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Thema / Rione „Sanità“
Die Sonne in den Gassen
Davide Perillo

In Neapel ist die Krise ein Dauerzustand. Dennoch ist auch hier eine Veränderung möglich. So wird eine Bar zum „Vorposten der Mission“. Die Geschichte von Männern, denen der menschliche Aufbau des Wohnviertels wichtiger ist als eine bürgerliche Karriere und Frauen, die in einem „Gestus der Nächstenliebe“ die Bedeutung Wirklichkeit entdecken.

Wenn du in die kleine Gasse mit den Arkaden einbiegst, blitzt oben zwischen der aufgehängten Wäsche das strahlende Blau des Himmels hervor. Dann musst du noch einmal rechts abbiegen und aufpassen, dass dich nicht das nächste Moped erwischt. Du gehst noch einige Meter weiter hoch und kommst zu einem Eisentor, das in eine dicke Mauer eingelassen ist. Von draußen macht es nicht viel her. Aber da hinter schlägt das Herz Neapels, in dieser Straße, der Vico Castrucci 4, in einem fünfstöckigen Gebäude, das sich unerwartet um ein Atrium mit Palmen und Zitronenbäumen öffnet. Es ist das ehemalige Studienhaus der Vinzentiner, die dann in die Mission gingen. Jetzt leben dort nur noch wenige Seminaristen. Aber die Räume und Korridore sind voller Leben. Es gibt dort ein Studentenwohnheim, Gästezimmer für Touristen, Räume für nachmittägliche Kinderbetreuung und das Zentrum der Solidarität, das vor nicht allzu langer Zeit eröffnet wurde. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen in der großen Wohnung mit Küche, Terrasse und ein paar Zimmern mit Computern. Hier hat CL ihren Sitz. Zudem gibt es das Solidaritätszentrum, das nach dem Viertel benannt ist: Rione Sanità. In diesem Stadtteil leben 110.000 Menschen. Er zählt zwei Pfarreien. Charakteristisch sind die vielen Sträßchen und Gassen, die ebenso verwirrend sind wie die Geschichte.
Überall spricht man von Krise, von fehlenden Geldern und einem Mangel an Gewissheiten. Immer von neuem wird alles in Frage gestellt, und das beeinflusst auch die Weise, wie wir uns selbst verstehen. Hier scheint man die Krise mit Händen greifen zu können. Die häufigsten Worte, die man hier hört, sind »Arbeitslosigkeit« und »vorläufig«; und sogar das Wort »Einsamkeit«. An einem Ort, wo so viele Menschen leben, klingt dies zunächst völlig fremd. Doch gehört es ebenso zu Wirklichkeit wie die zerbrochenen Familien und zerrissenen Beziehungen. Schließlich kommt zum Postkartenimage Neapels inzwischen noch der schlechte Ruf, der der Stadt nicht zuletzt von den Medien angeheftet wird, unter den Stichworten Camorra, Drogenhandel und Gerichtsverfahren. Nimmt man all dies zusammen, dann müsste einem hier eigentlich der Atem ausgehen. Man müsste von der Krise überwältigt sein.
Das ist aber nicht der Fall. Hier gibt es nicht nur Leute, die normal leben, der Ort, wird auch immer lebendiger. In düsteren Zeiten wie den unseren, so Tonino Romano, der Verantwortliche der Bewegung von ganz Kampanien, »erblüht hier alles neu«. Er erzählt uns Namen, Geschichten und »Fakten, von denen du dich selber überzeugen kannst, wenn du dich hier umschaust«. Tatsächlich zeigt sich hier eine Menschlichkeit, die sich – Krise hin oder her – überall durchsetzen kann. Man muss aber verstehen, wie dies möglich ist beziehungsweise was das Leben von Tonino, Felice, Mario und den anderen Universitätsabgängern verändert hat, die sich vor 20 Jahren dafür entschieden, ihr Leben an diesen Ort zu binden, statt Karriere zu machen. Man muss verstehen, was viele andere, die dort geboren und aufgewachsen sind, überzeugt hat, nicht wegzugehen, weil sich in den Gässchen etwas ereignet hat, das alles verändert. Dort hat eine Sonne hineingeschienen, »ca a pittato tutt’e mure«, die den Mauern frische Farben gegeben hat, wie Alfredo Minucci – der Sänger des Viertels – in einem Lied singt. Es spricht von seinem Zuhause, aber genauso vom Leben vieler anderer.
