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Zeugnis
Eine Hoffnung wider den Nazi-Terror
Francesca Depaoli und Maria Groos

Bericht über den Besuch von einer Gruppe von Italienern in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Vor dem Hintergrund der unbeschreiblichen Grausamkeiten der Nazis hebt sich das «kühne Vertrauen auf den Herrn» ab, von dem Karl Leisner spricht. Er war einer der 2.700 Priester aus ganz Europa, die die Nazis dort internierten.

Es war unser Freund Claudio Bottini aus Mailand, der uns diese Gelegenheit verschaffte. Als er zur Jahresabschlussversammlung nach München kam, bat er uns, ihn zur KZ-Gedenkstätte Dachau zu begleiten. Einige von uns waren schon dort gewesen und hatten den Ort erschüttert verlassen mit dem Eindruck, dass das Böse in der Welt unbesiegbar ist, und mit der großen Frage, wie Gott all dieses Böse zulassen kann.
«Lasst jede Hoffnung fahren, wenn ihr eingetreten ...»: ein Überlebender des Lagers zitiert Dante, um das Gefühl zu beschreiben, das man empfindet, wenn man einmal die Schwelle des Gittertores mit der Inschrift «Arbeit macht frei» überschritten hat. Und genau an dieser Stelle hatten wir uns zu einem gemeinsamen Rundgang verabredet. Wir wollten nicht einfach hineingehen, um eines der größten Blutbäder der Geschichte zu gedenken, sondern um das zu prüfen, was uns Don Giussani im Seminar der Gemeinschaft der letzten Monate gelehrt hat: Freiheit bedeutet, auf die eigene Bestimmung zuzugehen.
Daher wollten Maria und Erica uns mit der Geschichte der über 2.700 Priester vertraut machen, die während der Zeit des Nationalsozialismus hier interniert waren. Es war das erste Konzentrationslager Hitlers und zunächst überwiegend für politische Häftlinge vorgesehen.
Bei einem vorhergehenden Besuch hatte Maria fast zufällig Frau Candidori kennen gelernt, die als Referentin Besuchergruppen durch die Gedenkstätte führt. Sie war beeindruckt von ihrem Interesse für die Geschichte der inhaftierten Priester. Deshalb bat sie Frau Candidori darum, unsere Gruppe zu führen. Sie willigte ein.

Und so standen während des Rundgangs nicht Einzelheiten des Alltagslebens im Mittelpunkt, sondern das Staunen, das diese Gruppe von Gläubigen in ihr hervorgerufen hatte.

Wie die Juden, mussten auch die Priester härteste Arbeiten verrichten: Steine brechen, Eisenbahnwaggons ziehen, modriges Land trocken legen - oder die Gaskammern und Öfen des Krematoriums bauen. Was kann einen Menschen aufrecht halten, der in solchen Umständen lebt?
Die Referentin erklärt uns, dass das Nazi-Regime dem Verlangen des Vatikans stattgegeben hatte, die Priester in einem Konzentrationslager zusammenzuführen; der Grund der Einwilligung ist nicht genau bekannt. Möglicherweise erhoffte sich das Regime, dass die extreme körperliche und seelische Belastung die Einheit unter den Priestern zerstören könnte. Den Geistlichen war zunächst noch gestattet, täglich die Heilige Messe zu lesen, während andere sie heimlich feierten. So hatte SS-Reichsführer Heinrich Himmler ungewollt diesen Menschen genau das gewährt, dessen sie bedurften: eine Gemeinschaft, die ihre Hoffnung aufrecht erhalten konnte.
Zwischen den Baracken, die einstmals von den Häftlingen bewohnt wurden, las uns Frau Candidori Gedichte und Gebete vor, die die Priester geschrieben hatten (beispielsweise das des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer auf dieser Seite). So geschah etwas Unglaubliches: Wir sind nicht nur berührt vom Schmerz, den sie sicherlich empfunden haben, und auch nicht nur von dem Entsetzen, den das ganze Lager auslöst, sondern von der Einfachheit und Freiheit, mit der diese Menschen «Ja» zu ihrer Bestimmung gesagt haben, bis dahin, dass auch wir uns wünschen, es mit der gleichen Intensität sagen zu können.
Bottini hatte uns bei der Versammlung gesagt: um den Umständen, die der Herr uns gibt, auf den Grund zu gehen, zu ihnen «Ja» sagen zu können, braucht man jemanden, der mit diesem Blick schaut – einen Zeugen.
Und tatsächlich zeichnen sich auch hier unter den Tausenden ausgemergelten Gesichtern, die das Naziregime alle gleich machen wollte, die Konturen einiger Zeugen ab, insbesondere das Gesicht Karl Leisners.
Leisner wurde 1939 zum Diakon geweiht und wenig später aufgrund einer kritischen Äußerung über Hitler gefangen genommen. Nach einigen Zwischenstationen internierten ihn die Nazis in Dachau. Zu diesem Zeitpunkt litt er bereits an Tuberkulose, die sich durch die Lebensumstände im Lager verschlimmerte. Als er immer schwächer wurde, sagten sich seine Priesterfreunde: «Wir müssen Gott bitten, dass er einen Bischof ins Lager schickt, damit er Karl zum Priester weihen kann.» Und so geschah es! Der Bischof von Clermont-Ferrand in Frankreich wurde inhaftiert. Durch geheime Botschaften erbaten die Priester die Zustimmung der Bischöfe von Münster und München für die Weihe Leisners.
Ein Mitgefangener beschreibt das Ereignis folgendermaßen: «Der Kandidat, der am Gaudete-Sonntag, dem 17. Dezember 1944, durch den französischen Bischof von Clermont-Ferrand in der Kapelle des Pfarrerblocks 26 in Anwesenheit von 300 Priestern aller Nationen und Konfessionen geweiht wurde, war Karl Maria Leisner, selig gesprochen von Johannes Paul II. im Jahr 1996.» (Jules Jost)
Der Jesuit Otto Pies, der Leisner geistlich in dieser Zeit begleitete, schrieb ihm zur Weihe:
«Heute nimmt der Heiland Dein Leben, Dein Herz, Dein ganzes Sein tief in sich hinein. Du beginnst ein überpersönliches Leben, über Dich hinausgehoben, in Ihm und für Ihn und die vielen Seelen, für die Du beten und opfern, Ihn opfern und Dich opfern darfst – sacerdotis est offerre (Opfern ist die Aufgabe des Priesters) ... Deine Weihe verbindet auch unsere Herzen noch inniger. Du gehst nun neben mir als Priesterfreund und Bruder, eins mit mir auch in der sakramentalen Gnade ... (Ich) kann Dir zu Deinem und meinem Fest kein Geschenk übergeben. Doch ich gebe Dir das Beste und eigentlich alles auf eine neue Weise: meine Liebe in Ihm und mein ganzes Herz. Unsere Liebe wird heute noch reiner und tiefer ...(Der ewigen) Liebe wollen wir uns beide ganz übergeben.»
Und Leisner schrieb an seine Familie: «Was uns allen noch bevorsteht, wissen wir nicht, aber auf jeden Fall bewahren wir kühnes Vertrauen auf den Herrn. Er ist\\' s, der alles gut lenkt und wohl macht.»
Er starb wenige Wochen nach der Befreiung des Lagers. Sein letzter Eintrag ins Tagebuch lautet: «Segne auch, Höchster, meine Feinde!»

