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Andrea Aziani
Lebensfieber
Antonio Socci

Von Abbiategrasso (Mailand) aus über Siena, Florenz und Hunderte weitere Städte bis nach Peru: Überall hat Andreas tiefe Spuren hinterlassen. Ein Freund fasst hier seine Erinnerungen zusammen. Dank ihm, dank seiner vollkommenen Selbsthingabe verliebten sich Hunderte Menschen in Christus.

Wenn sich Carmen an Andreas Aziani erinnert, kommen ihr viele berührende Begebenheiten, und besonders eine in den Sinn: Dass Andrea, wenn er mit dem Fahrrad auf der üblicherweise vernebelten Straße von der Caritativa zurückkehrte, lauthals sang. Dies wirft nur ein Schlaglicht auf den 18-jährigen Andrea. Aber man versteht, was für ein Typ er war. Wir sehen ihn in seiner Jugend vor uns, in tiefer Liebe zu Jesus und mit seiner fröhlichen Keckheit. Er konnte dir auf die Schulter schlagen und dann lachend sagen: «Weil Jesus schon gewonnen hat.» Sein Herz schien vor lauter Glück und Leidenschaft, diese großartige Nachricht bis an die Enden der Erde zu tragen, geradezu zu platzen. Nicht nur bis Siena sollte diese Nachricht reichen, wohin Don Giussani ihn 1976 schickte. Nein, er wollte sie bis an die Küsten des Pazifischen Ozeans tragen, nach Peru, wo er mit 55 Jahren seinen unermüdlichen Lauf auf dieser Erde beendet hat. Dort hat er, der sich für Jesus buchstäblich verzehrt hat, auch seine letzte Ruhestätte gefunden.
«Er ist der Erste, der auch im Missionsgebiet bestattet wurde», erläutert Don Pino. So zeigt Andrea uns das, was auch Don Giussani bereits an jenem Herbsttag des Jahres 1954 im Herzen trug, als er das Gymnasium Berchet betrat: Es geht um die gesamte Welt. Und ich glaube, dass Giussani sich nur eines wünschte: solche Menschen hervorzubringen.

Von Abbiategrasso nach Lima
Während eines Treffens mit den Memores Domini im Jahre 1993 las Don Giussani einen Brief von Andrea an Dado vor, der ebenfalls in Peru weilte. Sie bereiteten sich zur damaligen Zeit gerade auf einen Besuch einiger Leute in Cuzco in den Anden vor. Und so schrieb Andrés (mittlerweile ließ er sich mit seinem peruanischen Namen rufen): «Dass jemand sich in das verliebt, in das auch wir uns verliebt haben, ist unsere ganze Sehnsucht. Aber damit es so werde, müssen wir buchstäblich brennen, verbrennen aus Leidenschaft für den Menschen, damit Christus ihn erreichen kann.» Don Giussani las diese Zeilen und kommentierte sie bewegt: «Ich fordere euch heraus, ein ähnliches Zeugnis zu finden. Wo auch immer!»
Der 18-Jährige, der auf den Straßen von Abbiategrasso singend auf dem Fahrrad fährt, ist der 20-Jährige, der in den 70er Jahren an der staatlichen Universität von Mailand als Verantwortlicher von CL oft in den Hinterhalt prügelnder Extremisten gerät, ist der 23-Jährige, der 1976 in Siena mit langem schwarzen Bart unser jugendlich unruhiges Herz begeisterte. Er suchte keine Anerkennung, war aber der Erste, wenn es darum ging zu helfen: Ob beim Aufstellen der Stühle, beim Putzen der Toiletten oder beim Weißeln von Baracken. Er war der Erste, wenn es zu dienen galt. Immer bereit zu sagen «Hier bin ich!» und das mit einer Energie, die manchmal unbegreiflich schien, wo er doch nur manchmal aß. Dabei lachte er immer und spornte alle an. Wenn es nötig war, stellt er die Dinge auch mit Klarheit richtig.
Es ist derselbe, der 1988 in Lima als berühmter Professor, anerkannt auch unter den Intellektuellen und Ministern, mit der kleinen Sebastiana und anderen Kindern in einer Barackenstadt eine kleine Kapelle errichtete, damit Jesus auch diesen armen Leuten nahe sein kann. Es ist derselbe, der zerrissen nach Hause zurückkehrte, nachdem ihn eine Verbrecherbande beim Besuch eines verrufenen Viertels überfallen hatte. Er suchte dort ein verschwundenes Mädchen. Und es ist kein Zufall, dass der peruanische Präsident ihn zur Messe für Giussani einlud.

