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Aufmacher
Die Wirklichkeit selbst ruft aus: «Er ist da!»
Davide Prosperi und Julián Carrón

Mitschriften der Beiträge von Davide Prosperi und Julián Carrón beim Eröffnungstag der Erwachsenen von CL aus der Lombardei. Messehalle Rho-Pero, 27. September 2008

DAVIDE PROSPERI
Ich möchte zur Einführung die Beiträge der Diakonie der Lombardei zusammenfassen und zwei Dinge unterstreichen.

Wir alle haben noch das vor Augen, was diesen Sommer geschehen ist: die außergewöhnlichen Begegnungen, die wir hatten. Sie waren außergewöhnlich, weil sie sich unzweifelhaft auf außergewöhnliche Personen beziehen, die fähig sind, eine Neuheit an Leben aufzuzeigen, das heißt, auf überzeugende Weise mitzuteilen. Es sind «Protagonisten», wie es beim Meeting in Rimini hieß. Das zeigen die Geschichten von Marcos und Cleuza Zerbini ebenso wie die Berichte von Vicky, Rose, Pater Aldo Trento, Monsignor Pezzi und viele anderen.
Woher kann eine solche Außergewöhnlichkeit kommen? Auf dem diesjährigen Meeting haben für viele im Rahmen der kulturellen Weite dieses Ereignisses, vor allem die Zeugnisse dominiert (das heißt, man ist sich der Zeugen bewusst geworden). Dadurch wurde deutlich, dass wir uns auf dem Meeting mehr noch als in anderen Jahren nicht von Dingen haben zerstreuen lassen, die von unserem Hauptinteresse wegführen, nämlich der Verifizierung der christlichen Erfahrung in ihrer Überzeugungskraft und Wertschätzung des Menschlichen. Das konstatierte auch der Journalist Giampaolo Pansa, der im Nachrichtenmagazin Espresso schrieb: «Diese Leute haben dich nicht gefragt, von wo du kamst, sondern wollten nur verstehen, wohin du unterwegs bist. […] Ich spürte jedesmal, dass man mir zuhörte, ohne über mich zu urteilten. Das war mir noch nie zuvor geschehen». Woher kommt diese Neuheit? Ganz sicher nicht von einer Strategie, die man sich vorher zurecht gelegt hat. Ich würde vielmehr sagen, dass sie Frucht eines Weges der Erziehung zum Glauben ist, der für viele von uns immer mehr eine Erfahrung zu werden beginnt.
Wir möchten klar erkennen, was wir vor Augen haben und verstehen, was das mit dem zu tun hat, was wir im letzten Jahr im Seminar der Gemeinschaft gelesen haben und was auf den Exerzitien gesagt wurde. Deswegen wollen wir als Erstes die Frage stellen: Was haben all diese Fakten, die uns beeindruckt haben, mit dem Glauben zu tun?
Auch wir können hier und jetzt etwas bezeugen, was überhaupt nicht selbstverständlich ist, gerade wenn man bedenkt, wie sehr es über unser Leben entscheidet. Obwohl jetzt dreieinhalb Jahre seit dem Tod von Don Giussani vergangen sind, dauert diese überzeugende Erfahrung christlichen Lebens, der wir in der Bewegung begegnet sind, ununterbrochen fort. Die Weggemeinschaft lebt eine Einheit und hat eine Leitung, und dafür müssen wir dem Heiligen Geist danken, denn das hätte nicht so sein müssen, es ist wirklich eine Gnade. Persönlich kann ich das auch von diesen drei Jahren der Freundschaft mit Don Carrón sagen – aber ich denke, dass viele das sagen können. Seine Autorität besteht darin, dass er wahrnimmt, was ein Anderer geschehen lässt, ein Anderer, der das Geheimnis ist, das alle Dinge hervorbringt und das eine wirkliche, fleischliche, sichtbare Wirklichkeit ist. So verweist er alle auf diesen Anderen und erleichtert es uns, ihn zu erkennen.
Das half uns die Außergewöhnlichkeit dessen, von dem ich zuvor sprach, wahrzunehmen. Aber wenn das so ist, dann gilt die Methode nicht nur für die größte Autorität, sondern für jeden von uns. In uns lebt eine Spannung, auch wenn sich die ganz normalen Abläufe, die die meiste Zeit unseres Lebens ausmachen, scheinbar wiederholen. Die Gegenwart Christi ist gerade deshalb ein außergewöhnliches Faktum, weil sie sich in der Normalität zeigt, im alltäglichen Leben. Mehr noch, je stärker sich das Außergewöhnliche im Alltag zeigt, desto mehr nehmen wir es als ein Ereignis wahr, das uns verändert, Tag für Tag.
Benedikt XVI. sagte im Collège des Bernardins in Paris, als er von den ersten Mönchen sprach: «Ihr Ziel hieß: quaerere Deum. In der Wirrnis der Zeiten, in der nichts standzuhalten schien [aber unsere Zeit ist auch nicht weniger wirr], wollten sie das Wesentliche tun – sich bemühen, das immer Gültige und Bleibende, das Leben selber zu finden. Sie waren auf der Suche nach Gott»1. Unsere Suche als Mensch ist genau dieses quaerere Deum, und weniger als das, würde uns – wie wir es auch wieder bei den Exerzitien gehört haben – nie zufrieden stellen.

Aber es gibt – so sagte ich zuvor – noch einen zweiten Punkt, der sich mit Blick auf die jüngsten Erfahrungen herauskristallisiert hat: dass nämlich diese Ereignisse, so außergewöhnlich sie auch sein können, nicht hinreichen, um uns Gewissheit über unseren Weg zu verleihen – oder zumindest scheinen sie nicht zu genügen. Jemand von euch erzählte, dass eine Freundin (die zum ersten Mal dabei war) ihm am Ende der Ferien der Gemeinschaft gestand: «Das, was ich gesehen und gehört habe, hat mich sehr beeindruckt, es war unerwartet und hat mir entsprochen. Aber was kann verhindern, dass mich in zwei Monaten der Zweifel überkommt, und ich dann meine: alles hing nur von den momentanen Gefühlen ab?».
Manchmal entdecken wir in uns und unter uns eine Schwäche, was die Beziehung zwischen Ereignis und Gewissheit anbelangt, das heißt zwischen dem Ereignis, das uns geschieht, zwischen der Begegnung, die wir gemacht haben, und der Gewissheit, die daraus erwächst. Aber wenn das so ist, dann müssen wir uns unbedingt helfen, denn ansonsten wird der Weg durch diese Schwäche mühsam. Wir kommen nur humpelnd voran, weil wir diese Gewissheit brauchen, um leben zu können, wir brauchen sie wie die Luft zum Atmen.

