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Kirche - Die Begegnung im Mailänder Sportpalast
Erziehung als Mitteilung seiner selbst
Giorgio Paolucci

Am 18. März fand in Mailand auf Initiative von CL ein Treffen unter dem Titel „Das erzieherische Abenteuer“ statt. Die Begegnung war ein weiterer Beitrag, um auf den von Papst Benedikt XVI. beklagten „Bildungs- und Erziehungsnotstand“ zu antworten. An der Veranstaltung nahm auch der Vorsitzende der Italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Angelo Bagnasco teil. Wir geben im Folgenden unter anderem die Einleitung von Don Julián Carrón wieder.

Das „Ich“ kann sich nur in einer Beziehung verwirklichen. Auf diese anthropologische Grundlage wies der Vorsitzende der italienischen Bischofskonferenz, Angelo Bagnasco, in seinem Beitrag bei dem Treffen mit mehreren tausend Lehrern und Erziehern am 18. März im Mailänder Sportpalast „Palasharp“ hin. „Daher können nur reife Menschen ihrerseits reife Menschen erziehen.“ Erziehung ist also eine „tagtägliche Aufgabe“. Nach den Worten des Kardinals setzt sie aber voraus, dass der Erzieher nicht den Anspruch hegt Personen zu „erschaffen“, sondern ihnen zu begegnen und eine Beziehung vorzuschlagen, in der die Person zur Entfaltung kommen kann. „Dies aber ist nur möglich, wenn die Erziehenden selbst über das Bewusstsein der Einzigartigkeit der eigenen Person und der Fähigkeit zur Beziehung verfügen, und so in der erzieherischen Erfahrung auch die Möglichkeit des eigenen Wachstums und der eigenen Reife erfassen“. Auf diese Herausforderung ging Julián Carrón in seinem Eröffnungsreferat ein.
DAS ABENTEUER DER ERZIEHUNG – VON JULIÁN CARRÓN
Das Hauptthema für uns in allem, was wir sagen, ist die Erziehung: wie wir einander erziehen, worin die Erziehung besteht und wie sie sich vollzieht, eine Erziehung, die wahr sein und dem Menschsein entsprechen soll.“(1) In diesem Satz kommt deutlich zum Ausdruck, wie sehr sich das Don Giussani geschenkte Charisma in der Erziehung verwirklicht. Seine fortwährende Sorge – die dank Gottes Gnade auch zur unsrigen wurde – bestand darin, „das Herz des Menschen so zu erziehen, wie Gott es erschaffen hat“ (2) . Das bedeutet, im Menschen jene unermüdliche Offenheit auf die Wirklichkeit zu wecken und zu stützen, die durch die angeborenen Sehnsüchte und untilgbaren Bedürfnisse in jedem angelegt sind. Sie bestimmen das menschliche Herz noch vor jeder kulturellen und sozialen Bestimmung, Prägung.
In diesem geschichtlichen Augenblick besteht die entscheidende Herausforderung für uns wieder einmal in der Erziehung. Vor zwei Jahren hat Benedikt XVI. diese Notwendigkeit allen Christen und Menschen guten Willens ans Herz gelegt: „Das Erziehen war [...] niemals einfach, und heute scheint es immer schwieriger zu werden. Die Eltern, die Lehrer, die Priester und alle, die eine unmittelbare Erziehungsverantwortung tragen, wissen das sehr gut. Es ist daher die Rede von einem großen „Bildungs- und Erziehungsnotstand“. Es bestätigt sich durch die Misserfolge, auf die unsere Bemühungen stoßen, wenn wir versuchen Menschen auszubilden, die zuverlässig und in der Lage sind, mit anderen zusammenzuarbeiten und ihrem eigenen Leben einen Sinn zu geben. […] Gerade hieraus entsteht die vielleicht größte Schwierigkeit für eine echte Erziehungsarbeit, denn die Erziehungskrise wurzelt in einer Krise des Vertrauens in das Leben.“ (3) Dadurch schwindet der Bestand des Menschseins. In gewisser Weise konnten wir lange Zeit aus dem Erbe einer Tradition schöpfen. Jetzt aber, wo das Christentum und die Tradition immer weniger Einfluss haben und anderes überwiegt, sehen wir uns mit einer Lähmung konfrontiert, mit einer Unfähigkeit sich für irgendetwas zu interessieren (was diejenigen bestätigen können, die jeden Tag ein Klassenzimmer betreten).
