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Aufmacher
Etwas, das vorher kommt
Luigi Giussani

Aufzeichnungen des Beitrags von Luigi Giussani bei der Versammlung der Verantwortlichen, Januar 1993. Der Aufmacher in diesem Monat gibt einen Beitrag wieder, den Don Giussani bei der Versammlung der Verantwortlichen von Cl im Jahre 1993 gehalten hat. Er wurde bereits kurz danach veröffentlicht 1 Der Titel des Heftes lautete: Die Methode des Glaubens (April 1994). Gerade wegen der grundlegenden Darlegung der Methode schlagen wir es erneut vor. Don Julián Carrón sagte beim jüngsten Eröffnungstag der Lombardei (Siehe Spuren, Oktober-Ausgabe) in einer entscheidenden Passage: «Darin liegt die Herausforderung, vor der wir stehen. Die Fähigkeit zum Gehorsam liegt im Vorrang, den wir dem einräumen, was vor unseren Augen geschieht und jenem „Etwas, das vorher kommt“. Don Giussani erinnerte uns daran, als er von einer stets gegenwärtigen Gefahr sprach: der Gefahr, die Methode zu ändern.» Carrón erklärte unlängst in einem Gespräch mit Verantwortlichen wiederum in Bezug auf diesen Text: «Alle diese Dinge machen deutlich, was mit diesem Schritt auf dem Spiel steht: Entweder wir lassen zu, dass dieses „etwas, das vorher kommt“ und das, was geschieht, alles bestimmt, und daraus geht alles übrige hervor, schließlich auch die Gemeinschaft, oder wir führen unvermeidlich etwas Anderes ein. Nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil es eben unvermeidlich ist. Seitdem ich mir dessen bewusst geworden bin, erschauere ich. Denn wir stehen an einer Wegkreuzung, an einem entscheidenden Punkt der Frage. Wir müssen uns alle Zeit nehmen, um uns zu helfen, diese Sache bis ins letzte zu verstehen.»

Ich möchte kurz die bestimmenden und grundlegen­den Faktoren einer „Bewegung“ darlegen.

1.Der erste grundlegende Bestandteil einer Bewegung:
Der Mensch stößt auf eine andersartige Menschlichkeit, auf eine andersartige menschliche Wirklichkeit.
Die Bewegung ist die Ausbreitung eines Ereignisses, des Ereignisses Christi. Wie aber breitet sich dieses Er­eignis aus? Was ist das anfängliche, ursprüngliche Phä­nomen, aufgrund dessen die Menschen betroffen sind und sich zusammenschließen? Ist es eine Katechese – das, was wir „Seminar der Gemeinschaft“ nennen? [Das „Seminar der Gemeinschaft“ ist die Katechese – Text, persönliche Betrachtung und gemeinsame Treffen – der Bewegung Comunione e Liberazione, A.d.R.]. Nein, jede Katechese kommt danach, sie ist nur ein Mittel zur Entfaltung von etwas, das vorher kommt.
Die Art und Weise, in der die Bewegung – das christ­liche Ereignis – gegenwärtig wird, besteht darin, auf ei­ne andersartige Menschlichkeit zu stoßen, die uns berührt und uns anzieht, weil sie – untergründig, etwas konfus oder aber deutlich – einer grundlegenden Erwartung unseres Seins entspricht, einem ursprünglichen Bedürf­nis unseres menschlichen Herzens.
Das Ereignis Christi wird „jetzt“ gegenwärtig im Phänomen einer andersartigen Menschlichkeit: Ein Mensch stößt darauf und wird von der Vorahnung ei­nes neuen Lebens überrascht, von etwas, das seine Aussicht auf Gewissheit, auf Positivität, auf Hoff­nung und auf Nützlichkeit im Leben steigert und ihn zur Nachfolge bewegt.