Zusammenfassend möchten wir dich also in folgenden beiden Anliegen um Hilfe bitten: Erstens: Was haben alle diese Ereignisse, die uns beeindruckt haben, mit dem Glauben zu tun? Zweitens: Wie helfen uns diese Ereignisse, diese außerordentlichen Geschehnisse dabei, zu einer Gewissheit zu gelangen?


DON JULIÁN CARRÓN
«Herr, was ist der Mensch, dass du dich um ihn kümmerst, des Menschen Kind, dass du es beachtest?»2. An diese Worte muss ich in diesen Tagen angesichts dessen, was ich unter uns geschehen habe, häufiger denken. Viele Leute haben sich verändert und in Bewegung gesetzt. Es berührt mich, wie auch viele von euch. Und so kommt mir unweigerlich folgende Frage in den Sinn: Wer sind wir, dass das Geheimnis sich unser auf so faszinierende Weise erbarmt? Es überkommt mich fast ein Gefühl der Scham, weil ich gern dieselbe Wahrnehmung hätte, die ich in unserer Freundin Vicky sehe. Wie wir bei dem Zeugnis auf dem Meeting gehört haben, fragt sie unaufhörlich: «Wer bin ich, dass mir so etwas passiert?». Oder Franco, der Häftling aus Padua, der sich fragt: «Warum ist das gerade mir passiert?». Oder die 20-Jährige, die darüber staunt, dass das Sein zum Freund des Nichts geworden ist. Diese Personen erfahre ich als Freunde; nicht, weil sie mehr oder weniger genial sind, sondern weil sie sich von der Gegenwart des Geheimnisses berühren lassen. Ich sehe, wie sie von derselben Sache berührt sind, die auch die Gottesmutter bezeugt: «Der Herr hat auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut»3. Und ich empfinde eine unendliche Dankbarkeit für diese Zärtlichkeit des Geheimnisses uns gegenüber. Sie ist so groß, dass ich sie nicht erfassen kann. Denn der Herr hat wirklich Erbarmen mit unserer Nichtigkeit. Ich denke, dass ich damit das zum Ausdruck bringe, was viele von euch empfinden angesichts dessen, was geschieht.


Die Fakten
Wie es uns Don Giussani nahe gebracht hat, liegt hier der Ausgangspunkt: Die Erfahrung, dass wir von dem, was geschieht, betroffen sind. Das ist der Anfang. Dadurch drängt sich die Frage nach dem Ursprung dieses Betroffenseins auf. Wir können diese Frage aber nur ernst nehmen, wenn wir auf bestimmte Fakten, bestimmte Personen schauen, die wir kennen gelernt haben. Es sind diese Fakten, die wir anschauen müssen. Sie helfen uns zu verstehen, was gerade geschieht. Aber wir verstehen nicht wirklich, was geschieht, wenn wir nicht gleichzeitig die Methode verstehen, durch die das Geheimnis dies geschehen lässt. Das ist äußerst wichtig. Denn das, was wir sehen, ist die Antwort auf die Wahrnehmung, von der wir bei den Exerzitien der Fraternität ausgegangen sind: dass uns das Geheimnis abstrakt scheint.
Der Herr hat Erbarmen mit unserer Schwierigkeit und unserer Nichtigkeit. Aber um darauf zu antworten, hat er uns nicht jemanden geschickt, der uns das Ganze ein bisschen besser erklärt. Er lässt vielmehr etwas vor unseren Augen geschehen. Er zeigt sich uns allen, und das hilft uns dabei, aus uns selbst herauszukommen. Wenn wir uns auf den Weg einlassen, wie wir ihn bei den Exerzitien formuliert haben, dann können wir das bekämpfen, was am Ursprung dieser Schwierigkeit liegt. Don Giussani sah den Ursprung in der Trennung zwischen dem, was in unserer Erfahrung geschieht, und unserer Vernunft. Das heißt wir stellen über das Geheimnis zwar große Überlegungen an, nehmen es aber nicht selbst wahr. Deswegen müssen wir uns gemeinsam helfen, auf die Fakten zu schauen und dabei die Beziehung zwischen Vernunft und Erfahrung deutlich herauszustellen.
Der Ausgangspunkt – und ich werde nie müde werden, das zu wiederholen – sind immer die Fakten. Der Ausgangspunkt ist immer die Wirklichkeit, wie Don Giussani es uns im Zehnten Kapitel des Religiösen Sinns veranschaulicht. Was man dort liest, ist genau das, was Jesus im Evangelium macht: «Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; und doch sorgt euer himmlischer Vater für sie»4. Wovon geht Jesus aus? Er sieht die Vögel. Aber für ihn ist es nicht selbstverständlich, dass es die Vögel gibt. Wenn er sich ihrer in der Wirklichkeit bewusst wird, kommt er deshalb unvermeidlich dazu, an den Vater zu denken. Er möchte uns einen Blick vermitteln, der nicht beim Schein stehen bleibt, sondern bis zum Ursprung vordringt, bis zum Vater, aus dem unaufhörlich alles hervorgeht. Das ist für jeden Augenblick des Lebens entscheidend. Denn wenn uns dieser Blick auf die Wirklichkeit nicht vertraut wird, dann werden wir sofort am Vater zu zweifeln beginnen, kaum dass sich die Wirklichkeit in einem weniger angenehmen Licht zeigt. Aber ob sie nun hässlich oder schön ist, die Wirklichkeit gibt es und die Tatsache, dass sie hässlich ist, heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Es gibt die Wirklichkeit und wir erleiden sie. Aber wenn es sie gibt, wenn es diese Wirklichkeit gibt, wenn es diesen Umstand gibt, wenn es diese Krankheit gibt, die ich bekomme, wenn es diese Traurigkeit gibt, die mich jetzt überkommt, wenn es all das gibt, dann heißt das, dass es mich gibt. Und wenn es mich gibt, dann gibt es einen Anderen, der mich in diesem Augenblick schafft.