Da ist zum Beispiel Nando, dem die Bar gegenüber in der Via dei Vergini gehört. Für Tonino ist seine Bar inzwischen »ein missionarischer Vorposten«: Er ist dort, »um allen von dem zu erzählen, dem er begegnet ist«. Diesen Vorposten künden Tische unter freiem Himmel neben Marktständen an, ein Schaufenster, mit seinem Aufdruck »Antica Gelateria dei Vergini, seit 1928«. Es ist genauso ein Stück Geschichte, wie das Einschussloch, das bis vor kurzem auf den Rollläden zu sehen war und daran erinnerte, dass Nando Recht hat, wenn er in wenigen Worten auf den Punkt bringt, was dieses Viertel ist: »Eine Begegnung zwischen Hölle und Paradies«. Es mag komisch scheinen, aber einen Anflug vom Paradies kann man dort wahrnehmen: in den frohen Gesichtern an der Theke, wo Pasquale Kaffe serviert. Allein seine Geschichte würde schon deutlich machen, dass hier etwas Eigenartiges geschieht. Vor einigen Jahren noch war er Fliesenleger. Seine Arbeit lief nicht optimal, die Familie geriet in einen finanziellen Engpass. Andere unglückliche Umstände zwangen ihn schließlich in die Knie. Eine Krise ist nichts dagegen. Dann kam es zur Begegnung. Der Satz von Tonino, der sich bei ihm im Kopf festsetzte lautet: »Nun te preoccupa’, Pasqua’, mach dir keine Sorgen, Pasquale, irgendetwas wird geschehen«. »Ich habe mich Tage lang gefragt: ma c’adda succedere? –Was soll schon geschehen?« Aber es war bereits passiert. Es war der Anfang einer Freundschaft, einer sehr konkreten Freundschaft, durch die er dann auch zu seiner neuen Arbeitsstelle kam, ausgerechnet in Nandos Bar. Dort hatte in der Zwischenzeit eine andere Geschichte begonnen, die Nando im hinteren Bereich der Bar erzählt, wo Souvenirs des lokalen Fußballvereins FC Neapel stehen. »Ich kannte sie schon vom Sehen: Tonino, der hier weiter oben wohnt. Wir haben uns immer gegrüßt, aber viel mehr auch nicht. Dann kommt eines Tages seine Frau zu uns rein und gibt mir eine Einladung zu einem Treffen anlässlich der Ausstellung über die Entdeckerreisen Portugals. Ich sagte zu meiner Frau: ich glaube, die sind nicht verkehrt. Jamm’a vedé – gehen wir doch mal hin und schauen es uns an«.
