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Das große Interview / Rodney Stark
Glaube und Vernunft jenseits der schwarzen Legende
Letizia Bardazzi

Der Kampf zwischen Religion und Fortschritt? „Reine Propaganda“. Die Kultur eingeengt durch die Kirche? „Nein, es war der Katholizismus, der das Neue förderte“. Der Grund hierfür ist nach Überzeugung von Rodney Stark einfach: „Das was christlich ist, muss zwangsläufig vernünftig sein“.

Als der US-amerikanische Religionssoziologe Rodney Stark im Jahr 2005 sein Buch The Victory of Reason (Der Sieg der Vernunft) veröffentlichte, war die Reaktion gespalten zwischen Entrüstung und Enthusiasmus. Auf Kritiker stieß das Werk vor allem bei denen, die in der Geschichte des Westens einen Befreiungskampf der weltlich »aufgeklärten« Kultur vom Joch des »rückschrittlichen« Katholizismus sehen. Also jene, die von einer fortschreitenden Säkularisierung ausgehen.
Mit streng wissenschaftlichen Argumenten widerspricht Stark, der Lehrstuhlinhaber an der Baylor Universität in Waco (Texas) ist, dieser Vorstellung. So zeigt er in seinem Werk, wie das Mittelalter die Grundlagen für alle späteren Neuerungen legte. Der Katholizismus erweist sich dabei als Förderer wissenschaftlicher Ideen und wirtschaftlichen Fortschritts.
Die italienische Forscherin am National Institute of Health, Maria Teresa Landi, lud gemeinsam mit einigen Freunden Rodney zur Vorstellung von Giussanis Werk Kann man so leben? ein. Stark nahm die Einladung gerne an. Im Folgenden geben wir das anschließende Gespräch über seine Forschung und seine persönliche Überzeugung wieder.

Ihre historisch-soziologische Untersuchung zeigt die Kirche als Protagonistin der Geschichte und des menschlichen Fortschritts. Wie kam es dazu? Welcher Aspekt der christlichen Weltsicht hat dies am meisten begünstigt?
Am Anfang gab es nur ein paar Hundert da und dort verstreut lebende Christen. Aber nach kaum drei Jahrhunderten, waren es einige Millionen, die begannen, sich mit dem Römischen Reich zu identifizieren. Wer sonst hätte Protagonist der Geschichte sein können, wenn nicht diese enorme kulturelle Kraft? Mit dem Verfall des Reiches, wurde die Kirche letztlich die einzige einigende Kraft in Europa. Man kann sagen, dass die wirklichen Vermittler der westlichen Zivilisation und Kultur die Mönche in den Klöstern waren. Sie beschränkten sich nicht darauf, die klassische Kultur lebendig zu erhalten, sondern gaben jeder Art von Kultur, Technologie und Innovation neue Impulse. Über all das hat aus dem einen oder anderen Grund die Aufklärung einen Schleier des Schweigens gebreitet. Demnach überdauerten Kultur und Technologie dem Fall Roms über Jahrhunderte bis zur plötzlichen Ankunft der Aufklärung. Die Frage ist aber: Wie überlebten sie bis dahin? Tatsächlich geschah dies dank der Klöster. Die Kirche begünstigte eine Kultur, die dem Wandel gegenüber offen war. Unter dem Gesichtspunkt des kulturellen Wandels hat zum Beispiel das Christentum als erste Zivilisation die Sklaverei abgeschafft. Sie verschwand zwischen dem Ende des 9. und dem Anfang des 10. Jahrhunderts. In der Tat waren über Jahrhunderte die Kirche und die westliche Zivilisation nicht zu unterscheiden. Sie waren ein und dasselbe.

Was hat aus christlicher Sicht diese Rolle begünstigt?
Nun, ich glaube, es war das grundlegende Vertrauen des Christentums in die Vernunft. Nehmen wir zum Beispiel die verschiedenen heidnischen Kulte. Sie gründeten nicht auf der Vernunft, sondern auf Fantasien. Sie beruhten auf Opfern. Die Götter waren keine bewundernswerten Wesen, sie kümmerten sich nicht um die Menschen. Es genügte zu wissen, was man tun musste, um sie zu »bestechen«, ohne dass irgendeine Theologie damit verbunden gewesen wäre. Nur die Juden hatten eine Theologie. Das Christentum entstand in einem jüdischen Umfeld, und die Christen wurden vom ersten Tag an in eine Auseinandersetzung mit den Juden darüber verwickelt, ob das Christentum die Prophezeiungen erfüllte oder nicht. Eine solche Auseinandersetzung kann nur von einem intellektuellen Standpunkt aus geführt werden. Und von Anfang an betonte die Kirche, wie alles wirklich Christliche zwangsläufig vernünftig sein müsse, weil Gott uns die Fähigkeit zum Denken gegeben habe und so weiter. Das sind außerordentlich wichtige Dinge. Wenn man Vernunft und Überlegung wirklich als grundlegend ansieht, dann ändert sich alles.

