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Briefe
Briefe Januar 2009
Zusammengestellt von Paola Bergamini

Das Leben hat mich nicht betrogen
Hallo Julián,
ich schreibe Dir vom Bett aus, das ich auf der linken Seite liegend hüten muss, damit mein knarrender Lungenflügel wieder an die Rippen anwächst. In diesem Moment werden dir in Rimini meine Freunde von der Universität zuhören. Wenn ich daran denke, was ich verpasse, befällt mich eine seit Jahren nicht gefühlte Traurigkeit. Lange habe ich nicht mehr so sehnlich nach dem Sinn in den Dingen gefragt, nach dem »Warum« dessen, was mit mir passiert. Ich lese viel in diesen Tagen – meine einzige Beschäftigung – und denke viel nach. Mir ist wieder einmal klar geworden, wie wenig Zuneigung ich meiner Freundin, die ich liebe, und meiner Familie gebe. Ich höre klassische Musik (ausgerechnet ich, der ich nur mit Punk aufgewachsen bin), und lasse mich sehr von ihr bewegen, denn sie drückt genau meine momentane Sehnsucht aus. Ich schaue aus dem Fenster und denke an all die Pläne die ich hatte: Die Exerzitien in Rimini, mein Bruder in Madrid, zwei Wochen Afrika, um einem Arzt zu helfen, er ist der Vater eines Freundes, Peru, von dem Dado mir so viel erzählt, Ski fahren … untätig ausharren zu müssen, ist ohne Zweifel das größte Opfer, das man mir abverlangen kann. Und trotzdem fühle ich im Grunde meines Herzens eine große Dankbarkeit für mein Leben. Genau dies bewegt mich: In dieser Beschwernis die unentwegte Frage nach dem Sinn zu erkennen: Warum? Auch wenn meine Liebe klein sein mag, gibt es doch jemanden, der mich liebt. Ich danke der Gottesmutter, der ich diese Herzensbotschaft anvertraue. Weil mich diese CD zum Weinen bringt, (auch wenn ich nicht viel von klassischer Musik verstehe!), und weil ich mir keine schönere Familie vorstellen könnte, auch wenn es zu siebt zu Hause sehr laut zugehen kann! Und wegen so vieler anderer Dinge. Es ist unglaublich, wie in dieser Lage mein Stolz von einer so immensen Dankbarkeit bezwungen wird. Denn um alles muss ich bitten. Wenn sie mich operieren, werde ich sogar für den Gang zur Toilette um Hilfe bitten müssen. Das Leben ist wirklich großartig, und es ist wirklich schön zu entdecken, wie nach und nach, in der Mühe und im Schmerz genauso wie durch die liebsten Personen, etwas Größeres sichtbar wird hinter dem, was sich ereignet. Als mir die Ärzte am Donnerstagmorgen eröffneten, dass ich im Krankenhaus bleiben muss, sagte ich mir nach einem Moment der Niedergeschlagenheit: »Das Leben hat mich noch nie betrogen, warum sollte es ausgerechnet jetzt damit anfangen, wo es so fesselnd wird?« Denn zu leben macht mir gerade richtig Freude. Deshalb verstehe ich diese Situation als eine Herausforderung: »Wollen wir doch mal sehen, ob das, was mir zustößt, mich die Dinge weniger genießen lässt!« Interessant, wie man an einer Herausforderung wachsen kann, selbst wenn man mit einem Loch in der Lunge daniederliegt. Ich schreibe Dir, weil ich heute mit Dir dort sein möchte, um Dich zu sehen und zu erfahren, wie Du mir ein weiteres Mal hilfst, den Dingen zu begegnen. Ich schreibe Dir, weil ich erkenne, dass Du in dieser »freudvollen« Bedrängnis des Lebens mein Begleiter bist! Denn wenn man Dir und einigen anderen zusieht, versteht man, dass die Frage, die ich heute so stark empfinde und die ich nicht loslassen will, eine Antwort hat. Dies befreit mich. Jemand, dem man in allem folgen kann.
Giacomo, Novate Milanese