Sie gingen tatsächlich hin. Der, den sie oben auf der Bühne neben Tonino sahen und hörten, war Don Julián Carrón, der Verantwortliche von CL. Dieser Abend vor zwei Jahren hat im Viertel eine Wende bewirkt, so sagen es alle im Stadtteil. Nando ist einer von denen, die das am meisten berührt hat. Er erzählt es, wo er kann. Er bringt auch Alfredo mit, der schon seit Ewigkeiten sein Freund ist. Alfredo ist ein Liedermacher und seine Sehnsucht nach Schönheit findet sich in allen seinen Liedern. Es ist Freundschaft auf den ersten Blick, die überhaupt nichts Sentimentales hat. Als Alfredo zum ersten Mal vor diesen Leuten spielt, ist er betroffen: »Sie haben meinen Liedern wirklich zugehört, auch auf die Worte geachtet. Das war mir vorher nie passiert.« Da ist noch etwas anderes, das Nando beeindruckt, als sich die Freundschaft mit „denen von den Vinzentinern“ vertieft. «Das sind alles Studierte, ausgebildete Fachkräfte … zu verstehen, warum sie sich entschieden haben, hier zu leben und nicht in der besseren Gegend von Neapel, war für uns so, als hätte jemand einen kräftigen Motor angeworfen. Wir entdeckten auch für uns eine Perspektive im Leben. Die Probleme lösen sich deswegen nicht in Luft auf, aber ich geh sie anders an«. Anders – wie der Beginn des Tages, der für Nando fast ein Ritus geworden ist. Er zieht um sechs Uhr die Rollläden hoch und vor ihm taucht das Gesicht eines Jungen aus der Gegend auf. Es ist immer derselbe. Einer von vielen, mit Problemen, wie sie viele hier haben. »Früher hatte ich keine Problem damit zu ihm zu sagen: mach, dass du weg kommst, ich muss arbeiten. Jetzt kann ich das nicht mehr. Ich sage zu ihm: Komm rein, lass uns einen Kaffee trinken.«
Vor der Bar beginnen wir unseren Rundgang durch Gassen voller Geschichte. Die Namen weisen hier auf ein ununterbrochenes Wirken der Werke der Nächstenliebe hin (Santa Maria Succurre Miseris, Muttergottes „Hilf den Armen“; Monte dei Poveri Vergognosi, Berg der Armen, die voller Scham sind; ’a Misericordiella, Die Sich-Erbarmende). Auch die Steine sprechen von Volk und Adel. »Das Gebäude da mit den Treppenstufen, die sich überkreuzen, das ist der Sanfelice-Palast: aus aller Welt kommen die Leute hierher, um ihn zu besichtigen«, erzählt Massimo Rippa, ein Architekt, der gerade einen Führer für dieses Viertel herausgegeben hat (siehe Box). »Dahinter steht das Haus, in dem Totò geboren ist. Oberhalb davon steht die Brücke, die die Franzosen gebaut haben. Sie schnitt unser Viertel von der Passage der Königlichen Familie ab und leitete damit den Verfall des Viertels ein.« Weiter vorne hatte Pater Alex Zanotelli seine Wohnung, der frühere Direktor der Missionszeitschrift Nigrizia. Hier war die Zentrale seines Kampfes gegen die Armut, die zuvor sein Leben in Afrika bestimmt hatte. Die Basilika ist der Gottesmutter geweiht. Wenn du in die Sakristei gehst, kannst du in der kleinen Museumsvitrine neben den Reliquiaren, den sakralen Gegenständen und der Büste des heiligen Gennaro auch einen Ball des FC Neapel bewundern. Auch dies gehört zum Volk. Der Palast, der mehr oder weniger gegenüber dem der Vinzentiner liegt, hat ebenfalls eine reiche Geschichte. Es ist das Haus des heiligen Alfons Maria von Liguori, dem Heiligen aus dem 18. Jahrhundert, der das Weihnachtslied Tu scendi dalle stelle geschrieben hat. Die Erbin des Palastes, Donna Paola von Liguori, lebt noch immer dort. Sie ist vor nicht allzu langer Zeit zurückgekehrt. Nachdem sie ihr ganzes Leben in Rom verbracht hatte, will sie nun den Verfall des Gebäudes verhindern. »Dieses Gebäude repräsentiert für mich Neapel im Kleinen«, meint sie. »Wenn es mir gelingt, es wieder herzurichten, habe ich es irgendwie auch geschafft, die Stadt wieder in Ordnung zu bringen«. Worauf gründet sie ihre Hoffnung? »Ich weiß nicht genau«, meint sie und fügt hinzu: »Ich bin von Natur aus optimistisch. Um eine Hoffnung haben zu können, braucht man Arbeit und Kultur. Und das sind hier schwierige Worte.