In welcher Beziehung standen für die ersten Christen Vernunft und Glaube?
Von Anfang an konnte sich die Rechtfertigung des Glaubens nicht allein auf den Glauben gründen. Man konnte nicht umhergehen und den Leuten sagen: »Glaubt an Jesus, glaubt an Jesus«. Man musste vielmehr sagen: »Glaubt an Jesus aus diesem oder jenem Grund«. Erst jetzt beginnt man zu erkennen, dass das frühe Christentum nicht eine Religion der Sklaven, der Armen und Elenden war, sondern seine Anhänger auch und vor allem in den gehobenen Schichten, unter den Intellektuellen sammelte. Das ist vielsagend. Sehen Sie, oft begehen wir einen schrecklichen Irrtum was Jesus betrifft ….

Welchen?
Wir erschrecken vor seinem Menschsein. Es gibt eine ganze Reihe von Häresien, bei denen man nicht tatsächlich an den wirklichen Jesus glaubt, an die Tatsache, dass er die eigenen leiblichen Spuren hinterlassen hat. Wenn wir aber wirklich sein volles Menschsein annehmen, wie es uns die Heilige Schrift lehrt, dann müssen wir uns bewusst machen, dass er lernen musste zu laufen, zu lesen – und wer weiß, wann er zum ersten Mal entdeckte, wer er in Wirklichkeit war und welches seine Sendung war. Sehr wahrscheinlich geschah das bei seiner Taufe. Ich weiß nicht. Aber klar ist, dass es töricht wäre zu glauben, er habe nichts lernen müssen.

Das erinnert an Don Giussanis Beharren auf dem Menschsein Jesu und auf der Beziehung zwischen dem, was vernünftig ist, und dem eigenen Herzen.
Es ist das Menschsein. Unter den guten Christen gibt es eine Neigung, quasi heimlich zu denken: »Nun ja, Er kann alles tun und kann alle Sprachen sprechen, warum machen wir uns Gedanken darüber, ob er hebräisch oder aramäisch predigte? Er hätte auch rumänisch sprechen können ...». Das ist eben falsch. Wissen Sie, dass der Satz, den Jesus am Kreuz hängend sagt: »Vater, warum hast Du mich verlassen?« viele intelligente Christen erschüttert. Dabei ist er voll und ganz menschlich. Viele Menschen stürzt diese Schriftstelle in eine Krise. Sie scheint zu menschlich. Ein für Christus unangemessenes Verhalten. Er weiß, dass sein Schicksal ist, am Kreuz zu sterben, wo liegt also das Problem? Das Problem ist, dass die Nägel in seine Hände geschlagen sind – dass er ein Mensch ist. Aber weil aus dem einen oder anderen Grund die Kirchen sein Menschsein nicht betont haben, fühlen sich viele Christen damit unbehaglich.

Die Betonung des Menschseins Christi steht im Zusammenhang mit der Betonung der Vernünftigkeit der Religion. Wenn der Mittler unseres Heils wirklich menschlich ist, dann ist er notwendigerweise vernünftig. Wie bewerten Sie, dass die Welt den Konflikt zwischen Religion und Fortschritt, zwischen Religion und Vernunft stärker wahrnimmt als deren Vereinbarkeit?
Dabei handelt es sich zum großen Teil um Propaganda. Man muss daran erinnern, dass der Marxismus im 20. Jahrhundert ein bedeutender Faktor war und Milliarden von Dollars ausgegeben wurden, um den Atheismus zu fördern.

Weshalb?
Die Marxisten glaubten, das Christentum unterdrücke die Menschen und anderes dergleichen. Das war eine große Dummheit. Ferner sahen sie im Christentum einen Feind, eine Konkurrenz. Sie wollten, dass die Herzen und Seelen dem Staat gehören. Das ist ihnen aber nie gelungen.

Don Giussani spricht vom »religiösen Sinn« als einem strukturellen Bedürfnis nach Wahrheit – einer dem Herzen des Menschen eigenen Struktur – und vom Glauben als der Erfahrung der Begegnung mit Christus und mit denen, die ihm folgen und dabei das entdecken, was dem Bedürfnis aller Herzen nach Wahrheit entspricht...
Ihrem Wesen nach sind Glaube und Vernunft keine Synonyme. Die Vernunft kann dich zu einem gewissen Punkt bringen, aber dann bedarf es eines Glaubensaktes, weil es keinen anderen Weg gibt zu zeigen, dass die Auferstehung wirklich geschehen ist.

Was ist also Ihre Vorstellung von der Beziehung zwischen Glaube und Vernunft?
Nun ja, ich denke, man kommt an einen Punkt, an dem man sich entweder auf den Glauben einlässt oder eben nicht.

Auf Grund welcher Kriterien?
Da bin ich nicht sicher. Die Vernunft bringt dich bis zu dem Punkt, an dem du die Wahlmöglichkeit siehst. Für viele Menschen hängt diese Wahl von der Art und Weise ab, wie sie aufgewachsen sind. Viele von ihnen habe ich sagen hören, dass ihnen diese Wahl schließlich auch die vernünftigste schien. Ich war 50 Jahre lang Agnostiker. Für mich ist ein intelligenter Plan einfach nicht zu leugnen. Er ist bei weitem die effizienteste und klarste der möglichen Erklärungen. Und wenn man mit der Vernunft zu dieser Einsicht gekommen ist, öffnet sich das Tor des Glaubens weit. Es sagt uns: siehst du, du bist angekommen. Vor dir steht ein anderer Teil der Wirklichkeit, der auf andere Weise erkannt werden muss.