Jesus Christus, jener Mensch von vor zweitausend Jahren, wird zur Gegenwart, verborgen unter dem Ge­wand, dem Ausdruck einer andersartigen Menschlich­keit: Es ist eine Begegnung, wir stoßen auf eine andersartige Menschlichkeit – es ist die Erfah­rung einer andersartigen Menschlichkeit –, die uns überrascht, weil sie mehr als alle Gedanken oder Vor­stellungen den natürlichen Bedürfnissen unseres Her­zens entspricht. Und zwar in einem Maße, wie wir es nie erwartet oder erträumt hätten, wie es uns unmöglich erschien und woanders nicht zu finden war.
Die menschliche Verschiedenheit, in der Christus gegen­wärtig wird, besteht gerade in der größeren Entspre­chung. Diese Menschlichkeit, auf die wir uns einlassen, entspricht den Bedürfnissen unseres Herzens und un­serer Vernunft, in einer Angemessenheit, die vorher undenkbar und unvorstellbar war.
Diese Begegnung der Person mit einer andersartigen Menschlichkeit ist etwas äußerst Einfaches, etwas abso­lut Elementares, das vor allem anderen kommt, vor jeder Katechese, Überlegung und Entwicklung. Es handelt sich um etwas, das keiner Erklärung bedarf, sondern nur wahrgenommen werden muss, etwas, das man aufnehmen muss und das dadurch, dass es der strukturellen Erwar­tung des Herzens entspricht, Staunen und eine Gemütsregung hervorruft, das eine Aufforderung in sich trägt und zur Nachfolge anregt. «Denn in Wirk­lichkeit können wir nur das anerkennen, für das es in uns eine Entsprechung gibt», wie Kardinal Ratzinger sagte (vgl. II Sabato, 30.1.1993). In der Entsprechung liegt das Kriterium des Wahren.
Die Begegnung mit einer andersgearteten menschlichen Gegenwart geht allem anderen voraus, und zwar nicht nur am Anfang, sondern auch in jedem Augenblick, der dem Anfang folgt – sei es ein Jahr oder zwanzig Jahre später. Das ursprüngliche Phänomen – das Zusammentreffen mit einer anderen menschlichen Wirklichkeit, das Erstaunen, das daraus erwächst – ist dazu bestimmt, das begründende und ursprüngliche Phä­nomen eines jeden Moments innerhalb der Entwicklung zu werden. Denn es gibt keinerlei Entwicklung, wenn sich das ursprüngliche Phänomen nicht wiederholt, das heißt, wenn das Ereignis keinen Bestand in der Zeit ge­winnt, wenn es nicht in der Gegenwart stattfindet. Entweder es er­neuert sich, oder es geschieht überhaupt nichts, bezie­hungsweise man beginnt sofort, über das geschehene Ereignis zu theoretisieren, und macht sich auf die Su­che nach Abhilfen, die das ersetzen, was wirklich am Ursprung der Andersartigkeit liegt. Der begründende Faktor ist dauerhaft, er ist die Begegnung mit einer an­dersartigen menschlichen Wirklichkeit. Wenn sich also das, was sich ursprünglich ereignet hat, nicht wieder ereignet und erneuert, kann sich keine wirkliche Konti­nuität entfalten. Wenn man die Begegnung mit einer neuen Wirklichkeit nicht hier und jetzt lebt, dann ver­steht man auch nicht das, was einem vorher widerfah­ren ist. Das ursprüngliche Ereignis erhellt und vertieft sich nur dann, wenn es sich jetzt wieder ereignet. Und nur so stellen sich auch eine Kontinuität und eine Entwick­lung ein.
Dieser erste Faktor deutet auf die Tatsache hin, dass «alles Gnade ist». Die Begegnung mit einer neuen menschlichen Wirklichkeit ist eine Gnade – es ist immer eine Gnade –, ansonsten wird sie zu einem Forschungs­vorhaben der eigenen Gedanken oder zur anmaßenden Selbstbehauptung der eigenen kritischen Fähigkeiten. Die Andersartigkeit, der man sich bewusst wird, der Ursprung der andersartigen Menschlichkeit, auf die man sich einlässt, ist reines Geschenk. Das anfängliche Ereignis entfaltet sich nur, wenn man immer wieder von der Begegnung mit einer neuen menschlichen Wirklichkeit ausgeht: «Sucht täglich das Antlitz der Heiligen, und lasst euch durch ihre Rede ermutigen», so lädt uns die Didache, eine Schrift des Urchristentums, ein.
