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Thema / Von der Hoffnung gerettet
Amparito und die Augen des Himmels
Stefano Andrini

Nach 30 Jahren schmerzhafter Erfahrungen und einem Groll gegenüber Gott, verändert eine Begegnung das Leben von Amparito: «Die Liebe Gottes ist sehr groß, denn sie hat es nicht zugelassen, dass ich mich verliere; sie war beharrlich und hat mich schließlich gerettet»

Amparito Espinoza ist 38 Jahre alt und wohnt im Stadtteil Pisulli am äußersten Rand von Quito. Mit drei Millionen zumeist armen Einwohnern gleicht die ecuadorianische Hauptstadt vielen lateinamerikanischen Metropolen. Und viele Lebensgeschichten beginnen hier wie jene von Amparito. Sie hatte eine gute wenn auch nicht immer leichte Kindheit: «Mir fehlte manchmal das Brot, aber niemals fehlte mir die Zuneigung meiner Großmutter, die mich im Glauben erzogen hat», erinnert sie sich. Doch dann folgt eine Geschichte voller Schmerzen und Tränen. Ihre Mutter läuft davon und hinterlässt der damals knapp 16-Jährigen die Sorge für die jüngeren Schwestern. Sie arbeitet vier Jahre lang als Hausmädchen. Dann folgt die erste Liebe und die Mutterschaft. «Meine erste Tochter verlor ich durch den plötzlichen Kindestod. Sie wurde gerade ein Jahr und vier Monate alt. Damals empfand ich die tiefste Traurigkeit der Welt», berichtet Amparito.
Sie wird erneut schwanger. «Ich war mir sicher, dass mir der Herr noch einmal die Möglichkeit geben wollte, Mutter zu werden. Mit meiner Tochter Amanda, die heute 15 Jahre alt ist, kehrte das Glück zurück». Aber nur für kurze Zeit. Der Vater des Mädchens verlässt die Familie, um eine andere Frau zu heiraten. Dann kommt er wieder zurück. Amparito wird mit dem dritten Kind schwanger, aber ihr Partner läuft zum zweiten Mal davon. Er lässt die Mutter mit ihren Kindern allein. Sie ist im achten Monat schwanger, muss ihre ältere Tochter aufziehen und hat kein Geld. Auch das neugeborene Kind hat ein rätselhaftes Schicksal: Es stirbt mit vier Jahren an einer Herzkrankheit. «In diesem Augenblick wurde alles dunkel», erzählt Amparito: «Ich fühlte einen Groll gegenüber Gott. Ich weinte und schrie. Ich sagte zu ihm: „Was willst Du von mir? Wenn ich nicht böse bin, warum passieren mir solche Dinge? Ich will nicht mehr weinen. Stelle mich da hin, wo du mich haben willst, aber an einen Ort, wo ich für Anderen nützlich sein kann“.»
Am nächsten Tag bekommt sie einen Anruf von den Schwestern von Sacro Costato, wo die Tochter zur Schule geht. Ihr wird ein Arbeitsplatz angeboten. Amparito nimmt ihn an. Auf diese Weise lernt sie Stefania Famalonga kennen, die Verantwortliche der AVSI-Projekte in Ecuador. «Sie hatte das liebevollste Lächeln und den klarsten Blick, den ich bisher gesehen hatte», erzählt sie. «Ich bemerkte sofort, dass ich ihr keine Last war. Sie nahm mich einfach auf. So begann ich ein Jahr nach dem Tode meines Sohnes, im November 2004, mit der Arbeit».
Einige Monate später kam die Einladung, an den Ferien der Bewegung teilzunehmen. «Ich hatte noch nie so viele Leute zusammen gesehen. Die meisten von ihnen kannten sich noch gar nicht, aber sie schienen dennoch gute Freunde zu sein. Diese Begegnung hat mich verändert. Ich spürte, dass ich niemals alleine gewesen war. Es war so, als ob ich diese Freundschaft schon immer gehabt hätte. Das weckte in mir die Neugierde: Wie ist es möglich, dass diese Leute mich so annehmen, obgleich sie mich überhaupt nicht kennen? Meine Tochter war auch glücklich, sie verstand sich mit allen gut. Als ich aus den Ferien zurückkehrte, wollte ich von Stefania mehr darüber wissen. Sie lud mich zum Seminar der Gemeinschaft ein. Aber da das Treffen weit entfernt stattfand, bat ich sie, mit dem Seminar in meinem Viertel zu beginnen, hier in Pisulli».
