Logo Tracce


Thema / Von der Hoffnung gerettet
Von der Hoffnung gerettet
-

Da ist Pino, der «wie eine Larve« lebte oder Nelson, den sein eigener Vater mehrfach mit dem Messer stach. Er redet heute von Vergebung. Und dann sind da Donatella, Matteo und viele andere … Eine Reise in die Marken, wo Menschen, die vom Drogenmissbrauch gezeichnete sind, durch eine christliche Freundschaft wieder Hoffnung finden. Denn sie haben «die Gewissheit einer Gegenwart entdeckt, die ihnen Gewissheit für die Zukunft gibt»

Marco ist über die frisch verlegten Pflastersteine gebeugt. Heute regnet es nicht, und so kann er den Boden vor dem Eingangstor fertigstellen. Nun fehlt eigentlich nur noch das Dach. Doch das Material kommt wohl erst in ein paar Tagen. Marco ist 27. Er stammt aus einem Dorf außerhalb Roms. Ein Ex-Junkie. Vom Joint zur Spritze: Seine Geschichte ist eine wie viele andere auch. Arbeit, Familie und dann der Absturz. Und, wie er sagt, die Anmaßung, «auf alles, was dir das Leben abverlangt, ganz allein antworten zu wollen. Bis du dir den Kopf einrennst und zusammenbrichst. Ohne jede Hoffnung ...» Jetzt rappelt er sich langsam wieder auf. Er kam vor fast zwei Jahren in die Gemeinschaft ... «Und heute kann ich es kaum erwarten, wieder nach Hause zu gehen.»
Ein Zuhause und Hoffnung. Deshalb sind wir hierher gekommen, in einen Winkel der Marken, in die Nähe von Macerata.
Von Mailand aus muss man 400 Kilometer fahren, um diesen Ort zu finden, wo «eine neue Hoffnung» entstehen kann. Wie das? Durch die Begegnung mit etwas Gutem und Solidem: Freundschaft und Pflastersteine. Und festen Fundamenten, weil sie auf den Glauben gebaut sind, auf die Erkenntnis, dass die eigene Bestimmung gegenwärtig ist. «Die Gewissheit einer Gegenwart, die dich der Zukunft gewiss macht,» wie Don Giussani sagt.
Das also ist die Geschichte der «Pars»: Glaube, Freundschaft und Hoffnung. Alles eingebettet in die Hügellandschaft von Corridonia, im Bezirk Cigliano, wo das Dorf San Michele Arcangelo steht. Auf dem Schild ist «Landwirtschaftliche Genossenschaft» zu lesen. Doch San Michele ist weit mehr. Es ist ein Teil eben dieses Archipels «Pars». Die italienischen Initialen stehen für «Vorbeugung, Beistand, soziale Wiedereingliederung», eine Genossenschaft zur Rehabilitierung von Menschen mit der Doppeldiagnose Sucht und Persönlichkeitsstörung.
Es ist ein kleiner Komplex aus Backsteinbauten. Von der Straße aus ist er gut zu sehen, bevor es drei Kurven hinaufgeht und man direkt davor steht. Wir werden von Josè Berdini empfangen, der zusammen mit seinem Vetter Giorgio Torresetti die Pars gegründet hat. Torresetti ist heute der Präsident. Eine Umarmung, ein Kaffee. Und Josè beginnt zu erzählen: «Mitte der 80er Jahre bin ich in die Gemeinschaft von Don Gelmini eingetreten. Auch ich war in die Drogen gerutscht, wie viele in jenen Jahren. Ich wurde clean und habe mich verändert. Und dann habe ich dank meines Vetters und Lora, die heute meine Frau ist, die Bewegung von CL kennengelernt. Sie waren damals schon dabei. Dann kam es, dass Don Gelmini zum Meeting von Rimini eingeladen wurde, und am Ende eines öffentlichen Auftritts forderte er alle Zuhörer auf, ihm bei seinem Werk zu helfen, und CL bat, Abgänger aus seinen Rehabilitations-Gemeinschaften bei sich aufzunehmen.» Und so war es denn auch, lacht Josè: «Kurz darauf haben Lora und ich bei uns einen Verrückten aufgenommen. Schon am ersten Abend hat er unser neues Fahrrad zu Schrott gefahren.» ... Das eine zog das andere nach sich, und so entstand schließlich 1990 der Verein, der später zur Genossenschaft wurde. Im Jahr 2000 wurde ein Traum wahr. «Mit Giorgio haben wir gedacht, es wäre schön, wenn wir zusammenleben würden, unsere beiden Familien und noch zwei andere Freunde. Und eine Erfahrung der Gastfreundschaft in einer neuen Form zu machen, auch mit den Leuten der Rehabilitierungsgemeinschaft.» Sie fanden ein kleines Landgut außerhalb von Corridonia, und dann die Finanzierung.
