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Meeting
Das, was wir gesehen haben
Davide Perillo

Die Kraft der Zeugnisse: Die Begegnungen, das Staunen der Besucher und einen Reihe von Fakten, die schließlich eine Frage wachriefen. Die Chronik einer wirklich außergewöhnlichen Woche.

Das diesjährige Meeting war vor allem durch die Kraft der Zeugnisse und der Fakten geprägt, die viele Besucher staunen ließen und tief bewegten. Chronik einer außergewöhnlichen Woche, die das Gewöhnliche veränderte.

Wie kann man in einer Monatszeitschrift vom Meeting berichten? Man macht Vorüberlegungen, berechnet die Zeilenzahl: Soundsoviele Seiten für Begegnungen, soundsoviele für Ausstellungen, dann die Geschichten, die Freiwilligen ... Du weißt, dass du niemals alles erzählen kannst, aber du möchtest zumindest das Beste in deine Spalten schreiben.
Wie kaum zuvor wurde der Titel des diesjährigen Meetings – Entweder Protagonisten oder niemand – in Fleisch und Blut übersetzt, in lebendige Gesichter.
Es genügte, sich mit offenen Augen einige Stunden in den Pavillons aufzuhalten und zu beobachten, was um die Uganderin Vicky vom Meeting Point, Pater Aldo Trento aus Lateinamerika oder die Zerbinis, die Leiter der Landlosenbewegung aus Brasilien, herum geschah. Oder man begab sich in eine der vielen Ausstellungen. Kurz gesagt, es genügt wenig, um zu verstehen, dass es besser ist, den Plan fallen zu lassen. Statt der Illusion nachzuhängen, einen Gesamtüberblick zu geben lässt man lieber die Fakten sprechen. Nicht, um bei einem «Wie schön!» stehen zu bleiben, sondern um zu verstehen, was sie mitteilen und wie sie uns in Frage stellen. Vor allem aber, um der Frage nachzugehen, wer sie ermöglicht hat. Denn wir können darüber denken, wie wir wollen, aber angesichts von derartigen Tatsachen kann man nicht anders, als staunend zu fragen, woraus diese andersartige Menschlichkeit erwächst. Wer war der Protagonist?
Die folgenden Seiten versuchen dies. Wir wollten die Zeugen mit Auszügen aus ihren Beiträgen selbst zu Wort kommen lassen, von Ereignissen berichten und einige Themen skizzieren. So bekommt man zumindest einen Eindruck und vielleicht auch Lust, nächstes Jahr erstmals oder wieder dabei zu sein, als Protagonist.