Mit seiner prophetischen Gabe hat Giussani diese weit verbreitete Tendenz bereits 1987 konstatiert: „Es ist, als ob die Jugendlichen von heute [und mittlerweile könnten wir ergänzen: auch viele Erwachsene] von einer radioaktiven Strahlung erfasst worden sind: strukturell betrachtet ist der Organismus derselbe geblieben, aber seine Dynamik hat sich verändert. Die herrschende Mentalität hat sich die Physiologie des Menschen unterworfen.“ Diese Mentalität bewirkt eine Fremdheit gegenüber uns selbst: Die Beziehung zu uns selbst ist abstrakt geworden, unsere Affektivität ist beschnitten. Die Folge davon ist jene „geheimnisvolle Abstumpfung“ von der vor vielen Jahren Pietro Citati sprach (4). Dies lässt uns das Ausmaß der Krise erahnen, die nicht primär moralischer Natur ist, sondern eine wahre Krise des Menschseins darstellt.
An was muss man appellieren, um wieder neu zu beginnen? Wir können nicht einfach an die Tradition appellieren, die vielen vollkommen unbekannt ist oder bloß stark fragmentierte Spuren hinterlassen hat. Uns bleibt nur ein einziger Anhaltspunkt, den keine Macht der Welt zerstören kann und der selbst unter den Trümmern bestehen bleibt: Es handelt sich um die menschliche „Grunderfahrung“ (5), das Herz des Menschen, mit seinen fortwährenden Bedürfnissen nach Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit ...
Genau dort, wo alle anderen scheitern, kann das Christentum erneut seine Wahrheit erweisen und einen entscheidenden Beitrag leisten. Das wird aber nur möglich sein, wenn man die historischen Umstände wie ein großes Abenteuer angeht, wenn man in ihnen eine Gelegenheit sieht, ein neues Selbstbewusstsein vom Wesen des Christentums zu gewinnen. Denn wie uns die Vergangenheit mehrfach bezeugt, ist ein auf Ethik oder Spiritualismus verkürzter Glaube nicht in der Lage, auf die Herausforderungen unserer Zeit zu antworten. Nur ein Christentum, das sich gemäß seinem wahren Wesen, gemäß seiner Natur als einem „geschichtlichen Faktum“ und das bedeutet als menschliche Andersartigkeit zeigt, kann einen wahren Beitrag in dieser schwierigen Situation leisten.
