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Kultur / Das Darwin-Jahr
Und wenn wir die Wissenschaftsgläubigkeit überwinden würden?
Mario Gargantini

150 Jahre nach der Veröffentlichung von Die Entstehung der Arten und 200 Jahre nach der Geburt des Autors Charles Darwin ging ein Symposium der Päpstlichen Universität Gregoriana auf den Stand der Forschung und die umstrittensten Theorien ein. Dabei wandte man sich auch gegen eine falsche Wissenschaftsgläubigkeit, wie der Philosoph Rafael Martinez erläutert.

Mittlerweile sind wir ganz in das doppelte Darwin-Jahr eingetreten. Die Medien fragen sich, ob sie eher Darwins 200. Geburtstag in den Vordergrund stellen sollen, wie es das Museum für Naturgeschichte in London durch die Eröffnung der Webseite www.darwin200.org getan hat, oder die 150 Jahre seit Entstehung der Arten, was einige Verlagshäuser taten, indem sie den berühmten Text neu auflegten. Oder beides, wie es die Universität Cambridge mit dem Darwin Festival Anfang Juni tun will. Wie dem auch sei, in diesen ersten Monaten der Feierlichkeiten sind wir Zeugen eines Rituals, das seit anderthalb Jahrhunderten ohne Pause aufgeführt wird: der Verteidigung des Darwinismus von Amts wegen, betrachtet als unantastbares Bollwerk der Wissenschaft und zum Synonym der Wissenschaft schlechthin erhoben. Auf die Gefahr hin, dass jede Andeutung einer Kritik an den Thesen des schottischen Biologen als Angriff auf die Wissenschaft als solche und als Bedrohung ihres Fortschritts gesehen werden könnte.
Allerdings haben nicht nur die jüngsten Stellungnahmen Benedikt XVI. über die Wissenschaft und ihren Wert die neo-wissenschaftsgläubigen Intellektuellen längst in die Defensive gedrängt – nämlich all jene, die eigentlich gern die Kirche in die Ecke des unheilbaren Wissenschaftsfeinds drängen würden. Die Päpstliche Gregoriana-Universität veranstaltet Anfang März eine internationale Tagung über die Evolutionstheorien. Sie steht unter der Schirmherrschaft des Päpstlichen Kulturrates und lädt Wissenschaftler aus aller Welt zu einer offenen wissenschaftlichen Debatte nach Rom ein.
Warum bleibt dann das Thema der Evolution Gegenstand so heftiger Auseinandersetzungen? Warum verfällt man so leicht in die Logik ideologischer Kämpfe, anstatt sich kritisch und vernünftig mit den Fragen auseinanderzusetzen?
Wir haben diese Fragen Rafael Martinez gestellt. Der Dozent für Wissenschaftsphilosophie an der Päpstlichen Heilig-Kreuz-Universität, wird als Referent an der Tagung teilnehmen. «Wir brauchen vor allem eine Klärung der Sprechweise», meint Pater Martinez. «Wenn wir unter Darwinismus eine Sicht der biologischen Evolution verstehen, die besonders auf dem Konzept der natürlichen Auslese basiert, das Darwin vor 150 Jahren eingebracht hat, dann ist die Reaktion gegenüber gewissen Versuchen, den Darwinismus in Frage zu stellen, gerechtfertigt. Denn die heutige Biologie kann nicht ohne Evolution und ohne Darwins Theorie auskommen, auch wenn diese inzwischen schon mehrfach mit anderen Theorien verschmolzen wurde. Die natürliche Auslese selbst ist nie der einzige Faktor gewesen, auch nicht für Darwin, der ihn gleichwohl als vorrangiges Element ansah. Es stimmt, dass die kritische Dimension für die Wissenschaft wesentlich ist, aber es muss sich immer um eine Kritik handeln, die den Methoden des jeweiligen Bereichs der Wissenschaft folgt. Daher verstehe ich, dass viele kritische Ansätze als antiwissenschaftlich angesehen werden können. Ihre Frage bezieht sich aber eher auf gewisse Standpunkte materialistischer Prägung, die von vielen populärwissenschaftlichen Darstellungen der Evolution verbreitet werden. Hier sollte der Hinweis reichen, dass es sich eher um Deutungen und häufiger noch um ideologische Vorurteile handelt, die kaum vernünftige Begründungen enthalten. Ein sehr bekanntes Beispiel ist das von Richard Dawkins. Er hat die biologische Forschung seit Jahren aufgegeben, um regelrechte Atheismus-Kampagnen auf Grundlage der Evolution zu organisieren. Wenn man solche Standpunkte kritisiert, dann geht es nicht um die wissenschaftliche Erkenntnis, sondern um eine verdrehte und nicht zu rechtfertigende Anwendung derselben.»