Die Fortdauer dessen, was am Anfang geschehen ist, bewahrheitet sich also nur dank der Gnade einer immer wieder neuen und Staunen erweckenden Begegnung, so als sei es das erste Mal. Ansonsten treten anstelle des Staunens die Gedanken in den Vordergrund, die unsere eigene kulturelle Entwicklung hervorzubringen ver­mag, oder die Kritik, die das eigene Gespür anhand dessen entwickelt, was man gelebt und was man im Leben gesehen hat, oder die Alternativen, die man ein­führen möchte, und so weiter.
Die Begegnung mit einer anderen menschlichen Wirklichkeit hat eine grundsätzliche Bedeutung auch für die Ethik. Die Wirkung dieser Begegnung auf die Wirklichkeit fordert die ursprüngliche Haltung heraus, mit der uns der Schöpfer ins Leben gerufen hat, das heißt die Haltung des Kindes, das sich ganz hingibt und folgt. «Jahwe, nicht sinnet Hoffart mein Herz, / nicht erheben sich stolz meine Augen. Nach großen Dingen jage ich nicht, / nach Dingen, die mir zu hoch. ... Wie ein Kind auf dem Schoß der Mutter, / wie ein Kind, so ruht meine Seele in Dir» (Psalm 131). Man muss den Blick eines Kindes haben, um dieses Phänomen der andersartigen Menschlichkeit anzuerkennen: Eine Demut, eine Verfügbarkeit, eine Einfachheit des Herzens, eine Armut des Geistes, eine Haltung also, die den Erwach­senen selbst dann abhanden kommen kann, wenn sich bereits die erste Begegnung ereignet hat. Und damit wird das ursprüngliche Ereignis, das zum Gedächtnis geworden ist, ein Faktum der Vergangenheit, es wird zu einer „frommen Erinnerung“. Lebt man aber mit dieser Einfachheit und Verfügbarkeit, so kann man auch über Jahre hinweg gefehlt haben und dennoch leichter wieder aufbrechen als jemand, der durchaus mutig war und sich nichts hat zuschulden kommen lassen.
In dieser „Armut des Geistes“ und „Einfachheit des Herzens“ spielt sich die menschliche Freiheit ab. So wie es in Spuren christlicher Er­fahrung heißt: «Auch in der christlichen Erfahrung, ja vor allem in der christlichen Erfahrung wird deutlich, wie sehr in einer authentischen Erfahrung das Selbst-Bewusstsein und die Fähigkeit zur Kritik (die Fähigkeit zu verifizieren!) einbezogen sind und deshalb eine authentische Erfahrung weit davon entfernt ist, sich auf einen flüchtigen Eindruck oder eine rein sentimen­tale Reaktion zu beschränken. Es ist dieses „Verifizie­ren“, durch das in der christlichen Erfahrung die ge­heimnisvolle göttliche Initiative die Vernunft des Men­schen existentiell zur Geltung kommen lässt. Und es ist dieses „Verifizieren“, in dem sich die Freiheit des Men­schen zeigt: denn der Mensch kann die überragende Entsprechung zwischen dem anwesenden Geheimnis und der eigenen menschlichen Entwicklung nur in dem Maße wahrnehmen und anerkennen, in dem er sich der eigenen grundsätzlichen Abhängigkeit, des ei­genen Geschaffenseins in lebendiger Weise bewusst ist. Darin besteht die „Reinheit des Herzens“, die „Armut des Geistes“.
Und in dieser Armut des Geiste liegt das ganze Drama der Freiheit. Es ist ein Drama, das so sehr in der Tiefe des Menschseins ge­schieht, dass es der Mensch in der Regel gar nicht als solches wahrnimmt.»