Schweigend erreichten wir den Pfarrerblock 26, die Baracke, in der die Priester untergebracht waren, und beteten den Angelus. «Mir geschehe nach Deinem Wort».
Als wir das Krematorium sahen und eine von uns gleichzeitig von Lachen und Weinen geschüttelt wurde, sagte uns Bottini: «Wenn jemand gleichzeitig lacht und weint, ist dies Ausdruck der Auferstehung. In jedem Leid ist bereits die Auferstehung enthalten.»
Vor der «Todesangst Christi Kapelle», die an einer Stelle erbaut ist, von der man das ganze Lager überblicken kann, beschloss die Referentin die Führung mit den Worten: «Gott teilt sich nicht nur durch die schönen Dinge mit oder durch Geschenke, die er uns macht. Vielmehr gibt er uns auch das Leid und das Opfer, um uns die Erfahrung machen zu lassen, dass Christus siegt.»
Am Ende dankte sie uns, indem sie uns sagte, dass sie am liebsten jeden Tag Gruppen wie die unsere führen würde. Doch wir sind es, die ihr danken möchten. Sie hat uns geholfen, auf diejenigen zu schauen, die lange vor uns fähig waren, mit wirklicher Freiheit auf ihre Bestimmung zuzugehen und dabei zu bezeugen, dass die Antwort auf die Frage «Kann man so leben» ein klares «Ja» ist.


Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Dietrich Bonhoeffer


Der 1915 geborene Karl Leisner wuchs in Kleve am Niederrhein auf. Seine Eltern vermittelten ihm eine große Liebe zu Christus und zur Muttergottes, die auch seine Arbeit in verschiedenen katholischen Jugendgruppen prägte. Mit 19 Jahren wurde er vom Bischof von Münster zum Diözesanjungscharführer ernannt. Kurz zuvor hatte er das Theologiestudium begonnen mit dem Wunsch, Priester zu werden. 1939 wurde er zum Diakon geweiht.
Kurz darauf wurde Leisner aufgrund einer kritischen Bemerkung über Hitler in Dachau interniert. Seine fünfeinhalb Jahre währende Haft war von Anfang an von dem Wunsch geprägt, sich ganz Gott hinzugeben. Die Nachricht von seiner Priesterweihe im Lager verbreitete sich blitzschnell in ganz Europa und half damit eine andere Sehnsucht Leisner zu verwirklichen. Kurz vor seinem Tod am 12. August 1945 schrieb er: „“Du armes Europa, zurück zu Deinem Herrn Jesus Christus! (Dort ist Deine Quelle für das Schönste, was Du trägst.) Heiland, lass mich ein wenig Dir dabei Instrument sein.“