Die Fakten
Diesmal bietet es sich an, mit dem Ende zu beginnen. Freitagabend, im Theater spielt van de Sfroos, aber aus einem Pavillon weiter hinten erklingen andere Lieder und Zeichen der Fröhlichkeit. Wer dorthin kommt, traut seinen Augen nicht: Hunderte von Personen stehen am Stand der Ausstellung über die Initiative für einen anderen, menschlichen Strafvollzug. Die Polizisten tragen das T-Shirt der Gefangenen, mit Häftlingsnummer. Und inmitten dieses Festes, das an sich schon außergewöhnlich wäre, ertönt die Stimme eines der elf Inhaftierten, die in dieser Woche über ihre Veränderung berichtete haben: «Ich kann es kaum erwarten, ins Gefängnis zurückzukehren und allen zu erzählen, was ich gesehen habe.» Auch dies das Zeichen einer Gegenwart, von der man nicht absehen kann, will man nicht alle für verrückt erklären. Und niemand hält es für übertrieben, als Alberto Savorana, der Chefredakteur von Tracce [Spuren] das Mikrofon nimmt und sagt: «Bleiben wir stehen und schauen wir: Ist dies nicht genau so wie bei Johannes und Andreas, als sie nach der Begegnung mit Christus heimkamen?» Dies ist der Geschmack des christlichen Faktums. Unvorhergesehen, unvorhersehbar und dennoch entspricht es so sehr dem Herzen, dass die Frage hervorbricht: Wer bist Du?
Auf diesem Meeting sind viele Dinge passiert, die diese Frage wachriefen. Kleine und große Fakten, eine fortgesetzte Überraschung. Wie zum Beispiel bei Vicky. Ihr Bericht von der Aids-Erkrankung, von tiefer Resignation und neuer Hoffnung hat alle aufgerüttelt. Aber wer ihr in den sechs Tagen, die sie auf dem Meeting verbrachte, gefolgt war, war noch tiefer bewegt: Wenn man sie mit den Schülern beim Mittagessen oder bei den freiwilligen Helfern traf, bei den Häftlingen, die von ihrem Lächeln berührt wurden. Und wir erinnern uns an die lange und wortlose Umarmung mit Don Julián Carrón – stumm und froh, genauso, wie man vor einem Wunder steht. Zufällige Begegnungen, in denen sich etwas anderes mitteilt – so wie das Treffen mit dem buddhistischen Mönch Shodo Habukawa nach der Vorstellung des Religiösen Sinn auf Japanisch. Zur Begrüßung zieht er das Titelblatt von Tracce vom Februar 2008 mit dem Aufmacher von Don Giussani aus der Tasche. Das genügt, um von der Tiefe einer Freundschaft zu erzählen. Dasselbe gilt, wenn man zufällig den Vorsitzenden der italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Bagnasco trifft, der die Ausstellung über das von den Türken besetzte christliche Zypern besucht. Auf Einladung des Archimandriten Chrysostomos segnet er den Stand und die orthodoxen Gläubigen. Das ist wahre Ökumene: Faktische Brüderlichkeit. Kurz darauf besucht Bagnasco auch die Ausstellung über die Gefangenen. Lange verweilt er beim Dokumentarfilm über die Initiative. Er berichtet, wie die Gefangenen nach einer Begegnung wieder ihr Leben in die Hand nehmen und neuen Mut gewinnen. Der Erzbischof ist so ergriffen, dass er zunächst gar nicht aufstehen will, doch dann alle überholt, um sichtlich bewegt die Gefangenen zu begrüßen. Er ist nicht der Einzige. Viele kommen hier vorbei: Politiker, Unternehmer, Journalisten ... Unerkannt geht ein ehemaliger Terrorist vorbei, der einen der ausgestellten Briefe verfasst hat. Er hat 26 Jahre Haft hinter sich. Er umarmt Nicola Boscoletto, den Verantwortlichen der Kooperative Giotto, der alles in Bewegung gesetzt hat, und bricht in Tränen aus. Chiara kommt vorbei, die durch eine Krankheit an den Rollstuhl gefesselt ist. Beim Abschied hinterlässt sie eine SMS: «Danke. Es war für mich die Möglichkeit, die Gefangenschaft auszukosten. Auch jene meines Rollstuhls.» Italiens Justizminister Angelino Alfano macht sich beim Anschauen des Dokumentarstreifens Notizen. Finanzminister Giulio Tremonti ist ebenfalls sichtlich beeindruckt. Das nächste Jahr wolle er die ganze Woche auf dem Meeting bleiben, meint er schließlich. Und auch der Funktionär einer Mitte-Links-Partei, der zunächst mit hochgezogener Augenbraue zu einer Diskussionsrunde gekommen war, meint nach einem Besuchstag auf dem Messegelände von Rimini zur Hostess: «Wenn du mir jetzt sagst, das es einen Laster mit Stühlen auszuladen gibt, dann mache ich es. Aber ich mache es für das, was ich hier gesehen habe.» Fast dieselben Worte benutzt ein Altmeister des italienischen Journalismus Giampaolo Pansa, der voller Wertschätzung hinzufügt: «Das hier hat mich wirklich verblüfft.» Sein Kollege Antonio Polito, Chefredakteur des Il Riformista ist ebenfalls «schwer beeindruckt», vor allem von den freiwilligen Helfern. In der Tat, wie kann man unbeeindruckt bleiben angesichts von Jugendlichen, die aus Kasachstan anreisen, und hier für die Meetingbesucher unter anderem die Toiletten putzen? Oder angesichts einer Gruppe von Richtern, die die tägliche Presseschau erarbeiten.
Ann Glendon, die renommierte Juristin und derzeitige US-Botschafterin beim Heiligen Stuhl meint nach einem Abendessen mit Carrón und einer Gruppe von Freunden: «Wir haben über das Herz gesprochen, indem wir von unserem Herzen ausgingen.» Inzwischen gehört auch der jüdischstämmige US-amerikanische Staatsrechtler Joseph Weiler zu den Dauergästen des Meetings. Und nach einem Treffen mit Schülern und Studenten stellt er die letzte Frage, von Freude überrascht: «Wer hat dafür gesorgt, dass wir uns begegnen können?» Genau. Wer?