Es hat mich immer beeindruckt, dass Don Giussani dieses elementare Wissen auf seinen Kern reduziert, wenn er versucht, es zu vermitteln. Wenn ich mit umfassendem Bewusstsein sage:«Ich bin» , dann bedeutet dies gleichzeitig zu sagen, «Ich bin geschaffen». Im Faktum, dass ich bin, liegt bereits Seine begleitende Gegenwart («in Besitz genommen sein – einem Anderen gehören»5). Das ist keine Innerlichkeit, keine Projektion des Geheimnisses durch meine Vorstellung. Es ist die Wirklichkeit, die Seine Gegenwart hinausschreit!
Ich erinnere mich immer daran, dass sich mir während meiner Lehrzeit am Gymnasium ein Junge näherte und sagte: «Sind Sie sich denn so sicher mit dem, was sie über Gott sagen? Sind Sie sich genauso sicher, wie Sie darüber reden?». Und ich antwortete: «Ja, weil ich nicht von Gott, sondern von der Wirklichkeit ausgehe». Es ist die Wirklichkeit, die Seine Gegenwart hinausschreit, weil sie sich – wie ein jeder von uns – nicht aus sich heraus schafft. Wenn wir nur ein minimales Bewusstsein haben, können wir das nicht leugnen! Andrej Sinjavski drückt das sehr gut aus: «Weder die Tradition, die Angst vor dem Tod oder der Wunsch, auf Nummer sicher zu gehen, zwingen uns zum Glauben. Noch die Furcht vor dem Herrscher, die sozialen Beweggründe und der Wunsch, sich das Heil zu sichern oder sich von der Masse abzuheben. Sondern wir sind schlicht durch das einfache Faktum zum Glauben gezwungen, dass Gott existiert.»6
Wir müssen den Mut aufbringen, unsere Vernunft auf diese Art und Weise zu gebrauchen. Denn genau dazu lädt uns der Papst immer wieder ein: Die Vernunft zu gebrauchen, sie schlagkräftig zu benutzen, sagt Don Giussani. Ansonsten werden wir immer dem Nichts, den Gefühlen, der Gemütsstimmung, den Schwierigkeiten ausgeliefert sein. Aber keine Schwierigkeit kann in Frage stellen, dass ich existiere und dass, wenn ich existiere, ein Anderer existiert, der mich jetzt macht.
Diese Dynamik der Wirklichkeit ist die Dynamik des Glaubens. Die Dynamik des Glaubens ist die Dynamik der Wirklichkeit in ihrer höchsten Kraft und Möglichkeit. Denn ich begegne nicht nur irgendeiner Wirklichkeit, sondern einer Wirklichkeit, die so außergewöhnlich ist (wie diejenige, die wir diesen Sommer gesehen haben), dass sie den Weg der Erkenntnis viel leichter eröffnet – wobei die Dynamik die gleiche bleibt. Der Glaube geht also nicht von einer Suggestion, einem Gefühl oder einer Vorstellung aus. Alles beginnt mit einem Ereignis, vor dem man steht und das so außergewöhnlich ist, dass dadurch unweigerlich die ganze Energie der Vernunft wachgerufen wird, um es zu begreifen.
Nochmal: Am Anfang steht keine Vorstellung von dem, was man nicht sieht, keine Flucht in das Jenseits, kein gefühlsbetontes Aufschwingen ins Unsichtbare, sondern etwas Gegebenes, das sich aufdrängt und nach einer Erklärung verlangt. Es fordert die Vernunft gerade deshalb in ihrer Ganzheit heraus, weil es meine ganze Menschlichkeit ergreift. Und was ist dieses Außergewöhnliche, dieses die Norm Übersteigende, das wir gesehen haben? Davide hat uns vorher daran erinnert: Der Blick von Rose, dem sich Vicky trotz anfänglichen Widerstrebens schließlich geschlagen gibt; eine Vicky, die – an Aids erkrankt und angesteckt von ihrem Mann, der sie dann verließ – allen die Hoffnung entgegen schreit. Die Rührung von Cleuza und Marcos Zerbini, die von einer unerwarteten Neuheit ergriffen wurden. Der Wille des Sträflings, in das Gefängnis zurückzukehren um dort das zu bezeugen, was ihm begegnet ist. Ein Depressiver wie Pater Aldo, der einen festen Bestand hat. Solch eine menschliche Festigkeit wünscht man sich auch, wenn man keine Depressionen hat! Und es gibt noch so viele andere Beispiele, die wir alle kennen! Ich habe diese hier bloß deshalb genannt, weil wir sie alle vor Augen haben: Personen, die anders, verändert sind – und das ist keinen Erfindung. Das sind Dinge, die man sich unmöglich ausdenken kann – sogar die Protagonisten selbst staunen ja darüber.