Missionarische Leidenschaft
«Dieses Verliebtsein in Jesus» schreibt Don Primo, «hatte in ihm die Quellen des Stolzes ausgetrocknet, denn nichts gehörte mehr ihm». Und so ist es wirklich. Denn wenn ich die «Hymne an die Barmherzigkeit» des heiligen Paulus höre, werde ich mir bewusst, dass ich genau das wirklich erlebt habe bei Andrea. Ich denke daran, wie bereit er war, sich mit seinem mannhaften Temperament zurückzunehmen. So habe ich unglaubliche Demütigungen in Erinnerung, die nur er annehmen konnte. Wer ihn vor sich hatte, konnte Jesus in ihm entdecken.
Vom heiligen Paulus hatte er auch die Radikalität und die missionarische Leidenschaft. Seine Mutter entstammte übrigens einer jüdischen Familie. Der Großvater, Emanuele Samek Lodovici, ein wirklich fähiger Mann, erlitt im Faschismus Verfolgungen; zunächst, weil er militanter Katholik der Volkspartei unter Sturzo war, dann, als Jude, wegen der Rassengesetze.
Ich sprach von der missionarischen Leidenschaft. In Andrea lebte sie mit Intelligenz und er hatte sie als junger Mensch in der Caritativa gelernt. Don Giussani hatte uns mit diesem Instrument gelehrt, das Herz der gesamten Welt gegenüber zu öffnen und den Bedürfnissen und dem Schmerz angemessen zu begegnen.
Als Tina aus Siena Andrés in Peru besuchte, nahm er sie mit auf den höchsten Punkt von Lima. Als sie unter sich das ganze Ausmaß dieser Megastadt von zwölf Millionen Menschen sahen, sagte er: «Schau dir das an, bist du dir dieser Dimensionen bewusst? Wir sind nichts. Was meinst du, was wir tun können?»
Wie aber hat Andrea, gerade dort, eine solche Spur hinterlassen können? Er hat ganz einfach das Leben der Menschen geteilt, und hat das angeschaut und ist dem nachgefolgt, was Gott vor seinen Augen wirkte. An jenem Tag sagte er auch zu Tina: «Hier brauchen wir keine Eroberer, sie haben schon zu viele davon gehabt. Du solltest die Geschichte Perus studieren, die Geografie und die Sprache. Und du musst die Heiligen dieses Landes kennen und zu ihnen beten. Und diese Menschen lieben. So wirst du dich vor ihnen hinknien können, so wie Gott sich vor jedem von ihnen hinkniet.»

Seine Studenten
Er betrachtete jede Person, die er auf der Straße traf, als ihm vom Herrn geschickt – vom armen Taxifahrer, den er überzeugte, ein Studium an der Abendschule aufzunehmen, bis zum berühmten Intellektuellen. So wiederholte er immer: «Wir dürfen keinen von denen vergessen, die Gott uns anvertraut hat.» Und genauso machte er es.
Und wer ihn traf, bemerkte dies. So haben Hunderte von Jugendlichen aus Lima in einem Blog und auf vielen Zetteln, die sie an den schwarzen Brettern der Universität Sedes Sapientiae angebracht haben, Folgendes geschrieben, als sie von seinem plötzlichen Tod erfuhren: «Was für eine unglaubliche Person.» «Andrés Aziani war außerhalb jeden möglichen Vergleichs, ein Mann, der vollkommen anders war als alle, die wir normalerweise treffen.» «Er hat uns gelehrt, wirklich Mensch zu sein.» Und Janina schreibt: «Mein Leben hat sich sehr verändert, nachdem ich ihn kennen gelernt habe.» Erika spricht vom «tiefsten Zeichen, das dieser außergewöhnliche Mann in mir hinterlassen hat.» Anthony: «Du hast mich gelehrt, das Leben in einer anderen Art und Weise zu leben. Ich danke Gott, dass ich dich kennen lernen durfte.» Ivan: «Er war ein glücklicher Mensch, was für eine Art und Weise, das Leben zu lieben! ... er hat uns für immer geprägt.» Lucila: «Er war glücklich, uns seine ganze Erkenntnis mitzuteilen, aber stets mit großem Respekt gegenüber jedem Studenten.» Fabiola: «Er gab alles, in jeder Lektion und überließ uns die Entscheidung, ihm zu folgen und für unsere Freiheit zu kämpfen. Er tat das, indem er alle Oberflächlichkeit ablegte, um das Leben mit einer Fülle zu leben.»
Auf Youtube haben seine Studenten ein Video eingestellt, auf dem man eine seiner überwältigenden Lektionen sehen kann. Sie nannten es: «Hommage an einen großen Professor und Freund – Du bist wirklich großartig.» Ein anderer Student hat an den letzten Satz von Andrés in seiner letzten Lektion erinnert: «‘Die Liebe ist stärker als der Tod’». Ich habe dich so gerne, lieber Professor!» Er war ein mitreißender Lehrer, der die Jugendlichen für die schönen und wahren Dinge begeisterte, von der Philosophie über die Musik bis hin zur Kunst. Er war aufmerksam für die Bedürfnisse eines jeden und kümmerte sich schließlich um Hunderte von ihnen. Vor allem aber war er – manchmal auch mit Ernst –, in der Lage zu vermitteln, was es heißt, als wahrer Mensch zu leben.

