Logo Tracce


La Thuile
Ein Abenteuer für sich selbst
Paola Bergamini

Vom 19. bis 23. August fand in La Thuile die Internationale Versammlung der Verantwortlichen von CL statt mit 450 Teilnehmern aus 70 Ländern. Tagebuchaufzeichnungen dieser vier Tage, ausgehend von einem wohlwollenden Blick auf sich selbst.

Auf der Rückwand steht in riesengroßen Buchstaben: «Ein Abenteuer an und für sich». Wir sind 450 Menschen aus 70 Ländern in La Thuile – «um dem zu gehorchen, was Christus unter uns wirkt, um zu verfolgen, was sich in der Wirklichkeit als Zeichen Seines Handelns bewegt», wie es Carrón im Einladungsschreiben an die Teilnehmer der Internationalen Versammlung der Verantwortlichen geschrieben hat. Es ist der erste Abend, ich schaue mich um: Da sind Gesichter von Freunden, die ich seit langem kenne und fast nur zu diesem Anlass wiedersehe, da sind Leute, mit denen ich tagtäglich zu tun habe, sowie völlig unbekannte Gesichter. Alle sind hier wegen jenes Faktums, das uns fasziniert hat und unserem Leben Fülle gegeben hat und gibt. Ich schreibe den Titel auf meinen Notizblock. Diese vier Tage Ende August sind vor allem für mich.

Das Bedürfnis des Ich
«Wir beginnen diesen Gestus, indem wir uns gegenseitig unterstützen, wir selbst zu sein, indem wir den Heiligen Geist um seinen Beistand bitten», so beginnt Carrón, bevor er das Discendi Santo Spirito anstimmt. «Ein Abenteuer an und für sich, für jeden von uns. Der Herr lässt Fakten geschehen, damit wir besser verstehen, was das heißen soll. Wie etwa den Tod unseres Freundes Andrea Aziani, von Don Danilo, von Giovanna oder von Alberto Ferrari», so beginnt Carrón. «Sie waren Glaubenszeugen, denn sie hatten den Blick fest auf Jesus gerichtet. Und sie haben ihr Zeugnis vor unseren Augen gelebt, damit wir erkennen können, wie es möglich ist, unseren Glauben in diesem kulturellen und historischen Kontext zu leben.» Der feste Blick auf Jesus macht uns zu «Menschen ohne Heimat, nicht assimilierbar von dieser Gesellschaft», aber damit das geschehen kann, muss der Glaube wirklich erfüllen. «Der Glaube als etwas Reales, die Anerkennung einer wirklichen Gegenwart, die zu einer Erfüllung führt. Aber dafür ist das Bewusstsein des eigenen Menschseins notwendig, also „die Zuneigung sich selbst gegenüber, die Ernsthaftigkeit des Blickes auf die eigenen Bedürfnisse“». So schreibt es Don Giussani in Menschen ohne Heimat, dem Text, der uns die kommenden vier Tagen begleiten wird. Wer schafft es aber, so zu sein? «Wer arm im Geist ist – fährt Carrón fort – wer nichts hat außer dem, für den und durch den er geschaffen wurde. Eine grenzenlose Hinwendung, ein Erwarten. So war der Blick Don Giussanis, voller Zärtlichkeit, eine Umarmung für meine ganze Menschlichkeit». Aber wie können wir eine Antwort finden auf dieses grenzenlose Bedürfnis? «Nur in der Anerkennung Christi. Erbitten wir diese Offenheit; lasst uns nicht wie Steine bleiben, wie die Menschenmenge, die ihm nachfolgte, ohne von ihm völlig ergriffen zu sein.»
Während wir in Stille hinausgehen, kommt mir ein Satz Bernanos in den Sinn, den Giussani während einer Equipe so kommentiert hat: «Der äußerste Gipfel der Kühnheit besteht darin, in Demut sich selbst zu lieben.» Das ist die Zuneigung zu sich selbst, zu unseren ureigensten Bedürfnissen, um die Carrón uns bittet, die uns gegenüber der Wirklichkeit offen macht. Unter den Anwesenden erkenne ich Lorenza, die Frau von Alberto Ferrari. Wie kann sie hier sein, so wenige Tage nach dem Tod ihres Mannes? Nur wegen dieses guten Blickes, der alles versteht, auch den Schmerz?