Die gebürtige Italienerin Stefania ist seit fünf Jahren in Ecuador. «Nachdem ich in Rumänien einige Erfahrungen gesammelt hatte, gab mir AVSI die Möglichkeit, einigen italienischen Ordensschwestern zu helfen, die in den Außenbezirken von Quito arbeiteten», berichtet die 37-Jährige. Das Projekt hieß Pelca. Die Abkürzung steht für „Kinderhort im eigenen Haus“. Es ging darum, Müttern bei der Erziehung ihrer Kinder zu helfen. Wir fingen bei Null an. Es gab nur eine Liste von Kindern, die uns die Schwestern gegeben hatten. Ich suchte Mitarbeiter und die Ordensfrauen stellten mir Amparito vor». So besuchten die beiden zunächst vier Monate lang alle Kinder zu Hause. Dabei lernten sie auch deren Familie und Lebenssituation kennen. «Wir trafen uns in der Früh auf der Straße und teilten uns die Namen der Kinder auf. Dann sahen wir uns am Nachmittag gegen fünf, um wieder auszutauschen». Nach vier Monaten kamen zwei weitere Personen hinzu.
«Dank der Weihnachtskollekten für die AVSI konnten wir vor drei Jahren einen Kindergarten eröffnen. Wir nannten ihn „Ojos de Cielo“ [Augen des Himmels]. Heute beherbergt er 35 Kinder. Außerdem sind sieben Kinderhorte in Familien entstanden. Dabei geht es vor allem um berufstätige Mütter, die gezwungen waren, berufstätig zu sein und bei der Arbeit sich die Kinder in Leintüchern auf den Rücken zu binden. Zudem gibt es eine Kinderbetreuung nach der Schule sowie Hilfen für Arbeitsuchende Müttern, wie Ausbildungsangebote oder eine kleine Schneiderei».
«Dabei vergessen wird natürlich nie den Aspekt der Erziehung, angefangen bei uns selbst», betont Stefania. «Die Zahl der Kinder wuchs schnell von zunächst 280 auf 550. Das stellte uns vor die Frage, wie es möglich ist, bei diesem Umfang alle Kinder und ihre Mütter zu erreichen. Uns wurde klar, dass man es wie Jesus machen musste: Einige auswählen, um alle zu erreichen. So begleiten wir alle, die daran mitarbeiten. Am Montagmorgen helfen wir uns erst einmal, uns den Sinn dessen bewusst zu machen, was wir tun: Dazu lesen wir gemeinsam, was uns Don Giussani über den Wert der Arbeit, der Nächstenliebe und der Erziehung vermittelt hat. Dann vergleichen wir es mit unserem Leben, vor allem mit dem, was wir hier tun».
Das ist der Beginn einer Veränderung, kurz: ein Wunder. «Manchmal bekomme ich ein bisschen Angst, wenn ich die Dinge sehe, die mich hier umgeben», sagt Amparito. «Wo ich wohne, gibt es viel Gewalt, Droge und Lügen. Aber das erste Mal in meinem Leben fühle ich mich jetzt sicher. Mir gefällt mein Leben. Ich danke Christus für die Freunde, die er mir auf meinen Weg gestellt hat. Diese Begegnung lehrt mich, die anderen anzunehmen, wie sie sind, und auch mich anzunehmen, wie ich bin. Er lehrt mich, die Liebe zu verschenken, die in meinem Herzen ist, ohne irgendeine Gegenleistung. Ich will, dass unsere Herzen immer unruhig sind, so dass wir die Wirklichkeit sehen können, die uns umgibt, um wie der lebendige Christus zu sein. Er hat uns aus unserem Egoismus errettet, indem Er uns mit Liebe erfüllt hat, damit wir auf diese Weise den anderen das weiterschenken können, was Er für uns getan hat. Heute kann ich sagen, dass sich dank dieses schmerzerfüllten Weges mein Leben verändert hat. Der Schmerz ist nicht verschwunden, er begleitet mich. Aber ich habe verstanden, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, sondern der Beginn der Begegnung mit der Bestimmung ist, das heißt mit Christus. Eines Tages werde ich zurückkehren, um meine Kinder wieder zu sehen. Ich werde froh und dankbar sein, sie wiederzufinden. Aber die Liebe Gottes ist sehr groß, denn sie hat es nicht zugelassen, dass ich mich verliere. Sie war beharrlich und hat mich schließlich gerettet. Ich denke, dass dies für alle so sein muss, denen ich hier begegne».