Der Weg des Glaubens, von dem wir auf den Exerzitien gesprochen haben, beginnt hier. Und die Frage, die ich mir oft stelle – um zu sehen, bis zu welchem Grad wir das tun, was euch vorgeschlagen wurde und was über das erneute Lesen der Exerzitien hinausgeht – ist folgende: In wie vielen von denen, die diese Fakten gesehen haben, wurde dieser Weg der Erkenntnis eröffnet, den wir im Seminar der Gemeinschaft studiert haben? Ich weiß, dass ihr alle die einzelnen Schritte kennt, ich halte es für selbstverständlich, dass ihr alles wisst, aber das bedeutet nicht einmal ansatzweise, dass uns diese Fakten wirklich herausgefordert haben, und dass wir alle diesen Weg gegangen sind, so wie er dort beschrieben wird. Deshalb reden wir immer noch oft von der Abstraktheit des Geheimnisses. Und warum? Warum fällt es uns so schwer, mit solch unwiderstehlichen, mächtigen Fakten vor Augen diesen Weg der Erkenntnis zu beginnen?
Don Giussani erklärt, dass man diese Fakten mit dem Herzen betrachten muss – damit es hier keine sentimentale Verkürzung dieser Aussage gibt: Es handelt sich um eine Vernunft, die zu ihrer Zuneigungskraft steht und sie einsetzt; das Herz als Vernunft und Affektivität ist die Form, in der sich die Vernunft auf angemessene Art und Weise verwirklicht. Was heißt es, dass die Vernunft zu ihrer Zuneigungskraft steht und sie einsetzt? Dass unsere Vernunft ergriffen wurde. Deshalb gibt es keine Vernunft ohne Zuneigung. Wir wurden von etwas betroffen und ergriffen, das diesen Weg eröffnet. Der Kern des Problems der menschlichen Erkenntnis ist keine besondere Intelligenz, sondern in der Tat die richtige Haltung des Herzens. Nicht die Intelligenteren haben Vorrang, sondern die Einfachen: Diese Personen (denen ich vielleicht nur einmal im Leben begegnen werde) werden zu Freunden – nicht, weil sie vielleicht intelligent sind, sondern weil sie sich berühren lassen. Und ich stelle überrascht fest, dass sie mich begleiten, dass ich immer wieder an sie denke – das zeigt, dass sie intelligenter sind.
Der Papst hat uns das während seines Besuchs in Frankreich ins Gedächtnis gerufen: «Wenn Er sich nicht zeigt, können wir nicht zu Ihm gelangen. Die Neuheit der christlichen Botschaft ist die Möglichkeit, jetzt allen Völkern zu verkünden: Er hat sich gezeigt. Er persönlich. Und jetzt ist der Weg zu Ihm offen. Die Neuheit der christlichen Botschaft ist kein Gedanke, sondern ein Faktum: Er hat sich gezeigt. Aber das ist kein blindes Faktum, sondern ein Faktum, das in sich selbst Logos ist – die Gegenwart der ewigen Vernunft in unserem Fleisch. Verbum caro factum est (Und das Wort ist Fleisch geworden; Joh. 1, 14): genau in der gleichen Weise ist der Logos auch heute in dem Faktum gegenwärtig, der gegenwärtige Logos in unserer Mitte. Das Faktum ist vernünftig. Natürlich muss die Vernunft immer demütig sein, um Ihn aufzunehmen; es bedarf der Demut des Menschen, die auf die Demut Gottes antwortet»7.
Genau das lehren uns die außergewöhnlichen Zeugen. Unser Anteil ist es, das Gegebene anzunehmen, die Demut zu haben, der Wirklichkeit, dem, was geschieht, den Vorrang zu lassen. Wenn wir diesen Weg der Erkenntnis nicht gehen – der Erkenntnis, die sich geschlagen gibt – können wir das, was geschieht, nicht verstehen. Deshalb leben wir immer noch eine Trennung zwischen der Vernunft und der Erfahrung und behaupten dann weiterhin, dass das Geheimnis abstrakt ist. Wenn aber jemand mit Einfachheit vor diesen Fakten steht, mit dieser Demut, die der Papst beschreibt, ist es unmöglich, dass das, was er sieht, nicht einen anderen Faktor einschließt. Warum bin ich so? Was ist dieser Faktor, der in den Tatsachen, die ich sehe, in der Veränderung, die ich in diesen Personen sehe, enthalten ist? Reicht irgendeine beliebige Erklärung für diese Veränderung aus?
«Lieber Julián, ich wollte dir etwas erzählen, das uns in den letzten Wochen geschehen ist. Eine Freundin von uns, eine junge Mutter, kämpft seit Jahren mit einer Krankheit. Sie hatte einen unterwarteten Rückfall. Es handelt sich um eine ernste Situation, die uns ständig dazu bewegt, um ein Wunder zu bitten und – da der Herr antwortet, wenn man Ihn bittet – geschieht schon jetzt ein Wunder: Unsere Zuneigung zu Christus wächst. Wenn man vor einer solchen Situation steht, kann man nicht ausweichen und Zeit mit einem «Aber» oder «Trotzdem» verlieren. Um vor ihr, ihrem Mann und ihren Kindern stehen zu können, muss man bitten und sich fragen: Wer macht uns das Geschenk ihrer Gegenwart? Wer schenkt uns diese Jahre der Freundschaft mit ihr? Und vor allem: Wer schenkt dieser Beziehung jetzt, in dieser Situation, eine unvorstellbare Tiefe und Intensität? Ihr Mann hat uns eines Abends wörtlich gesagt: «Diese Tage sind die schönsten unserer Ehe». Wie ist ein solches Faktum möglich?! Ohne Christus gibt es keine Erklärung. Es ist so, es ist geschehen, man hat es vor Augen. Aber man kann es nicht erklären, ohne zu dem Punkt zu gelangen, an dem man diese unverwechselbaren Züge anerkennt – so, wie man auch die Einheit unter uns nicht erklären kann, die Gemeinschaft, die unter uns, die sie kennen, aufblüht. Unter uns, die wir durch eine Freundschaft miteinander verbunden sind, die natürlich nicht jetzt entstanden ist, aber jetzt aufblüht. Eine ihrer Freundinnen, die gerade erst die Bewegung kennen gelernt hat, hat sie eines Tages besucht und dann so von ihrem Besuch berichtet: «Bevor ich eintrat, war ich angespannt, aufgeregt, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Am Ende, als ich das Haus verließ, war ich glücklich. Es war nicht so, dass ich lediglich bestimmte Vorstellungen, die ich vom Tod und dem Sinn des Leidens hatte, revidiert habe, sondern ich habe überrascht festgestellt, dass ich glücklich war. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber sicherlich verbirgt sich dahinter etwas Außergewöhnliches». Und als sie zum Seminar kam, fügte sie hinzu: «Ihr sagt „Christus“. Woher weiß ich, dass Er es ist? Ich kann diesen Namen nicht aussprechen. Ich vertraue euch, aber das genügt nicht». Wir haben zu ihr gesagt: «Einverstanden, vertrau uns, aber vertraue vor allem deinem Herzen, dieser Entsprechung, die du dort erfahren hast: Du bist fast verzweifelt eingetreten und glücklich wieder gegangen; du hast etwas Außergewöhnliches entdeckt. Helfen wir uns, Ihn zu entdecken, denn wir alle haben wie du das Bedürfnis, Sein Gesicht kennen zu lernen, Seinen Namen auszusprechen, uns an Ihn zu binden. Darin sind wir vereint».

