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Leben von CL / Don Luigi Giussani
«Meine Jugend»
Alberto Savorana

Sie war unter den ersten Schülern des Berchet. Dann haben sie sich 40 Jahre nicht gesehen. Vier Jahre nach dem Tod von Don Giussani erzählt Milene Di Gioia von der außergewöhnlichen Freundschaft, die ihre Geschichte geprägt hat. «Er gab mir den Glauben wieder.»

m Jahre 1997 lernte ich Milene Di Gioia kennen. Don Giussani bat mich, zu ihr Kontakt aufnehmen. Wir sollten eine Reihe von Beiträgen, die er im Laufe der Jahre bei den Versammlungen mit den Memores Domini gemacht hatte, in einem Buch sammeln. Es ging um kurze Kommentare zu den Psalmen, zu den Gesängen und Gebeten der Kirche, die Vera Drufuca vorgeschlagen hatte. So veröffentlichte der Verlag San Paolo im Jahre 2000 zwei Bücher: Che cos’è l’uomo perché te ne curi? (Was ist der Mensch, dass du dich seiner annimmst?) und Tutta la terra desidera il tuo volto (Die ganze Erde ersehnt dein Antlitz). Für beide Texte besorgte Milene die Redaktion und verfasste ein Vorwort.
Nun, nachdem vier Jahre seit dem Tod von Don Giussani vergangen sind (das Jahrgedächtnis fällt auf den 22. Februar), hat sie zugestimmt, etwas über eine Geschichte zu erzählen, die auf der Schulbank begann. Milene kam im Schuljahr 1953/54 in die Klasse C des Berchet-Gymnasiums, wo sie Don Giussani als Lehrer hatte. Seit damals gab es eine langjährige Unterbrechung, was die Erzählerin zögern lässt: «Es widerstrebt mir, die alte und komplexe Beziehung, die ich zu Don Giussani und seinen Schriften habe, zu bezeugen. Denn damit muss ich zwangsläufig eine Bilanz von dem Ziehen, was für mein Leben am wesentlichsten war.»
Bevor wir das Gespräch mit Milene wiedergeben, erinnern wird daran, wie Don Giussani zu Beginn der 90er Jahre selbst von ihrer ersten Begegnung erzählte, bei der ein Plattenspieler und Beethoven zum Einsatz kamen: «Als ich in der ersten Gymnasialklasse unterrichtete, wollte ich die Existenz Gottes aufweisen und ging oft mit einem großen Plattenspieler unter dem Arm von daheim in das Berchet-Gymnasium (...) und spielte den Schülern Chopin, Beethoven und anderes vor. Und eines der ersten Stücke, die ich auflegte, war ein Konzert von Beethoven.» Es war das Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 61, interpretiert von David Oistrach. Diese Aufnahme erschien 40 Jahre später in der musikalischen Sammlung Spirito Gentil. «Ich ließ also dieses Konzert von Beethoven erklingen (...) An einer Stelle kommt der Refrain vor, den ich auf die Gemeinschaft bezogen hatte; es ist die Stelle, wo das ganze Orchester einsetzt und stets die gleiche Melodie spielt. Und dann hört man dreimal die Geige, welche die einzelne Person darstellt, wie sie gleichsam entflieht und auf ihre Bestimmung zugeht, bis sie – ganz ermüdet – wieder vom melodiösen Thema des ganzen Orchesters eingeholt wird (womit dieser Satz auch endet) (...) als wir also dieses Stück im Klassenzimmer jener Klasse hörten, herrschte absolute Stille. Nur ein Mädchen, sie hieß Milene Di Gioia und saß dort vorne rechts in der ersten Bank – ich erinnere mich noch, als wäre es heute –, brach plötzlich in Tränen aus und konnte ihr Weinen nicht zurückhalten. Ich wartete eine Weile, dann sagte ich: ‚Man sieht deutlich den Unterschied, der zwischen Seele und Seele, zwischen Empfindsamkeit und Empfindsamkeit, zwischen Herz und Herz besteht. Die anderen hätten gewiss nicht geweint. Daher ist für mich dieses Stück seither noch bedeutsamer geworden. Das Verlangen, das das Hauptthema hervorruft – ein Verlangen, das eine Empfindsamkeit wie jene von Milena zum Weinen gebracht hat –, steht für die Sehnsucht des Menschen nach Gott.» (L. Giussani: Kann man so leben? Augsburg 2006, S. 227)
«Ich erinnere mich an fast nichts mehr von ihr», sagte Don Giussani eines Tages, während wir durch die Straßen gehen, «nicht einmal an ihr Gesicht. Auch ihr Gesicht ist bei dem Schluchzen stehen geblieben, die Erinnerung an ihr Gesicht: lebendig, aber dort stehen geblieben. 42 Jahre lang habe ich bei jeden Ferien die Jugendlichen gebeten, sie in den Telefonbüchern aller Regionen Italiens zu suchen. 42 Jahre lang habe ich sie nicht gefunden.» (L. Giussani, L’autocoscienza del cosmo, BUR, S. 92).
Bis zu jenem Tag Ende März 1996, den wir mit Camus den «schönen Tag» nennen können. Seine Ex-Schülerin war gefunden und eingeladen worden. «Man hatte sie um 7.30 Uhr abgeholt, und als sie ins Haus eintrat und in dem Gewühl der Leute unter der Schwelle stand, hatte ich keine Mühe: Sie war es! (...) gestern Abend habe ich es den Jugendlichen erzählt: ‚Jungs,‘ sagte ich, ‚42 Jahre lang habe ich darauf gewartet, ein Mädchen wiederzusehen, das 16 Jahre alt war, als ich es zuletzt sah. 42 Jahre lang gesucht! Sagt mir bitte, ob die Jungfräulichkeit etwas ist, was die Frau vergessen lässt. Könnt Ihr euch etwas Ähnliches vorstellen? Nein, das könnt ihr nicht. In der Tat: Das, was es erlaubt hat, 42 Jahre zu warten, ist etwas Einfaches, völlig Positives, wie ein Geschenk Gottes! Außerdem ist es völlig ungeschuldet, das heißt ohne jegliches Entgelt (Ada Negri, Meine Jugend). 42 Jahre! Sagt mir bitte, ob dies kein Märchen ist!» (L’autocoscienza …, S. 93-94).
Milene hat eine sehr lebendige Erinnerung an jenen Abend im März: «Ich wusste nicht genau, wohin ich ging. Dann kam der Weg nach Gudo durch lange, verschlungene und neblige Straßen; es war ein wahres Abenteuer. Kaum war ich angekommen, bereiteten mir alle ein großes Fest. Ich fühlte mich wie der verlorene Sohn, der nach vielen Jahren nach Hause zurückkehrt.» Der rote Faden einer Geschichte, der lange Zeit einem unterirdischen Weg gefolgt war, kehrte schließlich an die Oberfläche zurück. Milene erinnert sich, dass sie «bei einem späteren Gespräch, nach unserem ersten Wiedersehen, zu Don Giussani sagte: ‚Ich möchte etwas tun.‘» Schon kurze Zeit später entstand das bereits erwähnte Buchprojekt.