Einzigartig auf der Welt
In der Comunità dell’Imprevisto in Pesaro – wo drogenabhängige Minderjährige aufgenommen werden – haben einige Jugendliche darum gebeten, das Sakrament der Firmung zu empfangen. Auf diesem Weg wurden sie von Don Peppe und Nicola begleitet. Wir veröffentlichen ein Zeugnis, das einer von ihnen während des Festes vortrug.
Ich bin seit mehr als zwei Jahre in der Gemeinschaft. In diesem Zeugnis werde ich über drei Wunder sprechen, die mir unser lieber Gott geschehen ließ und durch die ich das Vertrauen in die Personen entdeckte. Das Schönste, was mir geschah, ist die Begegnung mit der Gemeinschaft, insbesondere die Begegnung mit einer Person, einer Mutter, von der ich heute fühle, dass sie ein Teil von mir sein wird, solange ich leben: Valeria. Mich hat ihre unglaubliche Fähigkeit beeindruckt, in meinem Inneren zu lesen, sie führt mich in die Wahrheit ein und beurteilt mich nicht nach dem, wie ich vorher war, sondern hat den Wunsch mich besser zu sehen. Seit meinem 12. Lebensjahr war ich verloren, abgestellt und sah keinen Sinn im Leben. Heute kann ich sagen, dass ich dafür kämpfe, Ziele zu erreichen, Beziehungen zu pflegen, jeden Tag glücklich zu sein. Um das jeden Tag zu tun, muss man erkennen, dass man alleine nirgends hinkommt. Ich wache mit dem Willen auf, 100 Prozent lebendig zu sein. Ich fühle mich vor allem frei, dem zu gehorchen, was jeden Tag von mir verlangt wird. Und ich bin wirklich froh, Gott in mir wahrzunehmen, auch wenn ich allein bin. Das ist das zweite Wunder. Und nun komme ich zum dritten: Den Entschluss zur Firmung, den ich mit den Freunden der Gemeinschaft getroffen habe. Für mich war es und ist es eine Erfahrung, die mir vermittelt, was Leben heißt. Als Don Peppe und Nicola über das Evangelium sprachen empfand ich eine tiefe Übereinstimmung. Heute sehe ich, dass es Gott gibt, die Leute, die mich gern haben, sind da, und ich liebe sie und werde sie niemals mehr verleugnen. Ich – einzigartig auf der Welt.
Mauro, Pesaro

Was für ein großer Unterschied, einen Tag voll Dankbarkeit zu beenden für das, was einem gelungen ist, oder verärgert über das zu sein, was man nicht geschafft hat. Um den Tag mit einem dankbaren Herzen zu beenden, muss ich lernen, den Tag dem Herrn hinzugeben, sobald ich am Morgen aufstehe, wenn ich aus dem Haus gehe, den Motor des Autos anlasse, die Tür zu meinem Büro öffne oder wenn ich die erste Versammlung des Tages beginne. Deshalb ist es wichtig, die Wirklichkeit so zu akzeptieren, wie sie ist, sie nicht zu erfinden, sich die Dinge nicht vorzustellen, diese nicht in unsere Maßstäbe zu »zwängen«. Und damit diese Haltung natürlich ist und nicht erzwungen, wird, muss man den Schmerz überwinden, die Traurigkeit, den Anspruch, das Missverhältnis, die Unzufriedenheit mit der Wirklichkeit. Wenn man seinem Herzen treu ist, dann versteht man, dass nicht diese Empfindungen das Herz bestimmen, sondern die Beziehung zum Geheimnis. Nur der Herr bestimmt mein Leben.
Miguel Ángel, Madrid

Lieber Don Carrrón,
ich bin mit Sara verheiratet und habe zwei Kinder. Gegen Ende des Sommers kündigte das Hotel, für das ich arbeite, Umstrukturierungsmaßnahmen an. Sie wollten vier Monaten schließen. Ich verstand schon bald, dass dabei auch mein Arbeitsplatz gefährdet war. Für mich brach eine Welt zusammen! Ich war wütend und bestürzt. Ich wurde nervös und unfähig zu arbeiten. Damit drängten sich mir grundlegende Fragen auf, die ich auch meinen Freunden vortrug. Ich fragte mich, ob die Zufriedenheit der Test für die Freiheit ist und warum ich mich in dieser Situation fühlte, als würde ich ersticken? Was ist der Bestand meines Lebens? Warum lähmt mich die Lage so? Ich versuchte mich zu konzentrieren und sagte mir: »Im Grunde fehlt dir nichts, Gabriele, du kannst immer eine andere Arbeit finden«. Aber das reichte nicht. Ich dachte, alle Antworten auf meine Fragen zu haben – wir haben sie im Seminar der Gemeinschaft stehen. Aber neben jeder Frage konnte ich eine eigene Frage anschließen. Aber ich hatte noch nicht die konkrete Erfahrung des Geheimnisses gemacht. So begann ich zu beten. Es gab eine Zeit, in der ich das Veni Sancte Spiritus 30 bis 40 mal am Tag gesagt habe. Ich stand früh auf und las die Exerzitien oder das Seminar der Gemeinschaft. Ich trug die Sache den Menschen vor, die mir am nächsten standen. Maurizio sagte mir eines Tages: »Mach dir keine Sorgen, du bist nicht allein. Wenn du es nötig hast, werden wir dich auch finanziell unterstützen. Wir werden für dich beten«. Einmal habe ich meiner Frau folgende SMS geschickt: »Ich kann nicht mehr«. Sie antwortete darauf: »Wenn du nicht mehr kannst, halt kurz inne und bitte Maria, dich wie eine fürsorgliche Mutter zu unterstützen«. Viele riefen mich nun häufiger an. Und bei jedem Treffen fragten sie mich, wie es läuft. Je mehr mich diese Fürsorge gegenüber meiner Person berührte, desto mehr wollte ich sie mit allen teilen. Und je mehr ich mit den anderen teilte, desto mehr half mir dies, meine Lage zu beurteilen. Und indem ich diesen Urteilen folgte, fühlte ich mich frei. Ich dachte mir: Das ist Christus, er möchte mir zeigen, dass die Arbeit nicht das ist, was ich im Kopf habe; er möchte, dass ich ihn in den Umständen und Personen, die mich so zärtlich umarmten, anerkenne. Schließlich verließ ich den Betrieb. Ich begann, eine andere Arbeit zu suchen. Es kamen Anfragen, nach Dubai, Moskau, oder Ägypten zu gehen. Ich sprach darüber zu Hause. Meine Frau sagte mir: »Wir haben zwei Kinder, und es ist der dritte Umzug, den wir in vier Jahren machen. Giacomo geht in die Schule, ich glaube nicht, dass es angebracht ist umzuziehen ...« Ich sprach in der Fraternität darüber und man sagte mir: »Gabriele, deine Berufung ist die Familie und diese Entscheidungen trifft man gemeinsam«. Ich dachte mir: »Das ist das Kriterium eines Anderen, hier muss man gehorchen«. Dieses Mal verlor ich nicht den Mut und konzentrierte mich auf die Arbeitssuche hier in Rom. Dabei berücksichtigte ich die Familie und die Tatsache, dass wir hier eine Gemeinschaft haben, die uns im Glauben wachsen lässt. Wir haben auch beschlossen einen Teil von dem, was wir bekommen haben, der Fraternität zu geben, gerade weil wir ihren Wert für unser Leben anerkannt haben.
Gabriele, Roma