Wer ist Dieser?
Wie wir gerade gelesen haben, hören wir häufig die Klage: «Aber es gelingt mir nicht, Seinen Namen zu sagen» (wie jene Frau sagt: «Ihr sagt Christus, aber wie kann ich wissen, dass Er es ist?») Vorige Woche sagte mir ein Mädchen: «Ich sehe wohl eine menschliche Andersartigkeit, aber warum soll ich sagen, dass es Christus ist?».
Wie soll man auf diese Frage vernünftigerweise antworten? Freunde, wir stehen hier vor derselben Frage wie die Apostel. Auch die Apostel hatten außergewöhnliche Dinge gesehen, Wunder, und sie sahen, dass dieser Mensch einzigartig war. Deshalb drängte sich ihnen die Frage auf: «Wer ist Dieser?» Sie erkannten eine Verschiedenheit, die unvermeidlich diese Frage aufwarf. Aber es gelang ihnen nicht, darauf erschöpfend zu antworten. «“Für wen halten mich die Menschen?”. Und sie sagten: “Einige für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für sonst einen von den Propheten”»8. Sie waren nicht fähig, sich von diesen Interpretationen zu lösen. Wie wir bei den Exerzitien sagten, ist nicht nur der Zeuge, der uns auf anderes verweist, sondern der, der uns die Frage beantwortet. Er ist es, der auf die Frage antwortet; Er hat auf diese Frage geantwortet: «Der Vater hat mich gesandt»9. Hier wird uns schlagartig bewusst, dass es die einzige Antwort ist, die dem Außergewöhnlichen, das wir vor Augen haben, entspricht, und zwar mehr als irgendeine andere von uns stammende Erklärung.
Und was ist mit uns? Wie unsere Erfahrung zeigt, haben auch wir diese anderen Formen der Menschlichkeit vor Augen. Wir sehen sie mit eigenen Augen. Aber oft bleiben auch wir verwirrt: «Warum muss ich Seinen Namen aussprechen? Wer versichert mir, dass Er es ist?». Es ist die Tradition der Kirche, die uns antwortet, indem sie uns sagt: «Schau, was am Ursprung all dieser unverwechselbaren Charaktere liegt, die du siehst, am Ursprung von allem Neuen, das du darin wahrnimmst und das durch das Antlitz verschiedener Personen vermittelt wird. Um diese unverwechselbaren Charaktere zu verstehen und zu erkennen, musst du zum Evangelium greifen. Du brauchst eine Vertrautheit mit dem Evangelium.»
Um mich verständlicher zu machen, erzähle ich euch eine Episode, die ich vor vielen Jahren in Spanien erlebt habe. Jemand hatte in einem Ort in der Nähe von Madrid unsere Freunde getroffen. Diese Person hatte bis dahin keinerlei Beziehung zur Kirche. Sie begann sich, mit unseren Leuten anzufreunden, und sah, was geschah, was sich an Neuem in ihrem Leben ereignete.
Dieser Jugendliche bleibt weiter mit uns zusammen und geht auch zur Messe. Dort hörte er das Evangelium und bemerkte in einem bestimmten Moment: «Den Jüngern im Evangelium geschah das Gleiche, was auch bei uns geschieht». Er hatte festgestellt, dass das Neue, das vor seinen Augen in der Beziehung mit den Freunden der christlichen Gemeinschaft, die er getroffen hatte, geschah, dasselbe war, was jenen in Umgang mit Jesus geschah! Er war sich nicht bewusst, dass es genau umgekehrt war, dass nämlich seinen Freunden das Gleiche geschah wie den Jüngern. Aber das ist nebensächlich. Denn die Evangelien sind und bleiben immer der Maßstab, die Regel, die uns hilft zu entdecken, wann eine Erfahrung christlich ist, wann wir wirklich eine christliche Erfahrung vor uns haben. Denn jetzt und in jedem Moment der Geschichte geschieht (mit anderen Gesichtern) immer dasselbe, was im Anfang geschah. Es spielt sich ab mit anderen Gesichtern, aber Gesichtern mit unverwechselbaren Zügen, den Seinen. Es ist nicht etwa so, dass die Jünger Jesus begegnet sind, wir uns aber mit einem Ersatz begnügen müssen. Auch unsere Erfahrung bezieht sich genau auf diese Seine unverwechselbaren Züge. Heute ist Er gegenwärtig aus Erbarmen mit unserer Nichtigkeit.
Wie stelle ich fest, dass diese Züge die Seinen sind? Wir müssen genau hinschauen, denn wir laufen Gefahr, dass uns alles gleich zu sein scheint. Schauen wir uns zum Beispiel genau an, was Vicky erzählt. «Bevor ich Rose begegnete, lächelte uns niemand zu, alle in der Familie hassten uns, so als hätten wir uns die Krankheit absichtlich zugezogen. Und plötzlich erscheint in dieser Situation etwas Neues: Rose ist gekommen und hat sich neben mich gesetzt. Ich rückte zur Seite, denn ich verbreitete sicher keinen guten Geruch, sie rückte wieder zu mir und ich wieder zur Seite. Rose aber rückte mir nach.» Und in dieser Lage sagt Rose etwas Seltsames: «Du hast einen Wert, der größer ist als deine Krankheit». Man braucht eine gewisse Vertrautheit mit jemandem, der solch seltsame Dinge sagt. Wie es seltsam ist, einer Mutter, die ihren Sohn zu Grabe trägt, zu sagen: «Weine nicht!»10; oder jemandem, der dich verraten hat, zu sagen: «Liebst du mich?»11. Und ebenso seltsam ist es, dem, der in der ganzen Stadt am meisten verhasst ist, zu sagen: «Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.»12
Wenn wir nicht zur gleichen Zeit, in der wir diese Tatsachen sehen, auch diese Vertrautheit mit dem Evangelium haben, dann könnten sie «von irgendwem» sein. Das heißt, wir könnten sagen von Jesus oder Mohammed oder Buddha oder was weiß ich, von wem, weil alles gleich ist. Aber wo kommt jemand einem Menschen so nahe, den alle als Aussätzigen ablehnen? Wo geschah es, dass sich jemand einem Menschen nähert, den alle in der Stadt als einen verabscheuungswerten Sünder betrachteten? Wo verteidigte jemand den Wert des Menschen in einer so vollkommen hoffnungslosen Situation? Es geschah nicht überall, sondern in dem Moment der Geschichte, in dem Er sich zeigte!
Wir haben Schwierigkeiten, weil es uns an Einfühlungsvermögen in Jesus, in das Evangelium fehlt, das Giussani uns sein ganzes Leben lang bezeugt hat. Denn wir könnten uns nicht in diese Episoden einfühlen, wenn wir nicht gehört hätten, wie Don Giussani sie uns ständig wiederholte. Aber anscheinend haben wir anderes zu tun. Das Evangelium zu lesen, scheint uns etwas Spiritualistisches zu sein. Deshalb fällt es uns schwer, Seinen Namen auszusprechen, wenn sich die gleichen Episoden vor unseren Augen abspielen. Warum sollten wir dann glauben? Man versteht sehr genau, dass ein solcher Glaube nicht vernünftig ist. Wenn sich jemand hingegen ständig einfühlt, dann löst das unweigerlich eine ungeahnte Zuneigung aus, die uns Christus immer mehr lieb gewinnen lässt.