Nach drei Jahren Arbeit konnten die vier Familien schließlich im Sommer 2003 in das umgebaute «Familienhaus» in San Michele ziehen. Das Haus steht im Dorfzentrum, neben der Dorfhalle. 50 Meter weiter die «Wohnstruktur für die soziale und berufliche Wiedereingliederung.» Ein großes zweistöckiges Haus, wo die jungen Leute am Ende ihrer Rehabilitationstherapie leben. Heute leben sie hier zu acht in Selbstverwaltung. Hier stoßen wir auf Marco. Er macht in San Michele die Lehre beim Dorfschmied Armando, der – mit einem Schnurrbart und langen Haaren – immer ein Lachen im Gesicht hat. Er schmiedet das Eisen noch auf die alte Art. Stolz zeigt uns Marco die Werkstatt auf der anderen Straßenseite. «Löten geht schon ganz gut,» meint er und deutet auf Metallschlingen, die er selbst gebogen hat, sowie Zeichnungen für Tore und Gartenzäune. Dann erzählt er, dass er mit anderen in Schulen und Pfarreien geht, um die Kinder über die Gefahren des Kiffens als Einstiegsdroge aufzuklären. Nur wenige Meter weiter arbeitet Pino. «Das wandelnde Wunder», wie Josè ihn nennt. Vor acht Jahren stieß er zur Pars: «Mir ging’s damals ganz mies. Ich hing nur im Bett herum. Wenn du abhängig bist, wirst du zur Larve. Doch dann entschied ich mich, dass mir dies nicht mehr reicht, weil mich die Menschen um mich herum ernst nahmen. Das war für mich ganz neu. Denn wer Drogen nimmt, glaubt, alles allein zu schaffen.» Doch Pino gelang der Neuanfang. Und er ist zutiefst dankbar dafür, dass ihm jemand das Leben wiedergeschenkt hat, sagt er, und zwar so dankbar, dass er nicht mehr aus der Gemeinschaft weg wollte. Er blieb zum Arbeiten: Morgens klebt er für die Gemeinde Plakate, am Nachmittag setzt er in seiner Werkstatt Polystirolformen zusammen, gemeinsam mit einem anderen jungen Mann, Mauro. Stolz zeigt er uns das Photo von seiner Hochzeit, im Januar vor einem Jahr, mit Carla: «Jetzt hätten wir auch gerne Kinder.» Die Zukunft hat ein anderes Gesicht bekommen. Hoffnung, eben.
Über den Feldern hängt winterliche Ruhe. Josè zeigt es uns von der Anhöhe aus: die Fruchthaine, die gepflügten Felder, die Bienenstöcke und einen kleinen See am Fusse des Hügels. «Wir bewirtschaften den Boden, um ein bisschen was zu verdienen: Wir machen Honig, Marmelade, Öl. Das verkaufen wir auch jeweils nach Abschluss der Treffen, die wir hier bei uns im Versammlungssaal organisieren und dazu wichtige Leute einladen, um mit ihnen über viele Themen zu reden, von aktuellen Ereignissen bis zur Kultur. Im Juli ist der Politiker und Wirtschaftsjournalist Oscar Giannino gekommen. Vor ihm auch die Schauspielerin Claudia Koll. Der Anklang? Es kommen immer Leute aus der Gegend, und dann essen wir zusammen. Der Versammlungssaal liegt gleich neben der Küche ...» Beim Rundgang durch das Dorf erzählt Berdini von vielen Erfolgserlebnissen der vergangenen Jahre. Sie kamen unerwartet, dank der Vorsehung. Neben San Michele gibt es nur wenige Kilometer weiter den Komplex von Civitanova Alta, «Die Eichen», mit Töpfer- und Werkstätten für Möbelrestaurierung. Und in Civitanova Alta auch das jüngste Geschöpf, «Ikarus», ein Auffangheim für Minderjährige, mit neun Jugendlichen. Näher gelegen, in Corridonia, die Gemeinschaft «Don Vincenzo Cappella», im Bezirk Gabbi. Dort landen die jungen Leute gleich zu Beginn der Therapie, auch auf Hinweis des regionalen Dienstes für Drogenabhängigkeit (Sert). Und dann wäre da noch das Heim «Santa Regina» im Stadtzentrum.
«Zu uns kommen ausnahmslos Grenzfälle: vom „äußersten Rand“, die keiner mehr will», erklärt Josè. Nicht nur wegen der Drogen. Es gibt auch andere Süchte: Alkohol, Medikamente ... Oft gehen sie mit Persönlichkeitsstörungen einher. Kurz, hierher kommen die, denen es wirklich dreckig geht, die «hoffnungslosen Fälle»... Oder fast. «Denn bei vielen Menschen scheint es anfangs fast unmöglich überhaupt an Rehabilitation oder Heilung zu denken. Doch alle machen Fortschritte, und zwar große», berichtet Josè.