Nicht ehrerbietig, sondern bewegt
«Verliere niemals jemanden.» Auch nicht die weit Entfernten. Weder die Freunde aus Abbiategrasso noch die aus Siena, wo wir alle seine Kinder sind, da er dort die Gemeinschaft gründete. Anlässlich der Silberhochzeit der beiden «ersten» der studentischen Gemeinschaft Clu, Donatella und Marco, hat Andrea im vergangenen Mai einen wunderbaren Brief geschrieben, in dem er uns an das große Abenteuer mit den Studenten von CL und ihn erinnerte. Dieses Abenteuer hat unserer Berufung Gestalt gegeben und uns für immer geprägt. Denn Andrea hat in Siena seinen Studienabschluss gemacht und ist dort auch bei den memores domini eingetreten. Er schrieb: «Eine ganze Geschichte, ein ganzes Leben, geprägt von diesen Straßen, von diesen Gässchen und mutigen Flugblattaktionen, von dieser hartnäckigen und dickköpfigen Lust, „JA“ zu sagen, „Wir sind hier“!, „JA“. Wir sind hier und wir sind bereit! Immer wie wahrhafte Soldaten, die in den Tagen des Kampfes lernen, auch mehr Freunde zu werden, barmherziger und großherziger. Und man weitet den Blick und gelangt bis zu den äußersten Grenzen der Erde, zeugt leibliche und geistige Kinder, Söhne und Schüler, Freunde, möglicherweise auch Feinde, aber immer mit Größe und Transzendenz. Nicht nur und nicht mehr ehrerbietig, sondern bewegt bis hin zu den Tränen. Denn was haben wir im Grunde gemacht? Welchen Verdienst haben wir, wenn nicht den, Ja gesagt zu haben. Und fortzufahren, es immer wieder zu sagen, heute oder unter welchen Bedingungen auch immer... Freude, die alle Äußerlichkeiten durchdringt, all die Versuchungen, Seine Größe, Seine Fantasie und Seine Schöpfung zu reduzieren! Auch für mich waren jene Jahre entscheidend. Auch für mich hat sich in jenen Jahren buchstäblich alles entschieden, in den Genossenschaften, in den Parolen, die wir auf die Mauern sprühten, in den übertriebenen und gewalttätigen Streitigkeiten mit den Ultras, in den Dialogen mit allen. Aber das Schönste ist der Kampf und der Mut, den jeder jeden Tag aufs Neue aufnehmen muss, um Ja zu sagen! Das ist der Preis der Treue! Der Friede, die Freude und das Wissen, dass, wie Don Giussani es beschrieb, „das Leben so nicht unnütz ist.“ Aber dass es nicht unnütz sei, ist ein Geschenk und eine Gnade. Ja, lieber Freund! Ganz und gar Gnade! Seine Treue ist stärker als unsere Zweifel. Also können wir morgen wieder neu anfangen, denn, wie Enzo immer sagte und auch Carrón sagt es nun oft: „Das Schöne kommt erst noch!“»
Andrea schrieb dies wenige Tage, bevor er der Schönheit, die Fleisch angenommen hat, begegnen sollte und der er nun ins Angesicht schauen darf: dem Freund seines Lebens. An der Universität haben seine Freunde inzwischen Zettel mit seinen liebsten Sätzen angebracht, die in ihren Herzen verankert sind, wie: «Fieber des Lebens!» Und eine andere hat geschrieben: «Andrés und Giussani vereint mit Gott.»