« Arbeit und Kultur, das heißt Erziehung. Wir sprechen dieselbe Sprache. Und in der Tat kommt es zu einer weiteren Begegnung. Donna Paola wird am selben Abend von Don Ubaldo zum Fest des Stadtviertels eingeladen: »Kommen Sie und sehen Sie.«
Der Rundgang geht weiter. Wir treffen auf Bekannte, grüßen. Eine Frau spricht leise ein paar Worte mit Mario. Er lächelt: »Keine Sorge, signo’«. Nach ein paar Schritten erläutert er: »Sie hat gefragt, wann wir das Paket bringen können.« Es geht um das Paket der Solidaritätstafeln, Lebensmittel für die Familien. Freiwillige bringen sie vorbei, und knüpfen dabei auch Freundschaften. Im Stadtteil werden so knapp 200 Personen unterstützt. Der Bedarf stieg unlängst so an, dass man die Hilfe unterbrechen musste, um alles neu zu organisieren. In der Zeit kam es immer wieder dazu, dass draußen auf der Vico Castrucci Leute wütend an das Tor klopften: »Warum bringt ihr die Pakete nicht mehr? Das ist alles Betrug, ihr behaltet die für euch«. »Weißt du, was dann geschah?«, erzählt Felice Siciliano, der Verantwortliche der Compagnia delle Opere: »Anna, eine der Frauen, die wir kennen und die zufällig genau dort wohnt, schaute aus ihrem Fenster und verteidigte uns: „Das könnt ihr euch nicht herausnehmen: diese Leute sind meine Familie“«. Vielleicht sind deshalb zu den ersten Freiwilligen, Freunden aus der Bewegung, mit der Zeit andere hinzugekommen, zum Beispiel Frauen, die vorher die Pakete bekamen, und sich jetzt darum reißen, sie den anderen zu bringen. »Vor ein paar Tagen haben wir eine Versammlung abgehalten«, erzählt Tonino, » Um die Leute zu provozieren, sagte ich: Da sich Probleme auftun, ist es vielleicht besser, wir hören ganz damit auf.« Da erhob sich Anna, eine Mutter aus dem Stadtteil, die wir erst seit kurzem kennen, und sagte: »Ma tu si’ pazzo? – Bist du verrückt? Für mich ist die Caritativa ungemein wichtig. Sie hat mich ein neues Leben entdecken lassen. Sie hat mich und meinen Mann gerettet. Warum sollen wir damit aufhören?«
Anna benutzt genau diese Worte, auch wenn du ihr im Zentrum persönlich begegnest: »Caritativa« und »neues Leben«. Und dazu kommen noch viele andere, deren Tiefgründigkeit dich erschauern lässt. »Hier drin gibt es keinen Einzigen, der nicht einen Wert hätte. Sie haben mir geholfen, eine realere Welt kennen zu lernen. Ohne das kann ich nicht mehr leben. Ich muss hier bleiben. Das ist ein Teil von mir.« Es ist beeindruckend zu sehen, wie die Sätze von Don Giussani wortwörtlich aus dem Innersten der Menschen heraussprudeln. »Das Seminar der Gemeinschaft ist hier wirklich gelebtes Leben«, erklärt Tonino. »Hier kannst du keine leeren Phrasen schwingen: Spätestens nach einer Minute folgt dir keiner mehr. Das ist genial. Sie gehen über die Gemeinplätze hinweg, und du kannst von dem, was sie sagen, etwas lernen.« Du kannst zum Beispiel von der anderen Anna – jene, die sich draußen vor der Haustür gestritten hat – lernen: einmal war sie beim Arzt und als Reaktion auf skeptisches Geschwätz, das sie dort hörte und das typisch für Unterhaltungen im Wartezimmer ist, hat sie in etwa Folgendes gesagt: »Liebe Leute, auch ich habe ein schwieriges Leben und einen Haufen Probleme. Aber ich bin etwas Schönem begegnet, das mir hilft, mein Leben zu leben.