Wer aber, von der andersartigen Menschlichkeit überrascht, nun zu seiner Bestimmung aufbricht und die Dinge von sich aus zu „machen“ versucht, der ver­liert alles. Er muss nachfolgen. Diese andersartige menschliche Gegenwart ist etwas anderes, dem man ge­horchen muss. Durch das immer neue Sich-Einlassen in der Nachfolge und im Gehorsam festigt sich eine Kontinuität nach der ersten Begegnung.
Ich möchte hierzu ein Beispiel anführen. Gehen wir davon aus, dass sich heute einige Personen versammeln, die die Erfahrung, von der wir sprachen, bereits erlebt haben, und denen das Ereignis, von dem sie getroffen wurden – ein Ereignis, das ihnen wohl tat und das ihr Leben sogar gezeichnet hat –, nachdrücklich in Erinne­rung geblieben ist. Und gehen wir davon aus, dass diese Personen das Ereignis nun wiederaufnehmen wollen, um eine „Diskontinuität“ zu überbrücken, die sich im Laufe der Jahre eingestellt hat. Der Grund, weshalb sie sich noch als Freunde empfinden, ist eine vergangene Erfahrung, ein Faktum, das sich einmal ereignet hat, aber in der Gegenwart zu einer „frommen Erinnerung“ geworden ist, wie wir sagten. Wie ist es aber nun für sie möglich, wieder eine Kontinuität mit dem ursprünglichen Ereignis herzustellen, das sie betroffen hat? Wenn sie zum Beispiel sagen würden: «Wir wollen uns zusammenschließen, um eine Katechesegruppe zu bilden, eine neue politische Initiative zu entwickeln, eine karitative Aktivität zu unterstützen oder ein Werk zu begründen und so weiter», so wäre keine dieser Initiativen angemessen, um diese Diskontinuität zu überbrücken. Es braucht „etwas, das vorher kommt“, gegenüber dem alles andere nur ein Mittel der Entwicklung ist. Es ist also notwendig, dass sich das, was ihnen am Anfang geschehen ist, wieder ereignet: nicht so, „wie“ es am Anfang geschehen ist, sondern „das, was“ am Anfang geschehen ist: die Begegnung mit einer andersartigen menschlichen Wirklichkeit, in der sich das Ereignis erneuert, das sie am Anfang bewegt hat. In diesem Falle tut man sich zusammen und, indem man jemandem folgt, knüpft man an das an, was am Anfang geschehen ist. Und alle grundlegenden Faktoren der vergangenen Erfahrung treten erneut reifer und klarer hervor. In der Erneuerung des ersten Anstoßes – und somit der Überraschung über die Entsprechung zwischen einer andersar­tigen menschlichen Gegenwart und den strukturellen Bedürfnissen des Herzens – empfindet man den Nach­hall desselben Ereignisses, das zehn oder zwanzig Jahre vorher in der Schulbank oder der Gruppe an der Uni­versität geschehen ist.
Ohne die Gegenwart dieser Erfahrung – die Begeg­nung mit einer andersartigen Menschlichkeit – würde je­de „Anbindung“, mit der man das wieder aufzunehmen versucht, was unterbrochen wurde, keine Kontinuität herstellen.
Die Kontinuität mit dem „Damaligen“ stellt sich nur durch das erneute Geschehen desselben Ereig­nisses, desselben Anstoßes hier und jetzt wieder her. Zehn oder zwanzig Jahre später stellt sich dieselbe Er­fahrung wieder ein, wenn jemand von der Begegnung mit einer neuen Wirklichkeit ausgeht und sich «wie ein Kind auf dem Arm seiner Mutter» anvertraut, nachfolgt und gehorcht. Denn diese Andersartig­keit geht nicht aus seiner Phantasie oder seinem Denken hervor, aus seiner dialektischen Fähigkeit oder seiner Ei­gensinnigkeit, kurz aus all dem, was ihn über Jahre hin­weg abgehalten hat. Es ist etwas anderes, unverkürzbar Neues – ein Ereignis –, dem es zu gehorchen gilt.

An dieser Stelle lässt sich nun der zweite Faktor auf­zeigen.