Erfüllung als Test des Glaubens
Der christliche Glaube ist genau dies: Die Anerkennung nicht irgendeiner Gegenwart, sondern dieser Gegenwart mit den unverwechselbaren Zügen, die in der Geschichte heute wie vor 2000 Jahren anwesend ist. Keine fromme Erinnerung, keine billige Spiritualität. Wir können Seine Gegenwart jetzt anfassen, wir können uns angeschaut und umarmt wissen! Jemand, der sich fortwährend unserer Nichtigkeit erbarmt. Er ist so gegenwärtig, dass diese Neuheit geradezu der Test für den Glauben ist, diese Erfüllung, die sie mit sich bringt. Wie wir sahen, kann dies selbst in der Krankheit geschehen, bis zum letzten Atemzug. Das bezeugt uns auch der Student, der uns jetzt aus dem Himmel zuschaut, denn er ist inzwischen gestorben. Er schrieb an eine Studienfreundin: «Ein Examen haben wir alle in unserem Leben abgelegt und es ist sicher nichts Außergewöhnliches. Das dachte ich, bevor ich Menschen kennen gelernt habe, die mich durch eine regelrechte Revolution gezwungen haben, mich zu fragen, wie ernsthaft ich mein Leben lebe. Wie ihr wisst, muss ich in wenigen Tagen für eine Rückenmark-Transplantation ins Krankenhaus und ihr werdet euch fragen, was hat das mit meinem Examen zu tun? Wenn ich nicht der Bewegung angehörte, wenn ich bei der Bewegung nicht gelernt hätte, das Studium als eine fantastische Gelegenheit zur Suche nach Wahrheit zu betrachten, meinem Leben einen Sinn zu geben und mir ein umfassendes Urteil darüber zu bilden, hätte ich mich schon längst beruhigt zu Hause verkrochen in Erwartung meiner Einlieferung ins Krankenhaus. Vielleicht hätte ich das eine oder andere Buch gelesen oder die Zeitung. Aber im Grunde hätte ich meine Tage vertan mit der passiven und verzweifelten Suche nach einem Zeitvertreib für die Wartezeit vor dem Krieg (denn es ist wie in den Krieg zu ziehen). Während ich fürs Examen lernte, war es nicht die freie Zeit, die meine Tage füllte, sondern ich füllte sie aus mir selbst heraus. Nicht die Leere diktierte den Rhythmus meines Lebens: ich selbst habe das getan, ich war Herr und Patron meiner Tage. Ich studierte Zivilprozessrecht, ging Tag für Tag die verschiedenen Themen durch und war glücklich darüber noch Herr meiner Tage und schließlich meines Lebens zu sein [das ist Protagonismus: bis zum letzten Augenblick!]. Wäre ich träge gewesen und hätte abgewartet, wie die Zeit verging, wäre ich ihr Sklave geblieben, hätte mich verbraucht, ohne mir dessen auch nur bewusst zu sein. Heute macht mich glücklich, das Examen in Zivilprozessrecht bestanden zu haben, aber schon gestern war ich stolz auf mich, fühlte ich mich als Mensch verwirklicht, denn ich wusste, dass ich gegen alle Hoffnung hoffte». Er starb während der Operation. Erfüllung ist das, was einer noch in der hoffnungslosesten Lage finden kann. Warum? Wie kann jemand selbst den letzten Augenblick so leben? Indem er sich in Jesus hineinversetzt. Die Anziehungskraft, die Jesus auf die anderen ausübte, verdankte er der Tatsache, dass er letztlich nicht auf Sich, sondern auf den Vater verwies. Der christliche Glaube gibt eine ungeahnte Erfüllung, weil er in das Geheimnis des Vaters einführt. Es ist nicht so, dass wir diese einzigartige Entsprechung des Glaubens in uns vorfinden, weil wir etwas Wirklichem, Gegenwärtigem begegnen, das uns befriedigen kann, sondern weil darin etwas ist, was uns zum Unendlichen hin öffnet und uns deshalb befriedigt, weil es uns mehr für das Geheimnis öffnet. Die Erfüllung schließt immer die Bitte ein, tiefer in das Geheimnis einzudringen.

