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Gaudí
Die Kathedrale Europas
Carlo Dignola

Das Hauptwerk des katalanischen Künstlers und Architekten Antonio Gaudí und die Europäische Union haben vieles gemeinsam, angefangen bei den Wurzeln. Etsuro Sotoo, der japanische Bildhauer berichtet, wie er das Erbe des Künstlers fortführt.

Anfang Oktober wurde im Sitz des Europäischen Parlaments die Ausstellung Der Realismus Gaudís und der Aufbau Europas eröffnet. Dabei geht es aber weniger um die Konstruktion der Kathedrale der Sagrada Familia (Heilige Familie) des katalanischen Architekten Antoni Gaudí (1852 – 1926) in Barcelona, zumindest soweit man unter der Kathedrale ein Gebäude aus Mörtel und Stein versteht. Und vielleicht wird die Schau nicht einmal dazu dienen, die Laizisten in der EU-Zentrale von der Wichtigkeit der christlichen Wurzeln Europas zu überzeugen.
Im Atelier des Bildhauers Etsuro Sotoo, in der Bauhütte der Heiligen Familie, sieht man die Entwürfe der bunten Früchte, die der geniale katalanische Baumeister für seine Fialen vorgesehen hatte. Hundert Jahre nach seinem Tod verwirklicht sie sein treuer Schüler aus einer anderen kulturellen Hemisphäre in freier Treue mit kongenialer Phantasie. An der Wand sind nicht nur die Hämmer und Meißel des Bildhauers befestigt, sondern auch Bohrer und Schleifmaschinen.
Diego Giordani, Kurator der Ausstellung weist auf eine Kiste mit einem Abguss: «Auf diesem Gegenstück einer Fiale werden Mosaikstücke angebracht, die Europaparlamentarier signiert haben. Es wird dann nach Barcelona zurückkehren und in der Kathedrale eingearbeitet, so dass die Namen der Parlamentarier auf einem Element des Baus eingraviert sind.»
In den Regalen Sotoos liegen Engelsflügel, eine Katze, Ameisen, Spinnen und Skarabäen. Alles Tiere, die später über den Türen der Kirche zu sehen sein werden. Auch ein großer Gipsbrocken ist zu sehen: «Eines Tages», so der Bildhauer, «wird er ein großer Schmetterling sein.» Es ist eine Synekdoche, wie so vieles in dieser Konstruktion, wo ein Teil für das Ganze steht, wo die abgeschlossene Handlung bei jedem Schritt auf eine unendliche Aufgabe verweist. «Seit 30 Jahren arbeite ich hier an der Kathedrale Heilige Familie», sagt der japanische Künstler, «und diese Ausstellung im Europäischen Parlament scheint mir sehr wichtig zu sein. Fast scheint sie die Erfüllung dieses langen Weges. Und dennoch bin ich noch nicht angekommen. Immer, wenn ich in meinem Leben auf etwas sehr Schönes gestoßen bin, habe ich instinktiv gedacht, es sei der letzte Schritt, immer jedoch war es ein neuer Beginn. Die Ausstellung in Brüssel ist von neuem ein Beweis, dass dies alles hier wirklich meine Grundlagen waren. Als Junge bin ich nach Europa gekommen, ohne irgendetwas von der Kathedrale der Heiligen Familie zu wissen. Ich wollte einfach nur Bildhauer sein, einen kleinen Stein umwandeln und zugleich ein tüchtiger Bildhauer werden. Dieser kleine Stein hat mich nun bis zum Europäischen Parlament geführt.»
Für Sotoo geht es gerade um die Ernsthaftigkeit im Kleinen. «Es konnte scheinen, als ob ein kleiner Same dazu bestimmt sei, in trockene Erde zu fallen. Nun ist daraus aber ein Baum geworden.»
Als Gaudí vor 125 Jahren Hand an seine Kathedrale legte, war dies hier ein Viertel in der Peripherie ein scheinbar völlig ungeeigneter Ort für ein solches Unterfangen. Hier stand ein anderes Dorf, San Martin de Provenzal. Auf einem Foto im katalanischen Museum sieht man noch, wie dort damals Schafe weideten. Und Gaudí hatte nicht einmal entfernt das nötige Kapital für ein solches Werk. «Jetzt», so erläutert Sotoo, «wird es das Zentrum von Barcelona, das Eintrittstor zur Stadt. Wer hätte sich das damals vorstellen können? Wir Menschen können niemals etwas über die Zukunft wissen, wir können nur dem gehorchen, was wir vor Augen haben.»

