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CL Leben - Gioventù Studentesca
Gesichter, die sich nach der Wirklichkeit sehnen
Paolo Perego

„Das Leben einfach nur hinnehmen? Da wäre ich ja wie tot“, schreibt eine Gymnasiastin ihrer Lehrerin. Es ist ein Wunsch: „Ich will glücklich sein!“ Doch gibt es das überhaupt, als echte Menschen zu leben, mit sechzehn? Wir haben uns bei den Schülern umgesehen. Und Dutzende von Geschichten und Gesichtern entdeckt. Ein dichtes Beziehungsnetz, das davon erzählt, wie die jungen Leute begonnen haben, sich selbst und ihr Leben ernst zu nehmen. Geschichten einer Freundschaft, die dem Leben Aufwind geben.

„Das Leben einfach nur hinnehmen? Da wäre ich ja wie tot. Aber tot sein ist das Letzte, was ich will.“ Das schreibt Aida ihrer Lehrerin. „Alle sagen mir, ich könne mich nicht beklagen, mir fehle doch nichts. So ein Schwachsinn! Manchmal habe ich das Gefühl, ich sei verrückt, ich sei die Einzige, die grübelt, ein Komplexhaufen eben.“ Auch Paolo hatte viele Fragen. Er wollte mit jemandem über sein Leben sprechen, über seine Gefühle. Aber mit seinen Kumpels, die nur Saufen und Kiffen im Kopf hatten, ging das nicht. Die Lösung wäre vielleicht, einfach aufhören nachzudenken. Dann die Begegnung „mit zwei wunderbaren Menschen“. Paolo schwärmt seinen Freunden vor: „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, es gibt eine andere Art zu leben!“ Antwort: „Hör auf mit dem Gesülze!“ Aber es hatte sich ein Weg aufgetan. Wie auch für Marianna, die nach vielen Jahren einer alten Bekannten begegnet und zu hören bekommt: „Ich bin so glücklich, dass ich leben darf.“ Und die von ihren Freunden erzählt, und wie sich ihr Leben verändert hat. Marianna hört schweigend zu. Und dann plötzlich: „Ich will bei dir bleiben, mit deinen Freunden. Was du da erzählst, das will ich auch für mich!“

WIR SIND NICHT VERRÜCKT. Solche Geschichten gibt es zu Dutzenden. Ein Jahr lang haben wir die Jugendlichen, der Schülervereinigung von Comunione e Liberazione genannt „Gioventù Studentesca“ (GS) begleitet. Wir haben Briefe gelesen, Erzählungen angehört, die von einer „banalen“ Schulstunde bis hin zum dramatischen Tod eines Freundes reichen. Aber alle Erlebnisse haben einen gemeinsamen Nenner: Dass es möglich ist, als echte Menschen zu leben, was auch immer geschieht. Als Mensch. Indem man sich selbst ernst nimmt. Auch mit sechzehn.
„Du bist nicht verrückt, Aida. Wir sind nicht verrückt.“ Das sagt Franco Nembrini, Lehrer und Verantwortlicher von GS. Er sitzt an einem Pult auf der Bühne eines großen Mailänder Theaters. Im Publikum 2000 Teenager. Sonntagvormittag, 7. März. Es ist das erste Treffen zum Buch Kann man so leben? von Luigi Giussani. „Dein innerstes Verlangen, unsere Sehnsucht, hält uns am Leben“, betont Nembrini. „Das Problem ist, jemanden zu finden mit einer außergewöhnlichen Menschlichkeit, der anders ist, der dir entspricht.“ Zweitausend Jugendliche hören ihm schweigend zu. Er spricht von sich selbst, und er scheint von ihnen zu sprechen. „Ich war so alt wie ihr. Und irgendwann habe ich gemerkt, dass alles, was ich tat und was mir gefiel, keinen Bestand hatte. Ich sah und fühlte, dass die Dinge ‚starben‘. Irgendetwas verschlang sie und nahm sie mir weg.“ Der Lehrer erzählt weiter, wie er eine Begegnung machte, wie er drei Tage Ferien mit GS verbrachte, Anfang der 70er Jahre. „Ich habe nicht alles verstanden, aber am Donnerstag darauf ging ich zu den Jungs von GS an meinem Wohnort zurück. Ich hatte die Vorahnung, dass es dort etwas gab, was ich brauchte. „Zeigt es mir!“ forderte ich sie auf.