Gehorsam
Und wie können wir diesem Geheimnis näher kommen? Durch den Gehorsam. Dieser letzte Punkt dient als Einführung in das Seminar der Gemeinschaft. Wenn wir dem gehorchen, was der Herr unter uns geschehen lässt, können wir tiefer in dieses Geheimnis eindringen und so den Zweifel überwinden, dass es sich nur um einen Gemütszustand handelt. Wir sind Zeugen dessen, was geschieht, wenn wir dem folgen, was ein Anderer mitten unter uns wirkt. Wir haben gesehen und gehört welche Wohltaten er unter uns wirkt. Aber der Schritt des Seminars der Gemeinschaft, das wir jetzt13 beginnen, ist entscheidend für ein umfassendes Verständnis. Denn die Verifizierung des Glaubens, dieser Anerkennung, und der Zufriedenheit und Erfüllung, die sie gibt, heißt Gehorsam.
Wir werden sehen, was in diesem Sommer wirklich geschehen ist, wenn wir dem gehorchen, was Er tut. Wenn nämlich der Glaube jenes Ereignis war, das als Ergebnis eine Erfüllung gebracht hat, dann können wir alle die Herausforderung verstehen, die so etwas für die Vernunft und die Freiheit – Vernunft und Freiheit, nicht Gefühlsduselei – dessen bedeutet, der wirklich Wert legt auf das Leben, auf das Glück. Wir haben etwas gesehen, das uns weit öffnet, das uns Hoffnung für das Leben schenkt, eine Möglichkeit zu leben eröffnet. Wir haben es gesehen. Es ist, als hätte der Herr uns diese Zeugen gegeben, um uns jedes Alibi zu nehmen. Jemand kann wieder aufleben, auch wenn er unter den schwierigsten Bedingungen in Afrika Aids hat, oder wenn im Gefängnis sitzt, oder dem Tod nahe ist. Kein Umstand ist feindlich. Das ist die Hoffnung, die uns diese Zeugen vor Augen führen. Und jeder, der den Wunsch hat, so zu leben, kommt nicht umhin, diese Herausforderung zu spüren.
Wie beeindruckend diese Erfahrung ist, sehen wir daran, wie Don Giussani das Seminar der Gemeinschaft einführt. Um vom Gehorsam zu sprechen, hält er uns keine Predigt über den Gehorsam, sondern er führt uns die Erfahrung der Apostel vor Augen, sodass wir uns in sie hineinversetzen können. Sie haben das gelebt, was auch wir erfahren haben: die einzigartige Entsprechung, die es vernünftig machte, Ihm zu folgen. Hierin liegt die wahre Herausforderung. Wie er uns sagt, kann man aber mit einem inneren Vorbehalt folgen: «Ich folge dir solange ich mit dir einverstanden bin, solange du nicht über ein gewisses Maß hinaus gehst». Was die Mehrheit getan hat. Oder aber die Menschen folgen allein aufgrund der Entsprechung mit dem Herzen, wie die Jünger es taten. Sie folgten Jesus wegen des Mitleids, das er mit ihrer Nichtigkeit hatte. Jesus war gerührt angesichts ihres Hungers. Er hatte die Brote vermehrt, um sie zu sättigen. Aber dann, als er immer noch das Mitleid mit ihrer Nichtigkeit spürte, sagte er: «Seht, dies hier allein genügt nicht zum Leben, denn viele plagt nicht der Hungers, ihnen fehlt ein Sinn für ihr Leben. Ihr könnt nur leben, wenn ihr von meinem Leib esst und meinem Blut trinkt». Sei dachten: «Das ist zu viel!» Sie hielten ihn für verrückt und gingen weg. Aber sagte ihnen Jesus das etwa aus mangelnder Liebe? Hätte Jesus das nicht gesagt, hätte er sie nicht ernst genommen! Jesus aber, der unsere menschlichen Bedürfnisse kennt, sagt uns: «Ohne das Fleisch des Menschensohnes zu essen, könnt ihr nicht leben». Und als alle gegangen waren, ersparte er auch den Jüngern nicht die Frage: «Wollt nicht auch ihr gehen?»14. Das ist ein Freund, versteht ihr? Versteht ihr, warum Jesus ihnen das nicht ersparte? Es ist so, als wolle er aus dem Innern der Jünger die Erfahrung herausziehen, die sie gemacht hatten: «Ist es vernünftig, wegzugehen nach allem, was ihr gesehen habt, nach all dem, was geschehen ist, bleibt ihr bei mir?». Ist das vernünftig? Und sie sagten sich: «Nein, wegzugehen, das ist unvernünftig». Sie folgten ihm also und gehorchten aufgrund dieser Übereinstimmung.
Das ist die Herausforderung, die wir vor uns haben. Die Fähigkeit zum Gehorsam hängt von dem Vorrang ab, den wir dem einräumen, was sich vor unseren Augen ereignet. Es geht um das «etwas, das zuerst kommt». Don Giussani erinnerte uns immer daran, wenn er vom ständigen Risiko sprach, die Methode im nächsten Augenblick zu wechseln, indem man sagt: «Diese Methode der Übereinstimmung mit dem Herzen mag für eine Begegnung gut sein, aber dann folgen wir aus anderen Gründen». Dem widersprach Don Giussani und er fügte hinzu: «Vor allem anderen kommt das Treffen auf jemanden, der menschlich andersartig ist.» Das gilt für jeden Augenblick, der auf den Anfang folgt: ein Jahr oder zwanzig Jahre danach. Das anfängliche Phänomen ist dazu bestimmt, das Original des Phänomens in jedem Moment der Entwicklung zu sein. Denn es gibt keine Entwicklung, wenn sich der anfängliche Eindruck nicht wiederholt, wenn das Ereignis nicht gegenwärtig bleibt.»15 Wenn das Ereignis nicht jetzt stattfindet und wir nicht dem folgen, was Er tut, kann das, was wir gesehen haben, unmöglich andauern.
Deshalb bietet uns das Seminar der Gemeinschaft ein Instrument, damit wir nichts von dem verlieren, was wir gesehen haben. So verstehen wir, was Gehorsam ist. Denn wir könnten ihn auf etwas reduzieren, das kein Gehorsam ist. So sagt Don Giussani: «Nachfolgen ist nicht wie ein Mantel, denn man sich überzieht […]. Nein es ist nicht etwas zum Überziehen, so wie man normalerweise den Gehorsam versteht, wonach gehorche beutet “ja” zu sagen und das zu tun, was man dir sagt. Um Gottes willen, nein!»16 Wir alle stehen in dieser Gefahr, sowohl wer befiehlt als auch wer gehorcht. Denn wer befiehlt, kann Gefahr laufen, sich selbst als Ersatz für das Geheimnis anzubieten, anstatt dem zu folgen, was das Geheimnis wirkt. Und wer gehorcht, kann dem, der befiehlt, folgen, weil es ihm das Risiko erspart, dem Geheimnis zu folgen. Das heißt, wir können den Gehorsam auf etwas Klerikales reduzieren. Und das ist kein Gehorsam, wie Don Giussani betont, sondern etwas für Kinder, die versuchen, sich das Drama zu ersparen, vor dem zu stehen, was Er wirkt. Denn es ist leichter, dem zuzustimmen, was der Chef sagt, und sich ansonsten um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Das wird aber nie ein christlicher Gehorsam sein. Denn Gehorsam heißt – wie das Seminar der Gemeinschaft sagt – der Erfahrung der Übereinstimmung zu folgen. Das macht auch das Leben dramatisch. Schließlich ist die äußerste Form des Gehorsams, der Entdeckung seiner selbst zu folgen, wie sie im Licht des Wortes und der Gegenwart eines Anderen erfolgt ist.
Wie wir sehen werden, wenn wir im Seminar der Gemeinschaft fortschreiten, hängt alles vom ersten Kapitel ab, das wir durchgenommen haben: Es heißt «Glauben». Ohne Glauben gibt es keine Freiheit, keine Erfüllung und keinen Gehorsam außer als etwas Klerikales. Denn er wird sofort zu einer rein moralistischen Ermahnung. Deshalb ist es entscheidend, dass wir uns beim Seminar der Gemeinschaft an die Methode halten. Denn wir könnten es auch nur als Kommentar über Kommentare abhalten und dabei noch mehr Nihilismus erzeugen, als wir ohnehin schon mit uns herumschleppen. Was mich am meisten erschreckt, ist, dass wir den Inhalt des Seminars der Gemeinschaft im Gegensatz zu diesem Inhalt selbst durchnehmen könnten, das heißt mit einer anderen Methode. Deshalb ist der Hinweis, den Don Giussani uns gibt – «Etwas, das vorher kommt» – entscheidend, um am Seminar der Gemeinschaft mit Gewinn teilzunehmen. Sonst kann sich jemand abmühen, ohne dass etwas geschieht, weil wir es auf eine Art und Weise tun, die nicht die ist, durch die das Geheimnis alles mitten unter uns geschehen lässt.
Gehorchen heißt, der von einem Anderen bewirkten Entdeckung seiner selbst zu folgen. Wer diese Erfahrung einer außergewöhnlichen Entsprechung gemacht hat, und sie nicht verlieren will, gehorcht dieser Erfahrung, dieser erlebten Entsprechung. Gehorsam ist das Vernünftigste, denn ohne zu gehorchen, verliere ich das Größte, was ich erlebt habe, ohne zu gehorchen, verliere ich es, verliere den intensivsten, den erfülltesten, den höchsten Moment meiner menschlichen Erfahrung. Jeder von uns muss antworten. Das ist die Herausforderung, vor der wir in diesem Jahr stehen. Das ist schwindelerregend, denn wir wollen, dass die Bewegung für jeden von uns «ein Abenteuer für sich» wird.