Das Schloss in den Pyrenäen …
Mittwochmorgen. Wir beten die Laudes und den Engel des Herrn und singen. Dann führt Carrón in die Versammlung ein:«Dieser Gestus muss eine Hilfe sein, gegenüber dem offen und verfügbar zu sein, was Er in uns in der Begegnung freigesetzt hat. Der letzte Punkt hiervon ist der Glaube, also die Anerkennung. Und damit das passieren kann, müssen wir von der Erfahrung ausgehen. Wir gehen auf Fragen und Probleme ein, aber lasst uns von der Erfahrung ausgehen». Für verkopfte «Diskussionen» ist kein Platz. Es bildet sich sofort eine lange Schlange. Alberto: «Im Juli habe ich eine SMS von einem Freund erhalten, der vor einigen Jahren entschieden hatte, nichts mehr mit der Bewegung zu tun haben zu wollen. Er möchte reden. Ich rief ihn an. Er sagte mir, dass er in letzter Zeit sein Leben, seine persönliche Geschichte, seine Familie und die ganze Wirklichkeit betrachtet hat und die Tatsache eingesehen hat, dass alles, was er an Gutem, Wahren und Großen gehabt hatte, von der Begegnung mit der Bewegung herrührte. Er fragte mich, ob ich bereit sei, die Freundschaft mit ihm wiederaufzunehmen. Das war umwerfend! Bei ihm hatte ich die Hoffnung aufgegeben, glaubte nicht mehr, dass noch etwas passieren könnte. Wir haben den ganzen Monat miteinander gesprochen. Dann hörte er von Andreas Tod und rief mich an. «Dieser Tod ist für mich eine große Herausforderung, der ich die Ehre geben will. Wir müssen wieder demütig werden und nachfolgen.» Das konnte nur das Werk Christi sein.» «Was ist das unverwechselbare Erkennungszeichen Christi? Dass er niemanden von uns je aufgibt. Christus ergreift gegenüber jedem von uns in unausdenkbarer Weise die Initiative», erklärt Carrón. Die Fragen gehen weiter, es geht um das, was uns am wichtigsten ist. Luca: «Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich wie das Bild von Margritte, Das Schloss in den Pyrenäen, bin. Dort ist ein Schloss zu sehen, dass auf Felsen gebaut ist, aber unter dem Fels befindet sich nichts. In meinem Leben gab es den missionarischen Elan, die Jungfräulichkeit, die Bewegung, aber alles schwebte in der Luft. Ich blieb bei der Größe des Zeichens stehen, ohne jemals die Frage bis auf den Grund zu stellen: „Wer bist du?“. Das ist eine Frage, die nur schwer durchkommt. Man bleibt bei den Dingen hängen, die dringend zu tun sind». Das ist eine grundlegende Frage auf die Carrón in den kommenden Tagen näher eingeht. Giorgio: «Das Thema des menschlichen Bedürfnisses ist das Thema meiner Gegenwart in der Bewegung. Vor kurzem habe ich begonnen, dieses Bedürfnis dem Du gegenüber bis auf den Grund zu leben, mit dem Du einen Dialog zu führen. Vor Jahren dachte ich, dass es etwas ganz Intimes, Inniges sei ...» Carrón setzt ein: «Warum ist das nicht etwas ganz Inniges? Weil der Ausgangspunkt eine reale Tatsache ist.»
Es ist Mittag geworden. Julián unterbricht, aber die Warteschlange ist noch lang. «Wir sehen uns heute Nachmittag wieder.» Ich esse mit den Russen zu Mittag und mein guter Freund Pezzi, der Erzbischof von Moskau, dolmetscht. Wir erzählen einander, wie es ist, in Moskau und Mailand zu leben. Wir stehen erst vom Tisch auf, als die Bedienung fast schon die Tischdecke wegziehen will. An der Bar kenne ich «Costola» von der Universität Cattolica, der mir von seiner Pilgerreise «in Sandalen» nach Tschenstochau erzählt. Am letzten Tag sehe ich ihn wieder, auf der Bühne, bei den Spielen. Auf dem Platz vor dem Hotel, um die Tische herum singt man, diskutiert man. In allen Sprachen, versteht sich.