Wie können in der sich stets erneuernden Begegnung mit einer andersartigen menschlichen Gegenwart die Überraschung, die Hoffnung und die Vorahnung, die daraus erwachsen und zur Nachfolge bewegen, erzogen, geformt und „hervorgeholt“ werden? Das grundlegendste In­strument der Erziehung ist das, was wir „Seminar der Gemeinschaft“ nennen. Es ist grundlegend, weil es systematisch und zusammenhängend und deshalb die Dinge erklärt und ihnen eine Einheit gibt. Das „Seminar der Gemein­schaft“ ist das Mittel der Entwicklung des „etwas, das vorher kommt“, der Erfahrung der Begegnung mit einer andersartigen Menschlichkeit; und zwar als Bewusstsein, Zuneigung und bewegender Anreiz im Umgang mit den Beziehungen
Der wesentliche Aspekt im Verlaufe der Arbeit des „Seminars der Gemeinschaft“, besteht also darin, sich der „Gründe“ der Worte bewusst zu werden, die man gebraucht. Und „Grund“ bedeutet: die Entspre­chung zwischen der Wirklichkeit, auf die man sich ein­lässt, und den strukturellen Bedürfnissen des Herzens.
Des wesentliche Aspekt des „Seminars der Gemeinschaft“ besteht also darin, dass jemand „lehrt“. Es ist eine Person – oder mehrere –, in der sich der ur­sprüngliche Anstoß erneuert und entfaltet und der sich damit für andere als Ausgangspunkt für die Wiederholung der ersten Überraschung anbietet. Es ist notwendig, dass der, der das „Seminar der Ge­meinschaft“ leitet, nicht eine Rolle oder „Aufgabe“ über­nimmt, sondern eine Erfahrung mitteilt, in der sich das anfängliche Staunen erneuert. Von dem, der von dem Bewusstsein einer auszuführenden Rolle geprägt ist oder sich selbst als Vorgesetzter und Überlegener sieht und zu lehren beansprucht, kann keine Mitteilung einer Erfahrung ausgehen. Denn der einzige, der lehrt, ist der Geist Gottes: es ist der Geist, der den ersten Anstoß gibt und ihn erneuert.
Wer das Seminar der Gemeinschaft leitet und eine Erfahrung mitteilt, in der das ursprüngliche Staunen wieder wachgerufen wird, vermittelt damit zugleich den Grund der Worte, die er gebraucht. Den Worten, die man verwendet, einen Grund zu geben, bedeutet, die Erfahrung der Entspre­chung mitzuteilen zwischen dem Ereignis einer Gegenwart und dem, was das Herz ursprünglich erwartet, und zwar mit dem Licht und der Wärme, die diese Wor­te eröffnen und darbieten.
So lässt der Grund, den man jedem Wort gibt, «vom Licht zum Licht» wandeln, wie der heilige Paulus sagt. Sie leiten zur immer klareren Einsicht des Wahren, denn jedes Wort, das man verwen­det, erklärt die Antwort auf ein Bedürfnis des Herzens, das auf der Suche nach der eigenen Bestimmung ist.
Die Armut des Geistes, die schon der erste Faktor ein­bezog, kehrt hier erneut wieder. Ohne die Armut das Geistes hört man nicht das, was mitgeteilt wird: der Ein­wand der üblichen Gedanken überwiegt, also das, an dem man am meisten hängt oder was man beansprucht. Des­halb sagte man dem Blindgeborenen: «Was willst du von einem Ignoranten schon lernen, der nicht das Ge­setz studiert hat!» – heute würde man sagen, der nicht Psychologie, Philosophie und Theologie studiert hat. Wer stattdessen nachfolgt und gehorcht, der entwickelt sich; und je mehr er nachfolgt, desto größer wird in ihm der Wunsch zur Nachfolge.