Genutzt werden alle verfügbaren Instrumente: «Die Aufnahme allein genügt in solchen Fällen nicht. Es braucht auch eine Behandlung, eine Therapie. Dafür haben wir Teams aus Ärzten und Psychologen, die uns begleiten.» Alles wird genau abgewogen: «Natürlich von Fall zu Fall. Auch die individuellen Wünsche der Gäste. Alle zwei Wochen dürfen sie sich etwas wünschen: die Eltern sehen, mehr Zigaretten ... und wir diskutieren darüber. Wir lassen sie keinen Augenblick allein.» Die Idee zur Ausarbeitung einer durchstrukturierten Methode entstand aus der Begegnung mit dem Psychiater Giuseppe Mammana: Er gehörte in den 80er Jahren zu den Planern des italienischen Drogengesetzes «Iervolino-Vassalli». «Dieses Gesetz erlaubte es, neue Strukturen mit ganz bestimmten Kriterien zu eröffnen. Wir klopften bei ihm an, und er half uns enorm viel beim Ausfeilen dieser Methode, die inzwischen auf europäischer Ebene zertifiziert wurde. Heute arbeitet er mit uns zusammen.»
Die ausführlichen Zahlen zu den gut 60 Gästen im Pars erfahren wir beimMittagessen in der «Casa famiglia». Fast alle sind da: Die Torresetti, Giorgio mit seiner Frau Silvia – sie haben drei Kinder in Mailand und vier Kinder in Pflege; die Berdini, Josè und Lora mit ihren zwei Kindern, Nicoletta und Stefano und den beiden Adoptivschwesterchen aus Russland. Dann Franceso und Barbara mit Anhang. Die Kinder sind aus der Schule zurück, die Eltern kommen von der Arbeit. Sie essen gemeinsam, alle an einem großen Tisch unter dem Gewölbe eines Saales im alten restaurierten Gebäude. Und auch hier ein Notenständer, eine Geige auf der Anrichte. Schon beim Rundgang durch das Haus war eines aufgefallen: Aus einem der Zimmer ertönten die Klänge einer Geige, in einem anderen stand ein Flügel, in einem dritten gleich zwei Cellokästen ... «Hier machen alle Musik, oder fast alle», erklären sie. Ausgehend von Lora und Barbara, die Klavier und Geige spielen, bis zu Silvia, Direktorin des Konservatoriums von Fermo. Die drei Mütter haben sogar eine Musikschule gegründet ... Dann Michele, das dritte von Giorgios Kindern, ist Geiger und lebt in Mailand mit den beiden Brüdern, die Cello spielen. Francesco, Gitarrist und Musiktherapeut. Und so weiter, bis zu den Kleinsten. «Musik ist wichtig: Es ist eine Leidenschaft, die uns zusammenhält, alle vier Familien, von Anfang an.» Und heute ist sie im Dorf eine Konstante, zwischen kleinen Konzerten und nachmittäglichen Proben.
Nach dem Mittagessen geht die Führung durch das Dorf weiter. Die Jungs aus der Gemeinschaft sind bei der Arbeit, beim Olivenpflücken, bei den Tieren in den Ställen. Wie Giovanni, der den Pferden zu fressen gibt. Er kommt aus Mailand. Einst hatte er einen wichtigen Job in der Modebranche. Dann kam das Kokain .... Und so landete er in Corridonia. Jetzt sucht er sich eine Wohnung draußen, doch auch er hat beschlossen, weiter in der Genossenschaft zu arbeiten, und zwar als Landwirt. Überdies koordiniert er die Arbeiten der Jungs auf den Feldern.