« – »Und was soll das sein? Wer bist du überhaupt?« – »Ich bin Anna-von-Comunione-e-Liberazione«. Genau so lautete die Antwort, das ging für sie in einem Atemzug, weil dieser Zusatz nun ein Teil von ihr ist und daher zu ihrem Namen gehört. Man braucht sie nur anzuschauen, um zu erkennen, dass es genau so ist. Ihr zuzuhören, wie sie vom Schmerz spricht, von den Kindern, von der unvorhergesehenen Begegnung, die sie dazu gebracht hat, ihrem Mann auch kirchlich das Jawort zu geben (nach 20 Jahren des Zusammenlebens), und die sie heute dazu veranlasst, ihren Mann bei jeder Gelegenheit hier ins Zentrum zu schleppen. Der Zelebrant war Don Eugenio Nembrini, der unverkennbar bergamaskische Rektor der Universität Sacro Cuore von Mailand, der hier genau so populär ist wie in Kasachstan, wo er in Mission war. »Es kann immer etwas geschehen. Meine Großmutter hat immer gesagt: Zu jeder Stunde ist Gott am Werk.« Und ob Er am Werk ist! Doch man muss dem, was Er tut, auf den Grund gehen, um nicht in Stereotype wie Neapel gleich »Pizza, Mandoline und Großherzigkeit« zu verfallen. Die Probleme bleiben, und sie sind ernst. Noch immer wird dort mit Drogen gehandelt. Der Wucher nimmt zu. Allein in den letzten paar Tagen baten uns vier Menschen um Hilfe. Sogar das Glücksspiel tut das Seine: Mütter sind es, die nächtelang tombulella, Tombola, spielen – und verlieren. »Doch wer einmal dem Positiven begegnet ist, der hält daran fest und lässt nicht mehr locker, denn er hat begriffen, dass es einen Punkt gibt, auf den es sich abzustützen lohnt«, sagt Ubaldo, einer der ersten, der zum Studium hierher gekommen war.
Das war in den 80er Jahren. Die Gassenjungen aus dem Stadtteil sahen diese jungen Leute an der Vico Castrucci ein- und ausgehen und fragten sich: »Wer wohnt wohl hier drin?« Das war der Beginn der Nachmittagsbetreuung, die beinahe zufällig entstand. Und sie hatte ihren Ursprung in einem Satz, den Tonino von Don Giussani hörte: »In Neapel ist alles stets im Wandel begriffen. Es braucht einen Fixpunkt mitten in diesem Chaos.« Dieser Fixpunkt entstand, auch dank der väterlichen Freundschaft der Vinzentiner, hier an deren Hauptsitz. »Nach Abschluss des Studiums haben wir, Tonino und die anderen, beschlossen, im Viertel zu bleiben,« erzählt Mario. »Vielleicht waren wir etwas naiv. Doch heute ist das nicht mehr der Fall: Wir sind uns vollkommen bewusst, worum es geht. Und wir würden unsere Entscheidung um nichts in der Welt rückgängig machen.«
Er hat Recht. Versetzt euch in ihre Lage: von Kindheit an sind sie an die Litanei gewöhnt „nun ce sta nient a fa’“, „da kann man nichts machen.“ Und dann sieht man Schritt für Schritt in der eigenen Erfahrung, wie sich eine echte Möglichkeit zur Erlösung abzeichnet. Etwas, das auch dort funktioniert. Das auch dort siegt. Stellt euch vor, was es heißt, sich immer mehr an dieses Etwas zu binden, an dieses Faktum, dem man vor Jahren begegnet ist und das über die Jahre hinweg ständig eine größere Menschlichkeit hervorbringt. In dir selbst, und um dich herum. Wie kann man darauf kommen, von dort wegzugehen? Tonino erinnert oft an einen anderen Satz von Don Giussani. »Wir fuhren auf dem Autobahnring. Er ließ mich an einem Punkt, an dem man alles sehen konnte, anhalten, betrachtete die Stadt aus der Höhe und sagte zu mir: „Tonino, hier lebt noch ein richtiges Volk. Aber ihm fehlt die Erziehung.“ Heute verstehen wir nach und nach, was er damals gemeint hat.«