Don Giussani spricht vom Glauben als einer Frucht der Gnade, die man auf dem Weg der Vernunft erreicht. Zuerst braucht man die Vernunft.
Alles ist vernünftig. Über Einzelheiten der Geschichte Christi kann man zwar nachdenken, aber man kann sie nicht auf Grund von Überlegungen als wahr akzeptieren. Ich glaube, es gibt viele Zeugnisse von Menschen, die Heilserfahrungen gemacht haben. Bei mir war das nicht der Fall, aber doch bei vielen Menschen. Diese Erfahrungen kommen einer Art Verlängerung der Vernunft sehr nahe. Was bei der Religion wirklich zählt, ist die Erfahrung. Das wissen wir aus der Literatur und von vielen berühmten Personen. Jedenfalls stellt die Erfahrung auch einen bedeutenden Teil des täglichen Lebens dar.

Was halten Sie von der Geschichtsschreibung, die dazu neigt, die Rolle der Kirche zu übergehen oder allein negativ zu bewerten?
Geschichte, wie sie in Amerika unterrichtet wird, ist direkt der englischen Geschichte entliehen, der protestantischen Geschichte.
Ein Beispiel: Ich schreibe gerade ein ganzes Kapitel über die Inquisition. Die kirchlichen Autoritäten in Spanien haben einer Gruppe von Historikern freien Zugang zu allen Archiven der spanischen Inquisition gewährt: 41.000 Fälle, und davon füllen viele je zwei- bis dreihundert Seiten
Nach der Dokumentation dieser Wissenschaftler handelte es sich in den meisten Fällen um eine auf Mäßigung bedachte Institution, auf geistige Gesundheit, auf Anstand und darauf, dass ihre Beamten keine Hexen verbrannten. Es war die größte Organisation gegen Hexenprozesse in ganz Europa. Wenige Personen starben wegen Hexerei und wissen sie wer das war? Die Inquisition ließ einige Individuen aufhängen, weil sie Hexen verbrannt hatten. Man schickte Emissäre dahin, wo Hexen verbrannt wurden. Diese kamen nach 18 Monaten zurück und sagten, es sei ihnen nicht gelungen, in dem ganzen Gebiet auch nur eine Hexe zu finden. Sie sagten nicht, es gäbe keine, sondern dass man keine finden könne. Einige behaupteten, welche gefunden zu haben, und wurden aufgehängt. Andere wurden zu 20 Jahren Kerker verurteilt. Tatsächlich wurden einige Bücher verbrannt. Aber es waren keine wissenschaftlichen Texte; wohl einige Texte mit lutherischer Theologie. Die meisten verbrannten Bücher waren pornographischen Inhalts. Was man nicht verstehen will, ist, dass bald, nachdem man das Imprimatur für den Druck der Texte religiösen Inhalts erhalten hatte, die Drucker entdeckten, dass sich Bücher pornographischen Inhalts gut verkauften und sie deshalb mit deren Druck begannen. Und die Inquisition machte geltend: »Diese Bücher sind unanständig, verbrennen wir sie!«
Es gab einen starken Anti-Katholizismus, der sich in die generelle Rivalität zwischen England und Spanien einfügte. So fing man an, schreckliche Geschichten über die katholische Kirche zu erzählen und all die Märchen, die die englischen Historiker – und in ihrem Gefolge die amerikanischen – unkritisch wiedergegeben haben. Die meisten waren erlogen. Sie sind schlicht und einfach nie geschehen. Die ganze Theorie, wonach sich die Kirche tapfer der Wissenschaft widersetzte und sie unterdrückte, ist im Kern unwahr. Die Kirche war ziemlich tolerant und ließ in den meisten Fällen die Dinge laufen. Die ganze Angelegenheit von Galileo ist eine ganz und gar missverstandene Geschichte.

Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Woran glauben Sie persönlich?
Es gibt vieles, worin ich mir nicht sicher bin. Kulturell gesehen bin ich immer ein überzeugter Christ gewesen, das heißt ich habe nie bezweifelt, dass das Christentum ein wesentlicher und herausragender Teil dessen ist, was ich Christenheit oder abendländische Kultur nenne. Jeder, der das anders sieht, ist schlicht töricht. Jahrhunderte lang ist die Kirche der einzige intellektuelle Hort gewesen, den wir hatten. Alle Universitäten waren katholisch. In ihnen habe ich einige tief gelehrte Menschen getroffen. Als ich beschloss, ein Gläubiger zu sein, ging das von Gott aus. Und ich meine, ich kann mich legitim einen Christen nennen. Auch wenn die Einzelheiten dessen, was ich effektiv glaube, oft verworren sind – einfach weil ich nicht viel weiß –, so sind mir doch die wesentlichen Linien klar.