seines Untergangs auf. Der kalifornische Soziologe Rodney Stark, der sich selbst als Agnostiker bezeichnet, zeigt in seinem Buch Der Aufstieg des Christentums , gestützt auf zahlreiche Quellen, dass in der heidnischen Welt Abtreibung ein Massen-Verhütungsmittel war, trotz der damit verbundenen extremen Gefahren, und dass Kindstötung häufig bei kranken und behinderten Kindern praktiziert wurde. Die Institution der Ehe war in eine schwere Krise geraten und die Zahl der Familien war nicht besonders groß. Aus all diesen Gründen ging die Geburtenrate immer rasanter zurück. Sie konnte die Sterblichkeitsrate bald nicht mehr ausgleichen.
In diesem Umfeld stellten die Christen eine offensichtliche Ausnahme dar. Sie waren entschieden gegen Abtreibung, Kindstötung, Prostitution und praktizierte Homosexualität, weil sie von einer Liebe zum Menschen und zur natürlichen Ordnung der Dinge bewegt waren, die aus der Nachahmung der Person Christi entsprang, den sie als in ihrer Gemeinschaft gegenwärtig anerkannten. Sie brachten diesen Unterschied durch ihre alltägliche Erfahrung zum Ausdruck. Diese Andersartigkeit berührte all jene, die sie sahen – auch ihre ärgsten Feinde. Die Liebe zum Leben wurde denjenigen zur Herausforderung, die es gewohnt waren, die Menschen nur nach ihrer Macht und ihrem Reichtum zu beurteilen. Auch wenn die Christen mit dieser Auffassung nicht in den politischen Kampf zogen, um die Nicht-Christen mit Gesetzen zu ihren menschlicheren Bräuchen zu zwingen, wurden ihre Auffassung von der Ehe und die Achtung des Lebens doch im Laufe einiger Jahrhunderte die vorherrschende Praxis im neuen, christlichen Europa. Dies geschah trotz des Zerfalls des Römischen Reiches und neuer Herausforderungen durch ebenso unmenschliche Gewohnheiten der Barbaren.

Einer entgegengesetzten Lage begegnen wir im 20. Jahrhundert in katholischen Ländern wie Irland, Polen, Italien oder Spanien. Dort ist es einer Gesetzgebung, die christlichen Prinzipien entsprach und einer herrschenden Moral, die sich auf dieselben Prinzipien bezog, nicht gelungen, die Loslösung so vieler Bürger von einer menschlichen Art und Weise des Umgangs mit der Liebe und dem werdenden Leben zu verhindern. Nach einer Studie von Professor Bernardo Colombo, die 1976, zwei Jahre vor dem Inkrafttreten des italienischen Gesetzes zur Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, in der Zeitschrift der katholischen Universität Mailand „Medizin und Person“ veröffentlicht wurde, betrug die Zahl der Abtreibungen in Italien schon damals zwischen 100.000 und 200.000. Seitdem kämpfen die Katholiken mal mehr, mal weniger erfolgreich dafür, dass Achtung und Schutz des menschlichen Lebens auch weiterhin die Grundlage der Gesetzgebung sind. Die Abtreibungsgesetzgebung in Italien etwa ist dank ihres Einsatzes weniger zerstörerisch gewesen als in anderen Ländern.
Als jedoch aus den moralischen Prinzipien frontale politische Auseinandersetzungen wurden, die schließlich im Referendum über die Abtreibung gipfelten, hat man die Schlacht überall verloren. Welche Schwäche zeigt dieser Lauf der Dinge in der Moderne? Sie liegt darin, dass die Lehren der Geschichte vergessen werden. Schon zu Zeiten, in denen Gesetzgebung und allgemeine Moral günstig waren, ließ die Erfahrung der gelebten und bezeugten Neuheit nach: das Lebenszeugnis von Personen und Familien die froher sind, auch angesichts von Situationen und Entscheidungen, die zwar mehr Opfer und Mühe verlangen, aber fähig sind, alle durch die Evidenz sichtbarer Tatsachen anzustecken. Jedes Mal, wenn das moralische und politische Engagement diese verborgene tägliche Arbeit der Erziehung und des Zeugnisses verdunkelt, wird der scheinbar schnellste Weg in kürzester Zeit zu einer Sackgasse.

Beltz, Athenäum, Weinheim 1997.