Es gibt noch eine Anmerkung zu diesem zweiten Faktor. Die beste Haltung, um das zu verstehen, was uns mitgeteilt wird, ist paradoxerweise die Leidenschaft, es anderen mitzuteilen – die Leidenschaft, anderen mitzu­teilen, was wir erfahren konnten. Dies zeigt sich auf ein­fache und schöne Weise in einem Brief, den einer unse­rer Freunde aus Kanada schrieb. Er berichtet darin, dass im vergangenen Jahr ein Arzt namens Mark zu der klei­nen Gemeinschaft der Bewegung in Montreal hinzuge­kommen ist. Eine intensive und dramatische Person, mit vielen Fragen und Zweifeln. Nach einem mühevollen Jahr des Zusammenlebens «war es immer noch so, als habe er nie richtig zugestimmt», schreibt John, der Ver­fasser des Briefs. Am Ende des Jahres erhielt Mark die Einladung, für einen wichtigen Studienaufenthalt zwei Jahre an die Universität von Buffalo zu wechseln. Die erste Antwort von Mark war: «Ich gehe nicht.» «Wes­halb willst du nicht gehen?», fragte ihn daraufhin John. «Würde ich das Angebot annehmen, so müsste ich euch verlassen. Und ich kann euch nicht verlassen.» An die­sem Punkt redete ihm John zu: «Nimm die Möglichkeit wahr! Geh nach Buffalo und teile den anderen das mit, dem du hier begegnet bist.» Er willigte ein, und schon nach wenigen Monaten fand er mehr Leute um sich, als er verlassen hatte. Doch das ist nicht alles. Zwei Monate nach Marks Abreise ging eine Krankenschwester aus der Gemeinschaft von Montreal an das Krankenhaus, in dem er bisher gearbeitet hatte. Und schon nach wenigen Tagen kam die Oberschwester des Krankenhauses auf sie zu, zeigte mit dem Finger auf sie und sagte: «Mark Basic!» Sie entgegnete darauf erstaunt: «Was wollen Sie damit sagen? Natürlich kenne ich Mark Basic, er ist ei­ner meiner besten Freunde...». «Das dachte ich mir», er­widerte die Oberschwester. «Du und Mark, ihr macht die Dinge auf dieselbe Art und Weise.» Diese Frau war auf dasselbe Phänomen einer andersartigen Menschlich­keit gestoßen, und deshalb war das für sie der erste An­stoß.
Ich habe diese Episode vor allem in Hinblick auf den ersten Teil erwähnt. Denn dort wurde deutlich, wie das, was jenem jungen Arzt mitgeteilt wurde, in einer mis­sionarischen Spannung nicht mehr auf das Gestrüpp von „wenn“ und „aber“ stieß, in dem er sich vorher ver­strickt hatte.

Kommen wir zum dritten Faktor, der hier nur kurz angeschnitten werden soll.

Der dritte Faktor betrifft sozusagen „alles übrige“. Das heißt: es ist unmöglich, dass aus der bisher beschriebe­nen Erfahrung nicht ein neues Subjekt hervorgeht, eine neue handelnde Person in der Welt, eine Gemeinschaft, die sich auf andere Weise mit der Welt auseinandersetzt; das heißt menschlicher, mit einer größeren Entspre­chung gegenüber den Erwartungen des Herzens. Es ist unmöglich, dass hieraus keine Versuche entstehen, vor­handene Bedürfnisse zu teilen – Handlungen und Initia­tiven der Nächstenliebe; dass keine Gruppe von Personen entsteht, die die Einheit der Katholiken in der Politik mit aller gebotenen Geduld erneuern will; dass keine neuen Aktivitäten für jene entstehen, die keine Arbeit haben und so weiter. Das Ereignis, das das „Seminar der Gemeinschaft“ in seinem tiefen Bezug zum Herzen erhellt, wird so unausweichlich zu einem Subjekt, das in der Welt handelt. Hieraus entsteht das Werk – das Opus Dei. Denn das Werk ist nichts anders als ein Ich im Be­zug zum Ideal, das in seinem Bezug zum Ideal die Wirk­lichkeit in jeder Lage entsprechend dem Ideal zu wan­deln bestrebt ist: im Aufbau einer Familie oder in der Zustimmung zur Berufung der Jungfräulichkeit, in der Arbeit oder im Besuch betagter Menschen im Altersheim des eigenen Wohnviertels.