... und das Lehrerkollegium
Um 16.30 beginnt die Versammlung wieder. Christina: «Einige Tage vor der letzten Lehrerkonferenz bittet die Rektorin mich, die Berichte der neu angestellten Lehrer zu lesen. Am Abend beginne ich damit und bin gerührt. Ja, bei den Passagen, wo die Menschlichkeit der Schreibenden sichtbar wird, bin ich gerührt. Insbesondere bin ich beeindruckt davon, dass es an meiner Schule, wo die Unfähigkeit und der Fehlschlag die letzten Worte sind, solche Menschen gibt. Am Ende der Lehrerkonferenz bittet mich die Rektorin von den Berichten zu erzählen. Ich beginne bruchstückhaft die Zeilen zu lesen, die mich berührt haben. Das beeindruckt alle Kollegen. Niemand stöhnt. Ganz plötzlich ist ein frischer Luftzug in diesen sterilen und niederschmetternden Ort gekommen. Am Ende musste ich mehr als eine Stunde länger bleiben, um mit den Kollegen zu sprechen. Ich habe mich gefragt „Was lässt mich eigentlich bestimmte Dinge wahrnehmen? Christus“». «Man erkennt, dass es Christus ist, an dem, was man sieht. Nicht die Wiederholung einer Rede ermöglicht diese Haltung, sondern ein Ich, das so schauen kann», wirft Carrón ein. Marco: «Im Juli war ich beruflich in Lüttich. Wir waren ein Team von Leuten aus Europa und den USA. Ich war schwer beeindruckt, wie Brenda, eine junge amerikanische Forscherin gearbeitet hat. Ich bemerkte eine besondere Aufmerksamkeit ihrerseits für das, was passiert und vor allem, wie sie die Leute anschaut, so dass ich dachte: „Welche wunderbare Menschlichkeit. Sie scheint eine von uns zu sein“. Nach einigen Tagen ruft mich mein Freund Mauro an: „Hast du Brenda kennen gelernt? Weißt du, dass sie seit einigen Monaten bei uns mitmacht?“. Es gibt eine Art, mit den Dingen umzugehen, die wirklich die Menschlichkeit von Christus kennzeichnet.» Das ist der Zeuge: Ein Stück neuer, erkennbarer Menschlichkeit.
Die Versammlung geht weiter bis zur Messe: Das ist das Blühen der Erfahrung, eines Lebens im Vollzug. Für mich geht das während des Abendessens mit den amerikanischen Freunden weiter … während ich mit Giovanna einen Espresso trinke und noch während ich mit David eine Zigarette rauche. Eine Reihe von gewollten, aber unerwarteten Begegnungen. Die Realität geht stets weit über unsere Pläne hinaus.