Milene, im Gedächtnis vieler Mitglieder von CL ist dein Name mit der Beethoven-Episode verbundenen, von der wir sprachen. Wie hast du Don Giussani kennen gelernt und welchen Eindruck hattest du von ihm?
Es fällt mir schwer, die Begegnung mit ihm in einer Anekdote zu beschreiben. Der erste Eindruck war, dass wir uns seit ewig kennen und dass er daher von Etwas sprach, was uns verband. Später habe ich einen Satz entdeckt, den er wiederholte und der mir geheimnisvoll und zunächst etwas verdächtig vorkam: Die Entsprechung auf die Erwartungen des Herzens. Ich glaube, es war dieser Satz.

Was hat dich am meisten beeindruckt?
Auf persönlicher Ebene haben mich zwei Merkmale beeindruckt: Einerseits die Energie, die er für sein Handeln und die Welt aufbrachte, andererseits die großzügige Liebenswürdigkeit, die Zärtlichkeit ohne Sentimentalität oder Zweideutigkeit, die sein Handeln bewegten.

In den 80er Jahren wurde vom italienischen Fernsehsender Rai eine Sendung über Don Giussani ausgestrahlt. Darin behauptete einer seiner ehemaligen Schüler, heute ein bekannter Journalist und Schriftsteller, dass Don Giussani in gewisser Weise durch seine starke Persönlichkeit von der Freiheit der Schüler Besitz ergreifen wollte (...)
Was mich betrifft, so kann ich nur sagen: Sein Blick auf uns Schüler enthielt dies: Du bist das Abenteuer, du bist frei! Gemeinsam mit Don Giussani erhielten wir einen Vorgeschmack der Herausforderung, die das Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit überwindet und sich nichts anmaßt. Heute weiß ich, dass er die authentischste Form der Liebe hatte: Eine Offenheit auf das Geheimnis und auf die letztendlich gute Bestimmung des anderen Menschen.

Woran erinnerst du dich sonst noch bezüglich Don Giussani am Berchet?
Schon damals faszinierten mich die Tiefe und die Weite, der Aspekt der Weisheit seines Wissens, und das aus gutem Grund. Er sprach stets lebendig über Kultur und das war für den betroffenen Zuhörer fruchtbar. So ist für mich beispielsweise die Musik eher etwas gemeinschaftlich «Chorales» geblieben als eine individuelle Bereicherung.

Wir haben gelesen, dass ihr euch 40 Jahre aus den Augen verloren habt. Was geschah nach der kurzen Erfahrung in GS, der Schülergemeinschaft von CL?
Aufgrund familiärer und beruflicher Verpflichtungen habe ich viele Jahre fern davon verbracht. Bis ich eines Tages in einer Zeitung eine Nachricht über ein Werk von Don Giussani las. Ich hatte das klare und deutliche Gefühl: Es ist nicht vorbei, wir werden uns wiedersehen! Ich wurde sofort ruhig und froh angesichts dieser absoluten Gewissheit. Auch hatte ich im Winter ´92 einen Vortrag von ihm im Theater San Babila in Mailand gehört, es jedoch nicht geschafft, ihn zu erreichen (Don Giussani hatte auf Einladung des Kulturzentrums San Carlo einen sehr gut besuchten Vortrag über Glaube und Moralität gehalten).

Mitte der 90er Jahre habt ihr euch dann erneut getroffen. Was bewahrst du von Don Giussani?
Das Bewusstsein einer Verbindung, die in der Jugend Grund gelegt wurde und mit den Jahren der Reife und der Prüfungen vollendet wurde und die mir das Antlitz Jesu wiedergab. Es war eine Freundschaft, die mir wieder den Glauben an den «treuen Gott» schenkte. Ich hatte in keinem Augenblick vergessen, Ihm zu vertrauen. Schließlich verstand ich, dass Er jeden Umstand lenkt.