Ein Knackpunkt der Debatte ist der Gedanke der absoluten Zufälligkeit, die Voraussetzung oder Folge der darwinistischen Theorien zu sein scheint. Aber vielleicht muss man das etwas differenzierter sehen...
Meinem Eindruck nach verneint die Evolutionsbiologie keineswegs die Finalität, also die Zielgerichtetheit, wohl aber eine gewisse starre Auffassung der Finalität. Berühmte Evolutionsforscher wie Ernst Mayr haben darauf hingewiesen, dass die Biologie ihrem Wesen nach finalistisch ist, es sich aber um eine «ihr innewohnende» Finalität handelt, die nicht von einem externen Handelnden herrührt. Nun ist die Wissenschaft beim Bemühen, die Wirkungsweise dieser Finalität in der Geschichte der Lebewesen zu verstehen, zu dem Schluss gekommen, dass zufällige Erscheinungen eine wichtige Rolle spielen. Ich denke, es ist ein Fehler, diese Rolle des Zufalls zu deuten als einen Motor, der von außen das biologische System zu seinem Ziel führt, etwa als blinden Uhrmacher wie bei Dawkins. Die Rolle des Zufalls ist vielmehr als ein Raum von Möglichkeiten zu verstehen, als das, was die ganze Dynamik der Evolution ermöglicht, die Entwicklung des Reichtums und der Vielfalt der Lebewesen. Diese Rolle anzunehmen bedeutet nicht, die Existenz von Ursachen zu verneinen, sondern anzuerkennen, dass Kausalität nicht dasselbe ist wie Determinismus. Das ist die Überwindung des mechanistischen Weltbildes des 18. und 19. Jahrhunderts, das glaubte, alles sei durch seine Anfangsbedingungen vorherbestimmt.
Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Wiederentdeckung der Zufälligkeit als Rückkehr zur Kategorie der Kontingenz, von der die klassischen Philosophen der Metaphysik sprachen: die Anerkennung der grundlegenden Rolle des Unvorhergesehenen im Kosmos.
Ein anderer umstrittener Punkt betrifft den angeblichen Gegensatz zwischen Evolution und Schöpfung: können beide Begriffe zusammen auftreten oder gar einander bestärken?
Einen Gegensatz zwischen Evolution und Schöpfung auszumachen, verrät eine irrige Vorstellung von Schöpfung und Schöpfer. Das gilt sowohl für jene, die die Schöpfung verneinen, als auch für diejenigen, die die Tatsache der biologischen Evolution nicht anerkennen. Es ist ein Irrtum, sich den Schöpfer als jemanden vorzustellen, der physisch handelt und wie ein Architekt Stücke der Welt zusammenfügt. Die jüdisch-christliche Sicht der Schöpfung betrifft nicht nur den zeitlichen Ursprung der Welt und der Arten; der Schöpfungsakt bezieht sich vielmehr auf die radikale Abhängigkeit jedes Seins vom Schöpfer. Die Tatsache des Daseins selbst, egal wie die Entwicklungsgeschichte des Seienden aussieht, verlangt nach einer Grundlage im Schöpfergott. In diesem Sinne gibt es keinen Unterschied zwischen dem ersten Augenblick des Universums oder dem Anfang der menschlichen Spezies und dem gegenwärtigen Moment, in dem auch ich von Gott «geschaffen» werde. Das ist eine viel reichere und interessantere Vorstellung vom Schöpfer. Und es versteht sich von selbst, dass das Verständnis des zeitlichen Anfangs der Arten, durch die natürlichen Mechanismen der Evolution, dieser Erfordernis nach einer radikalen Abhängigkeit des Seins keinerlei Abbruch tut.