Rose, Cleuza und die anderen
Abends schauen wir den Kurzfilm von Emmanuel Exitu über die Arbeit von Rose mit Aids-Kranken an, der beim letzten Festival in Cannes ausgezeichnet wurde. Ich notiere einen Satz von Rose: «Die Sachen, die gemacht werden müssen, ermüden. Es ist das Betrachten, das bewegt, das berührt.»
Donnerstagmorgen. Auf der Bühne sind Cleuza und Marcos Zerbini. Carrón führt ein: «Ich habe unsere Freunde gebeten, uns zu bezeugen, was sie bewegt hat, denn was ich in ihnen sehe, ist etwas Einzigartiges, das mich wegen der Kraft seiner Einfachheit erschüttert.» Sie erzählen über sich, von den letzten Ereignissen. Ihre Geschichte kenne ich, aber mich beeindruckt die Kraft, die Anziehungskraft, die sie hervorrufen. Wo entsteht sie? «Der Ursprung ist ein Anderer, der ins Leben tritt, aber man braucht ein einfaches Herz, um das anzuerkennen», ergänzt Carrón. Nach diesem Zeugnis unterstreicht er zwei kritische Punkte, die während der Versammlung deutlich wurden. Erstens: Das Risiko, dass der Glaube sich von der Erfahrung zur Ethik fortbewegt. Zweitens: Die Innerlichkeit, also das «In der Luft Hängen bleiben». Wie kann man diesen Risiken begegnen? «Der Glaube als Weg der Erfahrung, wie uns das Seminar der Gemeinschaft aufzeigt. Von der Wirklichkeit ausgehen, denn die Dynamik des Glaubens ist die Dynamik der Wirklichkeit. Denn am Anfang steht eine Tatsache.»
Das Mittagessen ist halb südamerikanisch und halb kasachisch. Der Nachmittag ist frei, um das wieder aufzugreifen, was in überraschender Weise zum Vorschein kam. Es ist eine persönliche Arbeit, der sich jeder widmet, allein oder mit Freunden. Am Abend hören wir die Zeugnisse von Andrea Franchi zur Caritativa bei den «Tafeln der Solidarität»und von Bernhard Scholz, dem Personalberater und neuen Präsident der Compagnie delle Opere, über seine Arbeit. «Zwei Personen – so stellt sie Giorgio Vittadini vor – die in der Begegnung mit der Bewegung ihr Bedürfnis nach Menschlichkeit entdeckt haben und die der Sache auf den Grund gegangen sind».
Am Freitag machen wir einen Ausflug. Don Eugenio gibt den Hinweis: «Es können alle schaffen, aber nicht in Latschen.» Einige Ausländer leihen sich Schuhe. Es wird gewandert, gemeinsam gegessen, gesungen. Die Wirklichkeit einer so anziehenden Gemeinschaft schließt alle mit ein.
«Was wollen wir von der Gesellschaft?» war die Frage, auf die Maurizio Lupi, Vizepräsident der Abgeordnetenkammer und Javier Prades in ihrem Zeugnis am Abend eine Antwort gaben. «Wir können festhalten, dass, vor allem wenn es um Dinge geht, die die Politik betreffen, die Wahrheit nicht zur Abstimmung gestellt werden darf. Denn wenn sie verliert, gilt sie trotzdem und wenn sie gewinnt, kann sie doch nicht erzwungen werden. Damit die Wahrheit gelebt werden kann, braucht sie die Freiheit», schloss Giancarlo Cesana.

Der Weg der Erkenntnis
Samstag, letzter Tag. Nachdem wir den Engel des Herrn und die Laudes gebetet haben, singen wir Noi non sappiamo chi era; das Lied, das Giussani am Ende seines Lebens besonders gern hörte. Dann die letzte Lektion. «Ganz gleich, in welcher Situation ein jeder sich befand, er wurde sofort von einem Blick voll der Zuneigung ergriffen», resümiert Carrón. Dann lässt er die Arbeit dieser Tagen Revue passieren: Die Zuneigung zu sich selbst, das Ich als Bedürfnis, die Antwort auf diese Frage in der Realität, das heißt eine Umarmung, ein Blick, heute wie vor 2000 Jahren, die Zeugen dieses Ereignisses, die Freiheit des Herzens, das anzuerkennen. Das ist Weg der Erkenntnis, der im Glauben Früchte trägt.
Zum Schluss die Hinweise die «nichts rein operativ Praktisches sind, sondern das Zeichen des gemeinschaftlichen Lebens, die Verlängerung dieses Blicks bis in die Werke hinein», erklärt Julián. In meinem Herzen sind die Blicke von Lorenza, Guido, Michele, Ramon, Davide, Alberto, Giovanna, Rose (und die Liste ist noch viel länger), die in diesen Tagen auf ganz einfache Weise sichtbar gemacht haben, dass Christus unser Leben in einer Umarmung rettet, wie vor 2000 Jahren.