Andrejs Hoffnung
Don Giampiero Caruso von der Priesterbruderschaft des Hl. Karl Borromäus lebt in Novosibirsk in Sibirien. Er besucht regelmäßig drei Häftlinge, einen in Tagucin, 90 Kilometer von der Hauptstadt entfernt.
Im Aufenthaltsraum des Gefängnisses erwartet mich jeden Monat der treue Sergej, der mir nach unserem ersten Treffen beim Abschied ins Ohr flüsterte: »Pater, ich warte auf dich, komm bald wieder«. Mit ihm ist immer Andrej zusammen. Dieser ist sehr ruhig und aufmerksam. Ihm gefällt es, Sergej und mir zuzuhören, wenn wir diskutieren, manchmal sogar sehr leidenschaftlich. Er ist 35 Jahre alt, hat ein Gesicht wie ein Kind und tiefliegende melancholische Augen, die dir das Herz zerreißen, wenn sie deinen Blick treffen. »Wie ist es möglich hier drinnen nicht traurig und melancholisch zu sein?«, sagte er vor einiger Zeit zu mir. »Ich habe nicht einmal den Glauben, der mir hilft«: »Schau mal Andrej – sagte ich zu ihm –. Den Wunsch glücklich zu sein, den du in dir trägst, ist der gleiche, den ich habe, der ich in der Freiheit lebe. Die Frage ist, ob es jemanden gibt, der in der Lage ist, auf deinen wie auf meinen Wunsch zu antworten«. Und er Sagte: »Aber du hast diesen Jemand gefunden?« »Was denkst du?«, fragte ich ihm. »Wenn ich dein Lächeln sehe, dann würde ich sagen ja«. »Genauso ist es«, sagte ich ihm, »ansonsten könnte ich dir und den anderen nicht gegenüberstehen«. »Gibt es etwas, das ich für dich tun kann?«, fragte ich ein paar Minuten bevor mir das Zeichen gegeben wurde, dass es schon Zeit war zu gehen. »Mach dir keine Sorgen, Pater, ich brauche gar nichts«. Am gleichen Tag, während ich im Zug auf der Rückfahrt von Tagucin nach Novosibirsk saß, erhielt ich einen Anruf von Andrej. Er sagte mir, dass ihn meine Frage verlegen gemacht hatte und er nicht den Mut hatte, mir vor den anderen zu antworten. Deshalb schrieb er mir einen Brief. Hier ist er.
Giampiero

Hallo Pater Giampiero.
Alle, die von euch hierher kamen, um das Wort Gottes zu predigen, haben viel von sich erzählt, von ihren guten Taten, sie haben gesungen, aber keine von ihnen hatte uns jemals gefragt, ob wir etwas bräuchten. Deine Frage aber, so einfach und an mich gerichtet, hat mich erstaunt! Deinen Worten gegenüber wusste ich nicht einmal mehr, wie ich mich verhalten sollte. Der Grund warum ich dir schreibe ist, weil ich dir für deine Aufmerksamkeit und dein Interesse mir gegenüber danken möchte. In diesen Zeiten ist es nicht leicht, jemanden mit einem so ehrlichen Interesse zu treffen, wie das, das du mir gegenüber zeigst; und das auch noch von einem Fremden. Ich danke Gott, dass wir zusammen in dieser Welt leben. Und ich denke, dass Er damit einverstanden ist, dass wir noch 50 Jahre leben können! Gut, mein Lieber, ich grüße dich! Ich drücke dir fest dir Hand.
Mit Achtung,
Andrej