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Briefe
Briefe Oktober 2008
Zusammengestellt von Paola Bergamini

Das Geheimnis anerkennen


Im Jahre 2005 erfährt Rodney, ein Häftling in North Carolina, über Freunde von der Krankheit von Majilinda, einem albanischen Mädchen, und beginnt für sie zu beten und ihr zu schreiben. Sein Brief war eines der ersten Zeugnisse, die auf der Ausstellung zum Thema «Gefängnis» auf dem Meeting ausgestellt waren. Im Folgenden geben wir den jüngsten Brief wider.
Liebe Majilinda, ich habe von einigen Freunden erfahren, dass es Dir nicht gut geht. Es gibt keine Worte, die beschreiben können, wie frustriert ich mich fühle, nicht in Dein Zimmer kommen und Dich umarmen zu können. Ich hasse dieses Gefängnis und seine Regeln. Trotz allem hätte ich ohne es nie die Freude und den Reiz unserer Freundschaft erfahren. Wir haben uns nie getroffen und wir haben uns sehr wenig geschrieben, aber dies hat nicht verhindert, dass Du ein Licht auf meinem Weg wurdest. Für mich ist dies ein Grund der Hoffnung und ein Zeugnis für eine Menschlichkeit. Ein Vorbild, das ich scheinbar nicht erreichen kann. Ich bin ein Dickkopf und Idiot, der oft Gott und unseren Lebenssinn in Frage stellt, ein Mensch, der oft verloren war, ohne Richtung im Leben. Aber ein Wort über Dich oder von Dir zu hören, reicht mir, um anzuerkennen, wie falsch ich liege. Du erinnerst mich daran, wie mein Glaube sein sollte und könnte. Ich will Dich nicht an Dein Leiden erinnern, aber wenn ich daran denke, wie du leidest, dann wird mir klar, wie weit ich noch von dem entfernt bin, was ich gerne wäre. In Freunde, also Zeugen sagt Carrón, dass die Wirklichkeit uns erzieht. Der Punkt ist, dass Du uns «zwingst» wirklich das Geheimnis anzuerkennen, was ich vorher – auch wenn ich Christ bin – nie getan hätte. Weißt Du, Maijlinda, es ist besser, diese Strafe im Gefängnis abzusitzen, aber so die Möglichkeit gehabt zu haben, Dich und die anderen der Bewegung kennen zu lernen, als frei zu sein und nie einem von euch begegnet zu sein. Ich würde die Strafe von vorn beginnen, wenn dies nötig wäre, um bei der Bewegung zu sein.
Rodney, North Carolina

Elenas Herausforderung


Lieber Carrón, ich arbeite in der «Aslam», einer Einrichtung zur Berufsausbildung. Ich koordiniere Kurse für Jugendliche, die mit der Mittelstufe fertig werden. Wir haben etwa 180 Jugendliche. Ich kenne sie nahezu alle. Dieses Jahr ist Elena dazugekommen, ein Mädchen mit einer schwierigen persönlichen und familiären Situation. Elena begann sofort, uns Probleme zu bereiten. Als ich ankam, und jedes Mal, wenn ich sie sah, empfand ich eine Art Abneigung. Monatelang vermied ich es, sie zu treffen. Ich ignorierte sie. Aber sie war jeden Morgen da. Gegen Ende des Jahres stellte sie wieder Unfug an, wie schon so oft. Aus diesem Grund bestellten wir sie und ihre Mutter zum Gespräch. Elena erschien «fertig» zum Termin, sie hatte gerade eine gekifft. Ihre Mutter sagte uns ganz verzweifelt: «Ich erkenne sie nicht wieder, sie ist nicht mehr meine Tochter.» Elena schaute sie gleichgültig und kühl an. Ich sah die Mutter an und sagte zu ihr: «Nein, werte Frau. Wer ist dieses Mädchen, das Sie vor sich haben?» Während ich dies sagte, sah ich die letzten Monate vor meinen Augen ablaufen, in denen ich derjenige gewesen war, der sich weigerte, sie anzuerkennen. Ich erinnere mich, dass ich in mir wiederholte: «O mein Gott!». Und dann wiederholte ich ihrer Mutter: «Wer ist dieses Mädchen?». Und sie: «Meine Tochter.» Und sie brach in Tränen aus. Ich fragte Elena: «Wer ist diese Frau?». Sie schwieg. Ich ging heraus und bat Elena zu bleiben. Ich sagte zu ihr: «Deine Mutter liebt dich.» Und dann: «Ab morgen komme ich dich jeden Tag besuchen.» Es war beeindruckend und zugleich rührend: Nachdem ich sie monatelang gemieden hatte, diktierte sie nun die Methode. Manchmal behaupte ich, ich würde zu den Umständen ja sagen, aber ich setze ihnen Grenzen. Ich wiederhole mir und dem, der mich fragt, dass ich zu der Arbeit, der Familie und den Freunden ja sage. Aber wenn mich jemand fragt: «Was siehst du in der Arbeit, in der Familie, in den Freunden», dann ergreife ich die Flucht und lege mit den Definitionen los: «Die Arbeit ist die Arbeit … die Familie ist die Familie … und die Freunde sind die Freunde.» Wenn es mit einer Person gut läuft, denke ich: «Diese Beziehung gefällt mir, sie ist etwas Gutes.» Wenn ich in einer Beziehung lebe, die mich beunruhigt, empfinde ich ein Unbehagen und sage, dass es mir schlecht geht. Und dies engt mich ein und engt die Wirklichkeit ein, die ich vor mir habe. Wie es mit Elena passiert ist. Es ist so, wie du uns auf den Exerzitien sagtest: Wir stehen immer in der Gefahr, Jesus auf das jenes «Bildnis einer schönen Frau, gemeißelt in das Grabmal derselben» zu verkürzen, von der Leopardi spricht. Aber die Wirklichkeit ist unweigerlich gegenwärtig. Sie drängt sich auf. Es war ein Geschenk, dass sich an jenem Tag das Geheimnis, also Jesus, zeigte und ich ihn erkannte. Vielleicht, weil er mich in den vorangegangenen Monaten heimlich anzog und ich ihn suchte, indem ich aus dem Augenwinkel jene 16-Jährige musterte? Vielleicht, weil uns das Seminar der Gemeinschaft derzeit beharrlich über das Thema Glauben arbeiten lässt? Wie dem auch sei, der Herr zeigt sich durch Tatsachen. Eine Tatsache ist stets Er, der am Werk ist. Und Er stellt mich vor die Herausforderung: «Erkennst du mich?» Und hier kann nur ich antworten. Auch wenn du, Julián, jeden Tag bei mir wärest, würde das im Grunde nichts ändern: Es ist eine Sache zwischen Christus und mir. Als Elena kam, um das Zeugnis abzuholen, umarmte sie ihre Mutter und sagte: «Mamma, ich hab dich lieb.» Dann hat sie uns gebeten, zu einer Sommerfreizeit mitzufahren: «Anstatt unterwegs Unsinn zu machen.»
Salvatore, Cassano Magnago