Erziehung. Ein weiteres Schlüsselwort. Dieses steht hier nicht nur für das Werk des Zentrums oder der beiden Schulen mit je 1.300 Schülern, deren Leitung man übernommen hat, oder für den Sportverein, dem Mario vorsteht und der die sozial schwachen Jugendlichen des Viertels Sanità mit den gutbürgerlichen Sprösslingen Neapels zusammenführt (was hier ansonsten nur sehr schwer zu bewerkstelligen ist), oder für die Hilfe durch Pippo Angelico, dem Mailänder Unternehmer, der uns hier kräftig unter die Arme greift. Sondern es steht hier auch für Momente wie das öffentliche Treffen vor einem Jahr zum Müllproblem, mitten im Notstand, der von außen gesehen ein Skandal, für die hiesige Bevölkerung aber noch viel schlimmer war. »Du kamst abends heim und kamst nicht zur Tür herein«, erzählt Felice. »Und du hattest das Gefühl, völlig machtlos zu sein.« Das hat die eindringliche Frage aufkommen lassen, die fast wie ein Aufschrei war: »Was hat das mit der christlichen Erfahrung zu tun? Denn, wenn es nichts mit ihr zu tun hat, dann heißt das, dass wir alles falsch anpacken.« An diesem Abend im Teatro Mediterraneo haben viele durch Zeugnisse, Lieder und Erzählungen von jenen, die auf die Barrikaden gegangen waren, entdeckt, dass es sehr wohl etwas mit ihr zu tun hatte, und wie! »Wir sind dort wahrscheinlich auf etwa 300 Personen gestoßen«, erzählt Tonino. »Später haben alle gesagt: „Wir waren deprimiert, wir haben bloß ein wenig Zerstreuung gesucht. Dann aber sind wir einem Vorschlag für das Leben begegnet.“ Und sie sind nicht mehr weggegangen.« Es brauchte dann noch sechs Monate, ehe die Lastwagen kamen, um die Gassen zu räumen, doch diese Monate vergingen auf ganz andere Art und Weise. »Nun hatten wir einen Punkt, auf den wir bauen konnten, der nicht nur auf einer Reaktion beruhte«, erläutert Felice. Alles hängt am Ende davon ab, auf welchem Fundament du stehst. Und davon, nicht allein zu sein. Wie die derzeitige Krise.«
Du lässt dir das alles noch mal durch den Kopf gehen, während du dich auf den Rückweg durch die Korridore machst. Dort wird das Fest gefeiert. Es gibt Musik und Blätterteigtaschen. Es findet eine Tombola für wohltätige Zwecke statt und es gibt Nudelauflauf. Die Tombola wird so durchgeführt, wie es sich gehört, und Don Paolo, der zusammen mit Aldo Trento in Paraguay lebt, hält ein Zeugnis. Und dann sind da Familien, Kinder, Studierende, Mütter ... das Volk aus dem Stadtviertel, das sich selbst und die anstehende Weihnacht feiert, über ihnen ein Spruchband, das extra angefertigt wurde, um die vergangenen Monate zu beschreiben: Ein Ereignis, das wider Erwarten entspricht. »Das haben sie alles ganz allein gemacht, nicht etwa wir!« sagt Mario.
»Sie«, das sind Anna und Pina, Ciro und Antonietta und viele mehr. Mütter und Väter der Kinder, die in die Nachmittagsbetreuung kommen; etwa 50 Kinder sind es, die heute dorthin gehen. Viele weitere stehen auf der Warteliste. »Wir helfen ihnen beim Lernen, was in ihrer Situation grundsätzlich wichtig ist. Aber sie machen auch Sport und handwerkliche Arbeiten«, erklärt Annarita, eine Verantwortliche. »Unser Kriterium ist, den Einzelnen zu fördern: Wenn einer begabt ist und zum Beispiel Gitarre lernen will, versuchen wir, eine Möglichkeit dafür zu schaffen.« Und so werden aus diesen Kindergesichtern, die dich aus dem Fotoalbum heraus anschauen, das Maria Assunta durchblättert und zu denen sie Geschichten erzählt, Menschen.