„Wir brauchen Personen,
die eine reale Möglichkeit
verkörpern, heute das
Leben als echte Menschen
zu leben.“

Auch Tatiana, Gymnasiastin aus Mailand, erging es so. Schule, Freunde, der Freund − und jene merkwürdige Lehrerin, die im Unterricht von Glück, Sehnsucht, vom Herzen sprach. Von Gott. Dann stirbt der Freund bei einem Autounfall. Und sie schreibt nur kurze Zeit später an eben jene Lehrerin, die sie keinen Augenblick alleine gelassen hatte: „Der Tod ist für mich jetzt die konkrete Gegenwart von Jemandem. Ich habe keine Angst mehr davor, das Leid nicht auszuhalten, weil ich eines weiß: Auch wenn mir das Herz zerspringt und mir die Augen von den vielen Tränen brennen, ich bin nicht allein. Diese Gewissheit tröstet mich jeden Tag stärker. Ich bin in Seinen Händen. Danke für das, was Sie jeden Tag tun, wenn Sie in unsere kleine Klasse kommen: uns lieben. Und ja, ich weiß, Sie werden sagen, ich soll Gott danken. Das tu ich auch, ständig.“ Tatiana hat inzwischen um die Taufe gebeten.
Der brennende Wunsch nach Wirklichkeit findet seine Erfüllung in jener Freundschaft, die einige Jugendliche aus verschiedenen Städten zusammengeführt hat. Hunderte Kilometer im Zug oder im Auto, oft in Begleitung von gleichermaßen faszinierten Lehrerinnen oder Lehrern. Stundenlange Fahrten, um vielleicht bloß einen Einzigen zu treffen, weil der „die gleiche Sehnsucht hat wie wir“. Aus der ganzen Lombardei kommen sie zusammen, treffen sich vielleicht nur kurz an einem Abend für ein paar Lieder, ein gemeinsames Abendessen.

DIE FREUNDE VON MARIACHIARA. In Forlì gab es kürzlich ein Fest, zu dem jeder seine Freunde mitbringen konnte. „Was erwarte ich von diesem Abend?“, hatte sich Mariachiara gefragt. Dann kam ihr der Satz aus dem Seminar der Gemeinschaft in den Sinn: „Wir brauchen Personen, welche die reale Möglichkeit verkörpern, heute das Leben als echte Menschen zu leben.“ Und so dachte sie: „Ich will, dass alle, die heute zum Fest kommen, sehen können, wer mein Leben verändert hat.“ Daraufhin flogen Mails und Telefonanrufe über ganz Italien hinweg. An jene Freunde, die sie nur wenige Wochen zuvor beim Meeting, dem alljährlichen Kulturfestival in Rimini, getroffen hatte. Und sie lud natürlich auch die Klassenkameraden und die Lehrerin ein. „Und so kam ich schließlich mit meinen Freunden zum Fest.“ Aus Mailand, Udine, ja sogar aus Palermo oder Siracusa (Sizilien), von wo auch Agnese angereist war. Später erzählte sie, wie sie nach einem Jahr als „Zuschauerin“ an jenen Abend in Forlì „gleichsam einen Stromschlag“ erhalten hatte, der ihr neue Kraft gab. „Jetzt ist mir jeden Morgen, wenn ich zur Schule gehe, oder beim Lernen, bewusst, dass wirklich alles im Alltag eine Chance für mich ist.“
Mariachiara erzählt vom Meeting. Im vergangenen Jahr hatten die Jugendlichen zwischen zwei Ausstellungshallen einen Raum gemietet. „Piazza Majakovskij“, hatten sie ihn genannt. Ein Treffpunkt für GS-Jugendliche aus ganz Italien. Sie hatten dort viele Persönlichkeiten des Meetings getroffen wie die CL-Verantwortlichen aus Brasilien, Cleuza und Marcos Zerbini, den Missionar Pater Aldo Trento aus Paraguay, den Philosophen John Waters aus Irland und viele andere. Und dort entstand auch die Freundschaft zwischen dem Geschichts- und Philosophielehrer und CL-Verantwortlichen Gianni aus Abbiategrasso und Maddalena aus Modena. Den Ausschlag gab die Ausstellung über die südamerikanischen Reducciones und die Geschichte der spanischen Eroberer: „So habe ich das aber nicht in der Schule gelernt! Wer hat denn nun Recht? Und wieso weiß ich nichts davon?“, ereifert sich Maddalena. Gianni fordert sie heraus: „Häng dich dran! Finde es heraus, dann komme ich zu dir, und du erzählst mir, zu welchem Schluss du gekommen bist!“ Drei Wochen später, in Modena, saßen da hundert Schüler. „Sie hat eine beeindruckende Arbeit geleistet“, meint Gianni. „Aber das Faszinierendste war, dass es am Ende zu einem intensiven Wortwechsel darüber kam, was es bedeutet, sich mehr am Leben zu freuen und sich für das, was in der Schule geschieht, zu begeistern.“