Manche fordern ein wiederholtes und notwendiges direktes Eingreifen Gottes, um die komplexeren Erscheinungen der Natur zu erklären. Worin liegen die Grenzen dieses Ansatzes?
Ich muss sagen, dass ich diesen Ansatz, der typisch ist für das sogenannte Intelligent Design, nicht wirklich verstehe. Ein wiederholtes Eingreifen Gottes zu verlangen bedeutet zu behaupten, dass Er der Wirklichkeit unvollkommene Gesetze gegeben hätte, die es ihr nicht erlauben würden, ihr Ziel zu erreichen, und die daher schrittweise zu berichtigen wären. Das scheint mir widersinnig und lässt sich aus theologischer Sicht überhaupt nicht rechtfertigen: schon vor einem Jahrhundert hatte die päpstliche Bibelkommission erklärt, dass in der Erschaffung der Lebenden keinerlei besonderes Eingreifen Gottes notwendig sei, ausgenommen bei der direkten Erschaffung der Seele des Menschen.
Es handelt sich also um eine Sicht, die im Gegensatz steht zur christlichen Auffassung der Welt als Schöpfung des vernünftigen göttlichen Logos, dessen Vernunft sie widerspiegelt: eines Logos, der ganz klar imstande ist, den Kosmos zu seiner Vollendung zu führen.

Johannes Paul II. hat im Jahre 1996 die Evolution der Lebewesen als «mehr als eine reine Hypothese» bezeichnet und von einer Vielfalt der «Theorien der Evolution» gesprochen. Wie sind diese Aussagen zu verstehen?
Die Deutung der ersteren Aussage ist recht einhellig: Bezug nehmend auf die Enzyklika Humani Generis von Pius XII., welche den evolutiven Ursprung des menschlichen Körpers als Hypothese angenommen hatte, betrachtet Johannes Paul II. die Evolution nicht als einen möglichen Vorschlag von vielen, sondern als echte wissenschaftliche Theorie, das heißt als Werkzeug, mit dem wir die Welt verstehen – auch wenn sie, wie jede Theorie, nie endgültig und absolut sein wird.
Hinsichtlich der Vielfalt der Theorien müsste das, was wir heute «Evolution» nennen, aus erkenntnistheoretischer Sicht als Rahmentheorie eingeordnet werden: ein großes Ganzes auf theoretischer Ebene, zu dem unterschiedliche Beiträge gehören, welche sich auf unterschiedliche Aspekte der biologischen Evolution beziehen. In diesem großen Ganzen ist noch viel Raum für Diskussionen und Forschung, um die Mechanismen der Evolution zu erklären.

Inwiefern verändern die Wortmeldungen Johannes Paul II. und Benedikt XVI. die Art und Weise, wie die Kirche die Evolutionstheorien betrachtete?
Ende des 19. Jahrhunderts gab es Schwierigkeiten: viele Theologen verstanden die Evolution nicht, auch wenn das Lehramt diesbezüglich nie gehandelt oder eine Lehrentscheidung getroffen hatte. Seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts sind die theoretischen, kulturellen, philosophischen und theologischen Einwände nach und nach verschwunden, bis zur ausdrücklichen Äußerung Pius XII.
Johannes Paul II. hat sehr deutlich betont, dass die Evolution als wichtiger Teil der Wissenschaft anzusehen sei. Was Benedikt XVI. angeht, so hat er sich schon als Kardinal positiv über die Evolution geäußert und sich bemüht, sie als Beitrag zu sehen, der es ermöglicht, einige Aspekte der Schöpfungstheologie besser zu verstehen. In seinen jüngsten Beiträgen wird die Sorge deutlich, dass die Evolution nicht als Rechtfertigung einer materialistischen und verkürzenden Sicht der Welt und des Menschen gesehen werden darf. Das Phänomen «Mensch» ist sicher nicht nur Evolution, denn wir sind nicht auf die rein biologische Seite zu verkürzen: dies beweist allein schon die Tatsache, dass wir uns die Frage nach unserer Besonderheit als Menschen stellen.

Was würden Sie einem Erzieher empfehlen, der mit Jugendlichen über diese Themen zu sprechen hat?
Es ist wichtig, jegliches Vorurteil zu überwinden, jede Sorge, die Evolution würde der Lehre der Kirche Probleme bereiten, denn in Wirklichkeit tut sie das nicht. Dann gilt es, auch durch das Verständnis des Weges, den die Evolution genommen hat, das Wunderbare der göttlichen Schöpfung aufzuzeigen, dieser Sinfonie der Lebensformen, welche sich – durch die Gesetze, die Gott selber der Natur gegeben hat – auf großartige Weise entwickelt und schließlich die Welt hervorbringt, über die wir unaufhörlich staunen können.