»Das ist Carmine, er war einer der Ersten hier. Als er zu uns kam, machte er in der ersten Zeit immer ein finsteres Gesicht. Jetzt hat er den Schulabschluss geschafft. Und das hier ist Pietro. Er ist halb Autist, nicht bloß schüchtern, wie sie uns am Anfang weismachen wollten. Jetzt lernt er bei einem Handwerker das Töpfern. Und mit dem Sozialarbeiter, der ihn begleitet, singt er sogar!« Und dann ist da die Frau, die nach dem Tod ihres Ehemanns jeden Tag herkommt, um zu kochen; da sind die anderen, die – stets ohne etwas dafür zu verlangen – das Zentrum putzen; da ist die dreifache Mutter, die sich bereits dafür entschieden hatte, das vierte Kind abzutreiben. »Wie haben miteinander darüber geredet und verstanden, dass es daran lag, dass sie wenig Geld hatten«, erzählt Maria Assunta. »Wir haben ihr geholfen. Die Kleine ist jetzt auf der Welt. Aber das Schönste dabei war, dass sie sich verändert hat. Siehst du, hier geht es nicht um Projekte, sondern um die Auseinandersetzung mit dem, was die Wirklichkeit uns vor Augen stellt. Die Not ist so groß, dass wir, wenn wir uns anmaßen würden, für alles eine Lösung zu finden, uns selbst verlieren würden.« Statt dessen? »Oft bleibt das Problem des Alkohols, auch das des Geldes«, sagt Annarita. »Aber du siehst sie an und merkst, dass sie froh sind. Du fragst dich: Wie ist das möglich? Und dann entdeckst du, dass du eigentlich mit dir selber barmherzig gewesen bist.«
Dieselben Worte kommen von Patrizia, die gerade erst ihren Job aufgegeben hat, um als Vollzeitkraft ins Zentrum zurückkehren zu können: »Das, was wir hier mit den Jugendlichen machen, hilft uns dabei, uns selbst kennen zu lernen. Hier ist der Reichtum größer als die eigenen Grenzen.« Man hat ganz klar den Eindruck, dass es sich hier um eine »Auferstehung« handelt, um ein menschliches Geflecht, das schon für sich genommen reich ist, das aber durch die Begegnung mit dem Christentum voll zur Blüte kommt. »Doch es ist nicht nur ein Aufblühen«, meint Mario. »Es ist die Wiederentdeckung des Ursprungs. Wir haben uns anfangs oft gefragt, ob es sich überhaupt lohnt, hier zu sein. Doch heute stellt sich diese Frage nicht mehr. Wir sind frei: Wir könnten alles schon morgen ganz anders machen, wenn es nötig wäre. Vielleicht ist ja gerade das das Christentum: In jedem Augenblick neu anfangen können, jeweils das tun, was die Wirklichkeit dir vorschlägt.«
Der Tag neigt sich dem Ende. Das Tor schließt sich, das Herz Neapels nicht. Es schlägt weiter, mmiezo ’a Sanità“, »inmitten des Sanità«, wie es in einem der schönsten Lieder von Alfredo heißt. Es erzählt vom Rione, von seinem Viertel: vom Geheimnis, das es durchdringt – Nun se po’ capì/là se sente pure ‚a voce ´e Dio, »es ist unbegreiflich, doch man hört dort sogar die Stimme Gottes« – und wie man Ihm ins Gesicht schauen kann, Ihn erkennen kann, wenn man l’uocchie che so’ astritte, »die zugekniffenen Augen« aufmacht. Und er dringt bis auf den Grund der Sehnsucht vor, die – Krise hin oder her – in uns allen steckt: Pure dint’ o male / ´o bene vuo´truvà“, »sogar im Bösen will er das Gute finden«. Von wegen Krise!