GEFECHTE IM KLASSENZIMMER. Begeisterung. Leidenschaft. Es wird immer schwieriger, einfach zu schweigen, wenn man auf Sätze oder Dinge stößt, die im Widerspruch zu dem in dieser Freundschaft Erlebten stehen. So zum Beispiel Stefano, der kurz nach dem Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Geographieunterricht im Lehrbuch die Aussage findet, dass in Europa „den Identitäten der Völker und den verschiedenen Traditionen mehr Beachtung geschenkt wird als in Amerika“. In der Pause diskutiert er mit der Lehrerin: „Es schreit doch aber zum Himmel, dass jetzt genau das Gegenteil geschieht!“ Es entsteht eine hitzige Debatte. „Ich habe viel einstecken müssen“, erzählt er. Aber er ist glücklich, dass er nicht tatenlos zugesehen hat. So auch Mario. Auch er diskutiert mit dem Italienischlehrer, einem Atheisten und Kirchengegner. Doch obwohl ihn dieser „dialektisch platt walzt“, geht er der Sache auf den Grund, informiert er sich genauer und bittet die Lehrer für Rechtswissenschaften und Religion um eine Stellungnahme.
Es ist ein neues Urteil. Und es gilt für alle und alles. Auch für Noemi, die sich plötzlich für den Schriftsteller Manzoni begeistern kann, als sie entdeckt, dass dieser „ein Mensch, wie ich war, mit den gleichen Sehnsüchten“. Nun will sie dieselbe Begeisterung auch für die anderen, unattraktiveren Schulfächer erleben: „Wenn die Faszination der Entsprechung nur auf Manzoni zuträfe, dann wäre sie nicht wirklich echt.“ Auch in der Beziehung zu den Mitschülern. Wie zwischen Marco und der neuen Mitschülerin Cecilia, politische Gegnerin im Schülerrat von Pesaro. Weil es ihm nicht genügte, ihr den Stempel der Erzfeindin aufzudrücken. „Als hätte ich einen Teil von dem, was ich angetroffen habe, zensiert. Als hätte ich gesagt: Das gilt für alle, aber nicht für die da.“ Und so betete er darum, dass sich Gott auch in der Beziehung zu ihr zeigen möge. Und als Marco und sein Kollege als Einzige eine Initiative von ihr unterstützten und ihr sogar Hilfe anboten, verstand sie die Welt nicht mehr: „Warum interessiert ihr euch für diese Sache?“ Und sie antworteten: „Wir interessieren uns für dich.“ Sie war sprachlos.
Dann ist da Chiara aus Rom. Sie erzählt von ihrem Mitschüler Raniero. Eine echte Nervensäge, der ständig provoziert, der einen mit seiner Fragerei auf Trab hält und immer ein Urteil verlangt, immer den Grund wissen will, so dass man nie passiv bleiben kann. „Warum seid ihr so gute Freunde?“, wollte er kürzlich wissen. Und jetzt sind sie selbst Freunde geworden. Weil das Leben alles und alle betrifft.