Mit dem Jeep von Josè erreichen wir nach wenigen Kilometern auf und ab den Bezirk Gabbi, wo die Gemeinschaft «Don Cappella» lebt. Ein Schild am Eingang. Darauf steht auf der Seite, die man beim Eintreten sieht, «Es lebe die Gemeinschaft», und dann, erst wenn man drin ist, kann man sehen: «Es lebe die Freiheit». «Für die, die hierher kommen, fängt die Freiheit gerade bei der Gemeinschaft wieder neu an. Wer will, kann jederzeit wieder weg. Verschlossene Türen gibt es hier keine. Bloß: Wo soll er hin? Wo ist denn die wirkliche Freiheit? Welche Hoffnung können sie haben, wenn sie gleich wieder weggehen?», betont Josè. «Hier kommen die Leute erst mal her. Meist geht es ihnen ganz schlecht. Wir nehmen sie auf. Die staatliche Hilfe pro Patient ist knapp, etwa 60 Euro pro Tag. Leider herrscht quer durch die politischen Lager die Meinung, dies hier sei eine „Endstation“, wo die Leute eingeschlossen werden: die Philosophie der „Schadensbegrenzung“. Es kommt nicht drauf an, ob sie sich bessern oder ob sie gar gesund werden.» Josè bleibt stehen, um mit einigen von ihnen zu sprechen. Mit Donatella zum Beispiel: «Wie geht’s?» «Na ja, ich habe Mühe.» «Woher kommst du?» – «Aus Ascoli.» «Mein Trauzeuge ist aus Ascoli!» Donatella hebt den Blick. Sie hat mal gearbeitet, hat zwei Kinder. Sie sagt, sie habe ihrer Familie Leid angetan, mit dem, was sie gemacht habe, nun müsse sie sich die Vergebung verdienen. Rossella steht neben ihr. Sie war mal Kosmetikerin, auch sie hat zwei Kinder, 18 und 11. Sie kam aus einer Rehabilitationsklinik nach Gabbi: «Dort, wo ich vorher war, lebte jeder für sich allein, den ganzen Tag, und zwischen einer Sitzung mit dem Psychologen und der nächsten wurde bloß geraucht. Und man brütete die ganze Zeit nur über seinen Problemen. Hier gibt es wenigstens die Gemeinschaft: Man setzt sich gemeinsam mit den Dingen auseinander und lebt zusammen. Alle brauchen die Gemeinschaft.» Im Esszimmer decken sie den Tisch, jemand füllt die Honiggläser auf. Nelson, 25, begabter Zeichner, kommt auf Josè zu. Irgendwann ausgeschert, Hausarrest, Drogen. Und vier Messerstiche in den Bauch vom eigenen Vater. Ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Mit Josè spricht er über Vergebung. Vor ein paar Tagen haben sie gemeinsam den Artikel von Don Giussani über das Massaker in Nassiryah gelesen. Doch es ist schwierig: «Viermal hat er auf mich eingestochen», sagt Nelson. Oder dann Emidio, Schädelbruch nach einem Sturz bei einem «zugedröhnten» Motorradrennen. Er hat viele Operationen hinter und noch vor sich. Heute hat er mit den anderen Früchte gelesen. Am Abend will er die Biographie von Fidel Castro auf seinem Nachttisch fertig lesen. Matteo kommt von der Arbeit heim, ihm war schlecht geworden und er war beim Arzt. Auch seinem Vater geht es sehr schlecht. «Betest du für ihn?» fragt Berdini. Und Matteo: «Na ja, auf meine Weise schon.» Josè meint dazu: «Nein! Wenn Jesus gekommen ist, dann muss man es auf Seine Weise tun.» Schließlich ist da noch Valerio, der am nächsten Morgen auf die Schweine und die Ziegen aufpassen muss, «und auf eine Ente mit Identitätsproblemen, die glaubt, sie sei ein Zicklein». Das hier ist alles andere als eine „Endstation“, es strotzt vor Leben und vor Hoffnung!
Am Abend geht es zurück nach San Michele, ein gemeinsames Abendessen mit den vier Familien, und ein kleines Konzert. Michele und seine Freundin nehmen die Geigen hervor. Sie werden am Klavier von Francesco begleitet und wagen eine «Performace». «Ich bin glücklich mit diesem Leben», sagt Michele, der ja hier eigentlich ungefragt hineingezogen wurde, da seine Eltern diesen Weg gewählt haben. «Papa hat uns immer die Gründe für dieses Leben erläutert. Ich habe es akzeptiert und bin dankbar dafür. Die Musik war schon immer meine Leidenschaft, aber ich habe gemerkt, dass das nicht alles ist. Diese Leute hier lehren mich zu leben: Es ist, als würden sie sagen: „Es gibt mehr im Leben, wach auf!“ Das will ich allen sagen. Und wenn ich hierher komme, dann ist es, als würde ich das Leben mit Bedeutung auffüllen.» Allen Bewohnern hilft es, «eine neue Art des Zusammenseins zu finden», sagt Josè. «Eine neue Schönheit zu entdecken. Wie die klassische Musik, die Zeichen für jenes Wahre ist, das sie für sich selbst suchen.» Dieses Wahre, wo man Wurzeln schlagen kann, um neu anzufangen. Um in die Zukunft zu schauen mit festem Boden unter den Füßen, auf der Grundlage von etwas Gutem, Solidem und Gewissem.
Am nächsten Morgen um sieben hebt der Tag neu an. Frühstück, Zigarette (eine von der Tagesration), und dann geht jeder seiner Arbeit nach. Wir müssen abreisen und uns verabschieden. Es ist, als ob wir Josè, Marco, Pino, Giovanni und die andern schon ein Leben lang kennen würden. Und irgendwie würdest du am liebsten noch länger bei ihnen bleiben. Und diese ganze Schönheit, die du angetroffen hast, noch viel länger genießen.