Christliche Gemeinschaft


Alles beginnt mit einem Anruf: «Ihr Sohn hat einen Unfall gehabt und wir wissen nicht genau, wie es ihm geht.» Daniele, unser Ältester, arbeitete in der Türkei, und im Juli fuhr er während einer Autofahrt mit einem Kollegen in einen Abgrund. Sie befanden sich in einem abgelegenen Ort. Das erste Wunder war, dass ein Zeuge, der in dem Augenblick vorbeikam, den Unfall sehen und den Notarzt holen konnte. Nach einigen Stunden kamen sie im Krankenhaus in Trabzon an, dem alten Trebisonda, und Daniele befand sich in einem kritischen Zustand. Die Ärzte waren sehr besorgt. Das zweite Wunder geschah, als die türkischen Kollegen von Daniele, Elena und Niko, die er in der einzigen katholischen Kirche in Trabzon kennen gelernt hatte und die wussten, dass er jeden Sonntag dorthin in die Kirche ging, sich ereiferten und Frau Elena anriefen. Sie wurde sofort ein Bezugspunkt für uns, weil sie Italienisch sprach. Erst am folgenden Tag hätten wir in Trabzon ankommen können. Wir mussten diese Distanz und diese Leere überwinden. Wir wandten uns an Bruder Daniel, einen franziskanischen Minoritenbruder, der in einem Kloster für kranke (Ordens-)Brüder in Saccolongo (Provinz Padua) lebt, und sagten zu ihm: «Geh du im Gebet zu unserem Sohn, stärke ihn und leite die Hand der Ärzte.» In der Zwischenzeit hatte Frau Elena in Trabzon Don Giuliano, den nächsten Priester, angerufen, der sich in Sansun rund 350 Kilometer entfernt befand und der ihm dann die Krankensalbung spendete. In der Zwischenzeit hatte sich Elena in die Kirche begeben und vertraute unseren Sohn dem Heiligsten Herzen Jesu an. Sie kehrte eine Stunde später zurück, um Nachricht über ihn zu erhalten, und fand den Arzt mit einem breiten Lächeln auf den Lippen vor, der sagte: «Er ist aufgewacht.» Sie ging zu ihm, aber Daniele konnte nicht sehen. Wir erfuhren später, dass er während seines «Schlafes», sagen wir mal, Bruder Daniele gesehen hat, an den mein Mann und ich uns gewandt hatten. Dies war das dritte Wunder, weil unserem Sohn die Gabe geschenkt wurde, gelassen zu bleiben. In der Tat geriet er nicht in Aufregung, obwohl er nicht sehen konnte. Er hatte körperlich keine Schmerzen und keine körperlichen Nachwirkungen: weder Gehirntraumata noch Brüche. Sicherlich hat dieser Unfall viele Freunde und Verwandte auf Knien beten lassen. Gerade in jenen Stunden, während der Ferien der Fraternität in Sankt Moritz, befanden sich die Freunde von Padua am Wallfahrtsort der Madonna von Gallivaggio. Aber all das, was uns passiert ist, all das Große, was Gott in uns bewirkt hat, war viel größer als Danieles Gesundheit und Genesung. Die Begegnung mit der christlichen Gemeinschaft in Trabzon, mit der Kirche, mit den Orten, wo unsere gleiche Kirche und die Liebe zu Jesus entstanden ist – mit all den Schwierigkeiten, die es in einem muslimischen Land gibt – all dies ermöglicht uns zu erfahren, wie die Verfügbarkeit für das Geheimnis eine ständige Suche nach der Wahrheit ist, die immer größer ist als wir, als Menschen verstehen können.
Francesco e Stefania, Mestrino