SIE SIND DAS EREIGNIS. Geschichten. Episoden. Und Gesichter. Von überall her. Es ist, als wären die Worte Don Giussanis von 1964 lebendig geworden. Damals erklärte er in einem kurzen Text, was Gioventù Studentesca ist. Er sprach von der Notwendigkeit, Christus auch im Schulzimmer antreffen zu können als das Prinzip, das alles Wissen und alle Probleme erleuchtet. Das den, der es angetroffen hat, dazu drängt zu handeln und sich selbst zu behaupten, das allmählich nicht mehr so fremd ist, als dass man nicht davon sprechen könnte oder so veraltet, dass man sich darüber schämen müsste. Und von der Notwendigkeit, dass die Studierenden selbst das Christentum in ihrem Umfeld gegenwärtig machen. „Aber heißt das nicht, dass die Gegenwart Christi in der Schule von ihrem gemeinschaftlichen Zeugnis abhängt?“
„Sie sind das Ereignis“, sagte Gianni Mereghetti, der oben erwähnte Lehrer aus Abbiategrasso. „Es ist eine Perspektive, die meine Art zu unterrichten, völlig verändert hat.“ Heute steht Gianni nach einem Hirn-Aneurysma am Anfang einer langen Rehabilitierungsphase. Es gibt zahlreiche Zeugnisse dafür, wie seine Schülerinnen und Schüler von ihm wie ein Ereignis betrachtet wurden, wie ein Vater, denn nur ein Vater schaut so auf seine Kinder. Aber Gianni ist nur ein Beispiel. Man könnte von Valentina erzählen, der Italienischlehrerin an einem staatlichen Gymnasium in Mailand. Wie sie jeden Morgen in der Klasse die Präsenzliste durchgeht. Aber Valentina leiert nicht einfach die Namen herunter. Sie stellt Fragen, fragt die Schüler, wie es ihnen geht, provoziert sie. „In diesem Moment werden wir dazu aufgerufen, uns wirklich in die Augen zu schauen“, erzählt eine Schülerin, Giulia. „Wir können all unsere Fragen über unsere Existenz, all unsere Erfahrungen, unsere Dialoge hervorholen: Sie fordert uns heraus, von uns selbst zu erzählen.“ Und Valentina fühlte sich so frei, alle für den Samstagnachmittag zur Caritativa einzuladen und gemeinsam alte Leute zu besuchen. Von 25 Schülern nahmen 23 die Einladung an.
Es ist dieselbe Leidenschaft, von der auch Matteo berichtet, der an einem Privatgymnasium in Bergamo lehrt, und der jedes Argument, das von den Schülern ausgeht, ob im Geschichts- oder Philosophieunterricht, als Gelegenheit nutzt, gemeinsam zu arbeiten und zu lernen, oder vielleicht jemanden herbeizuziehen, der ihnen etwas veranschaulichen kann. So gibt es Hunderte von Namen in Italien, von Lehrpersonen, die so vor der Klasse stehen: Alberto, Cinetta, Laura, Raffaella … Auch Don Giorgio Pontiggia war einer von ihnen. Sein halbes Leben lang war er der Verantwortliche für GS gewesen, bis zu seinem Tod im vergangenen Oktober. Und viele dieser Lehrerinnen und Lehrer waren einst „Kinder“ von Don Pontiggia.

WER ANTWORTET AUF DIE LEERE? „Das Leben einfach nur hinnehmen, da wäre ich ja wie tot. Aber tot sein, ist das Letzte, was ich will“, hatte das Mädchen Nembrini geschrieben. In Portofranco sitzen ein Schüler und eine seiner Mitschülerinnen beim Lernen. Da sagt sie: „Bei allem, was ich tue, bin ich nie wirklich zufrieden. Als hätte ich so eine Leere in mir. Deshalb habe ich keinen Bock mehr auf gar nichts.“ Da grinst er ironisch: „Warum bringst du dich dann nicht um?“ Sofia hat alles mitgehört. „Entschuldigt, wenn ich euch unterbreche, aber ich konnte nicht anders und habe zugehört. Auch ich fühle mich manchmal unzufrieden, aber ich habe eine Gruppe von Freunden gefunden, die mir helfen, diese Leere in mir nicht einfach zu ignorieren. Bei ihnen muss ich mich über dieses Unbehagen nicht schämen. Ich würde euch gerne bekannt machen.“ Die Reaktion? Staunen. Interesse. Die drei fangen zu plaudern an: Wer bist du? Was studierst du? … Dann der Abschied: „Dann sehen wir uns? Soll ich euch meine Nummer geben?“ Und die drei verabschieden sich mit dem Versprechen, sich schon bald wiederzusehen.