Auch mit der Entwicklung Europas war es ein wenig so, sagt Chiara Curti, die die Ausstellung veranstaltet und den Katalog mit Magrada Proyectos kuratiert. Die beiden haben beinahe alle großen Gaudí- Experten wie Juan Bassegoda, Tokutoshi Torii und Lluis Bonet für die Ausstellung gewinnen können. «Als man das erste Mal in Paris von Europa sprach, dachte man nur an eine Montanunion. Wir haben der Ausstellung einen Satz Robert Schumanns vorangestellt, der auch sehr gut zu Gaudí passen würde: “Wir alle sind höchst unvollkommene Instrumente einer Vorsehung, die sich unserer bedient, um große Pläne zu verwirklichen, die uns überragen.“ Als wir die Ausstellung vorbereitet haben, entdeckten wir, dass unsere Intuition einer Analogie von Europa und der Kathedrale Gaudís angemessen war. Dies ging so weit, dass Gaudí dieselben Worte benutzte wie später die Väter der Europäischen Union.»
Wie kam es zu der Ausstellung? Im Dezember 2006 verbrachte der Europapolitiker Mario Mauro Neujahr in Barcelona. Während einer Führung Sotoos durch die Kathedrale der Sagrada Familia hatte er plötzlich eine Intuition: Die Kathedrale erschien ihm wie ein Symbol für Europa selbst: Gaudí hatte gegen jede Regel der Konstruktion und Statik gehandelt, ebenso wie die Gründerväter Europas gegen jede Norm einer «politischen Statik» gehandelt hatten. Im Laufe der Jahre entfernte sich die Bauhütte der Kathedrale immer weiter von den ursprünglichen Ideen Gaudís – wäre da nicht Sotoo gewesen ... Ebenso braucht Europa eine Persönlichkeit, die es zu den Gründervätern De Gasperi, Schumann und Adenauer zurückführt. Sie alle wurden von einer christlichen Freundschaft geprägt und dadurch in ihrem Handeln geleitet.
Sotoo ist überzeugt, dass die Sagrada Familia die Kathedrale für Europa werden wird, nicht nur für Barcelona. «Europa ist ein neues Land und es braucht eine neue Kathedrale, die seine gemeinsame Bestimmung dokumentiert. Aber die wirkliche Kathedrale ist in uns. Die Kirche zu erbauen heißt, uns selber zu erbauen. Die Heilige Familie wäre nicht hier vor unseren Augen, wenn ihre Fundamente nicht in uns gegründet wären. Und Dank dieser Fundamente kann die Kirche aus Stein errichtet werden. Es scheint, als ob diese Kathedrale schon vollendet sei, denn sie kommuniziert schon den Glauben. Und keiner kann wissen, was ihre Zukunft sein wird. Es kann auch sein, dass die Kathedrale zusammenbricht, wenn der geplante Hochgeschwindigkeitszug unter ihr hindurch rast. Dann müssten wir von neuem beginnen, sie aufzubauen.»
Diego Giordani erzählt eine weitere Geschichte: «Das erste Mal, als ich Sotoo traf, sagte er mir, wir müssten ihm helfen, die Sagrada Familia zu beenden. Ich sagte ihm damals: “Wir? Sie scherzen!“ Wir haben dann sehr gelacht und nicht weiter darüber geredet. Heute aber bemerke ich, dass alles, was um uns und die Baustelle herum passiert, auch ein Beitrag zum Aufbau des Gotteshauses ist. Ich sehe die Menschen, die hierher kommen. Viele sind verändert. Und auch wir sind verändert. Bevor ich Sotoo kennen lernte, lebte ich bereits zehn Jahre hier in Barcelona und die Kathedrale war für mich eine Art Disneyland: Tourismus und Durcheinander. Ab dann habe ich verstanden, dass ich mich nicht für einen kulturellen oder künstlerischen Aspekt begeisterte, ein Interesse, das man haben kann oder nicht, sondern für ebendiese Veränderung des Menschen. Dies ist nur möglich gewesen, indem ich diese Kirche mit den Augen Sotoos betrachtet habe, also mit den Augen Gaudís.»
Auch für Chiara Curti gilt dies: «Wenn du jemanden siehst, der eine großartige Sache macht, fragst du dich: „Aber wie ist dieser Mensch? Auch ich will, wie er sein.“»


Manolo, der gütige Riese, der Sotoo bei der Arbeit hilft.