PREDIGT VON DON JULIÁN CARRÒN
am Eröffnungstag von CL in der Lombardei am 27. September 2008 in Mailand


«“Was meint ihr? Ein Mann hatte zwei Söhne. Er ging zum ersten und sagte: Mein Sohn, geh und arbeite heute im Weinberg! Er antwortete: Ja, Herr! ging aber nicht. Da wandte er sich an den zweiten Sohn und sagte zu ihm dasselbe. Dieser antwortete: Ich will nicht. Später aber reute es ihn und er ging doch. Wer von den beiden hat den Willen seines Vaters erfüllt?”. Sie antworteten: “Der zweite”»17.
Jesus stellt hier keine abstrakten Überlegungen an, sondern spricht von den Menschen, die er vor sich hat. Er wendet sich an die Priester und an die Ältesten des Volkes und fragt sie, welcher der Söhne wirklich gehorcht und das tut, was der Vater will. Diese Frage steht für die Alternative zwischen den beiden grundsätzlichen Haltungen, die wir gegenüber Jesus einnehmen können. Da sind zum einen die Priester, Schriftgelehrten oder Pharisäer, die lange Zeit immer Ja gesagt haben. Denn sie haben das Gesetz im Ganzen ernst genommen. Doch als der Einzige kam, dem sie wirklich hätten antworten müssen, nämlich Jesus, sagten sie Nein. Auf der anderen Seite sind zum Beispiel die Zöllner oder die Prostituierten, die als Sinnbild für die Sünder stehen. Sie beachteten das Gesetz absolut nicht, doch als sie Jesus begegneten, wurden sie seine Anhänger. Und Jesus sagte dazu etwas Schreckliches: Diese Sünder werden in das Reich Gottes eingehen, die Anführer des Volkes und die Priester hingegen werden nicht dorthin gelangen.
Auch wir heute könnten wie manche Angehörige des Volkes Israel gewisse Vorschriften und Gebote erfüllen und uns dabei dennoch nicht an das halten, was der Herr in diesen Tagen unter uns geschehen lässt. Dann wären wir gegenüber der Weise, wie das Geheimnis uns heute anspricht, nicht fügsam. In unserer menschlichen Anmaßung kennen wir immer schon den Weg und die Richtung und wissen, welches Gesetz zu erfüllen ist. Und so verlieren wir das aus dem Auge, was Er auch heute vor unseren Augen geschehen lassen kann. Wir erkennen gerade Jenen nicht, den der Herr uns in dieser Stunde schickt, um sich unserer Nichtigkeit zu erbarmen. Die anderen hingegen, die Zöllner, glaubten Ihm. «Ihr habt es gesehen [es ist ja nicht so, dass sie nichts gesehen hätten: Sie haben Gottes Handeln gesehen, und zwar deutlich] und doch habt ihr nicht bereut und ihm nicht geglaubt.» 18
Bekehrung heißt Jenen anzuerkennen, der uns hier und jetzt anspricht. Wir können also entweder dabei verharren, dass wir den Weg schon kennen und unser Lebensgesetz schon haben und deshalb bereits wissen, wie das Leben richtig zu führen ist. Oder wir können uns bekehren, das heißt glauben und eine Gegenwart anerkennen, die mitten unter uns ist und die zu uns spricht.
Dies ist die bleibende Herausforderung des Ereignisses, durch das Christus immer gegenwärtig und unser Zeitgenosse ist – unser Zeitgenosse! Christus wirkt auch heute, nicht um uns Unannehmlichkeiten zu bereiten, sondern aus Erbarmen mit unserer Nichtigkeit, damit unser Leben nicht verloren geht.
Bitten wir Don Giussani um jene Einfachheit, die er (und mit ihm so viele, die uns der Geist heute schenkt) uns vorgelebt und so vielfältig bezeugt hat.

1 Benedikt XVI., Begegnung mit der Welt der Kultur im Collège des Bernardins, Paris, 12. September 2008.
2 Ps 144, 3.
3 Vgl. Lk 1, 48.
4 Mt 6,26.
5 Vgl. L. Giussani, Der Religiöse Sinn, Bonifatius, Paderborn 2003, S. 128.
6 A. Sinjavskij, Pensieri improvvisi, Jaca Book, Milano 1978, S. 75.
7 Benedikt XVI., Begegnung mit der Welt der Kultur im Collège des Bernardins, Paris, 12. September 2008.
8 Mk 8,27-28.
9 Joh 5, 36.
10 Lk 7,13.
11 Joh 21,16.
12 Lk 19, 5.
13 L. Giussani, Kann man so leben?, Sankt Ulrich, Augsburg 2007, S. 99.
14 Joh 6,67.
15 Vgl. L. Giussani, Aus dem Glauben die Methode, Litterae Communionis 2/1994 (pro manuscripto).
16 L. Giussani, Kann man so leben?, Sankt Ulrich, Augsburg 2007, S. 112.
17 Mt 21, 28-31a.
18 Mt 21, 32b.