„Wo kann man die Person wiederfinden?“, fragte sich Don Giussani. „Das, was ich nun sage, ist keine spezifische Antwort auf die momentane Situation […], sondern stellt eine allgemeine Gesetzmäßigkeit dar, ein Universalgesetz seitdem es Menschen gibt: Die Person findet sich selbst in einer lebendigen Begegnung, das heißt in einer Gegenwart, die eine Anziehungskraft entfesselt […], in einer Begegnung, die uns dazu herausfordert, anzuerkennen, dass unser Herz, mit all seinen Bedürfnissen, existiert.“ Eine Gegenwart bewegt uns und ruft eine Erschütterung hervor, die zutiefst vernünftig ist und das Herzen ins Schwingen bringt. Diese Gegenwart lässt die Originalität des eigenen Lebens wieder entdecken, was bedeutet eine „Entsprechung zum Leben gemäß der Gesamtheit seiner Dimensionen [zu entdecken]. Kurzum, die Person findet sich wieder, wenn sich in ihr eine Gegenwart ausbreitet, die der Natur des Lebens entspricht. Und so ist der Mensch nicht länger alleine. (6)“
Zwei Faktoren sind demnach notwendig für das Wiedererstarken der erzieherischen Erfahrung: Zum einen das Bewusstsein der Methode. Weder eine Organisation noch eindringliche ethische Ermahnungen können das Ich seiner Dumpfheit entreißen, sondern einzig und allein die Begegnung mit einer menschlichen Andersartigkeit. Damit dies geschehen kann, braucht es – und das ist der zweite unumgängliche Faktor – Erwachsene, die in ihrem Leben eine „plausible Antwort“ verkörpern und diese vorschlagen (7). Damit verfügen wir gleichzeitig über eine außergewöhnliche Möglichkeit zur Überprüfung: Denn wenn wir versuchen, andere Menschen in die Gesamtheit der Wirklichkeit einzuführen und uns so auf das erzieherische Wagnis einlassen, zeigt sich besonders deutlich, ob wir selbst uns auf das Abenteuer der Erkenntnis eingelassen haben. Don Giussani betonte immer, dass Erziehung die „Mitteilung seiner selbst“ (8) darstellt, eine Mitteilung der eigenen Art und Weise, sich gegenüber der Wirklichkeit zu verhalten. Wir können daher nur dann erziehen, wenn wir selbst als Erste die Herausforderungen der Wirklichkeit annehmen, und zwar mit allen Ängsten, Schwierigkeiten und Einwänden. Darin wird sich vor den Augen aller die Tragweite des Glaubens als Antwort auf die Bedürfnisse eines vernünftigen Menschen unserer Zeit erweisen und dies lässt die Erziehung für uns selbst zu einem begeisternden und hoffnungsvollen Abenteuer werden. (…) Die ursprünglichste und entscheidende Ebene der Erziehung ist demnach, den Menschen aus seiner Dumpfheit zu reißen, ihn an das Sein erinnern. Und das ist nur dann von Erfolg gekrönt, wenn wir den Blick Christi auf die Wirklichkeit annehmen und ihn zu dem unsrigen machen: „Gott gibt sich, er gibt sich selbst dem Menschen. Und was ist Gott? Die Quelle des Seins. Gott gibt dem Menschen das Sein; Er gibt dem Menschen die Möglichkeit zu sein. Er gibt ihm die Möglichkeit eines „Mehr“, eines Wachstums. Er ermöglicht ihm, vollkommen er selbst zu sein, auf seine Vollendung hin zu wachsen. Mit anderen Worten: Er gibt dem Menschen die Möglichkeit, glücklich zu sein. (9)“

(1) L. Giussani: Das Wagnis der Erziehung. Zur christlichen Erfahrung. St. Ottilien 1996, S. 13.
(2) L. Giussani: Das Wagnis der Erziehung. Zur christlichen Erfahrung. St. Ottilien 1996, S. 13.
(3) Schreiben von Papst Benedikt XVI. an die Diözese und die Stadt Rom. Über die dringende Aufgabe der Erziehung,
(4) 21. Januar 2008.
P. Citati, „Gli eterni adolescenti“, la Repubblica, 2/8/1999, S. 1.
(5) L. Giussani: Der religiöse Sinn, Paderborn 2003, S. 15.
(6) L. Giussani, L’io rinasce in un incontro, BUR, Rizzoli 2010, S. 183.
(7) A. Bagnasco, „Esserci!“, Predigt zur Messe anlässlich des 5. Todestages von Luigi Giussani, Genua, 23. Februar 2010.
(8) L. Giussani, Realtà e giovinezza. La sfida, Società Editrice Internazionale, Turin 1995, S. 172.
(9) Giussani, Luigi: Kann man so leben? Augsburg 2007, S. 246.