Er ist wortkarg, weiß aber, die Steine zum Sprechen zu bringen. Die Geschichte eines Bildhauers, der vor zwanzig Jahren begann, an der Sagrada Familia zu arbeiten. Sein Einsatz führte ihn nun auch nach Brüssel.

Seine Freunde sagen, er sei eine Art kleiner gallischer Obelix, auch wenn er, da er sich die Haare hat schneiden lassen, schüchterner geworden ist. Ein Spanier des Nordens, von der Sorte, die dem Herrscher widerstehen, indem sie einfach vorangehen und das tun, was sie tun müssen. Manolo ist allen sympathisch, den italienischen Architekten, denen er am Strand picar pedra beibringt, dem Bürgermeister bis hin zu den japanischen Müttern, mit denen er welche Sprache auch immer spricht, denn Englisch kann er nicht.
Seine großen und starken Hände geben dieser üppigen Familie von Gräsern und Tieren eine Form und sind dazu bestimmt, aus dem Bauwerk etwas Lebendiges zu machen. Es sind die Hände Etsuro Sotoos. Der japanische Baumeister hatte ihn vor zwanzig Jahren in einer Schule aufgespürt, in der er Schnitzerei lehrte. Eine seiner Kolleginnen sagte ihm: «Ich habe hier einen beachtlichen Jungen: er spricht nicht viel, zieht sich immer schwarz an, läuft mit einem Käppchen herum und macht einem sogar ein bisschen Angst. Aber er versteht zu arbeiten.»
Heute wohnt Manolo in San Génis, in einem Haus mitten in der Natur. Barcelona liegt 65 Kilometer entfernt und jeden Morgen steht er um fünf Uhr auf, um rechtzeitig bei der Arbeit zu sein. «Das ist es, was mich berührt», sagt er. «Immer noch besser, als in der Stadt zu wohnen.» Sie haben versucht, ihm ein Apartment zu besorgen, aber er wurde nervös. Sein Vater war ein Bergmann und hat ihn gelehrt, Respekt vor der Materie zu haben. Mit den schwierigsten Materialien weiß er umzugehen: Stein, Eisen, Polyurethan, Zement. «Manchmal, wenn etwas fertig werden muss, egal ob Wind oder Unwetter, findet man ihn um elf Uhr nachts noch hier bei der Arbeit», sagt Etsuro Sotoo.
Letztes Jahr wollte Manolo von der Baustelle weggehen: «Es gibt keinen Weg, dem man folgen kann: der, auf dem wir sind, führt nirgendwo hin», sagte er. Das Material kam nicht an, innere Eifersüchteleien und menschlicher Neid schufen ständig Probleme. Immer dagegen anzugehen, dazu hatte Manolo keine Lust mehr. Er war es Leid. «Ich wollte etwas anderes realisieren.» Eines Tages kam Jesus Carrascosa, einer der Verantwortlichen von CL, nach Barcelona, und nahm ihn sich zur Brust: «Es ist unmöglich, dass ein Erbauer von Kathedralen wie du einfach geht. Wo findest du einen weiteren solchen Meister? Wo findest du einen weiteren solchen Ort?» Und Manolo fing an zu weinen. Denn eigentlich wollte er mit diesen Leuten zusammenbleiben. Und so hat er es auch gemacht. Auch in Brüssel, wo er die Fiale der Ausstellung gemeißelt hat. «Mich interessiert nicht, wann die Kathedrale beendet sein wird», sagt er. Das, was mich interessiert, sind die Personen. Dann mache ich das, was ich zu tun habe.»