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Aktualität/Missbrauchsskandal
Die Hoffnung einer unverbrüchlichen Beziehung
Paola Bergamini

Die schrecklichen Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern durch Priester und Ordensleute erschüttert die Kirche. In einem Pastoralbrief an die Kirche in Irland hat Papst Benedikt der XVI. die Taten aufs schärfste verurteilt, die Opfer um Vergebung gebeten und zugleich auf die Gegenwart Jesu Christi in seiner Kirche als Hort der Hoffnung und Heilung in dieser dramatischen Situation verwiesen. Der renommierte italienische Psychiater und Sachbuchautor, Eugenio Borgna, äußert sich im folgenden Interview zur Frage der Pädophilie und den Folgen des Skandals für das Wirken der Kirche in der Gesellschaft.

„Ich glaube fest an die heilende Kraft der Liebe Christi“, bekräftigt Papst Benedikt XVI. in seinem Brief an die Katholiken in Irland. In dem Schreiben vom 19. März geht es um den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester und andere Kirchenvertreter, den ein Teil der kirchlichen Hierarchie in Irland lange verdeckte. Es sind betrübte, mahnende Worte, die zugleich vom Bewusstsein durchdrungen sind, dass die barmherzige Liebe Gottes Hoffnung und Vergebung schenken kann. Der Papst hat den Missbrauch von Minderjährigen durch Kirchenangehörige in Irland, Deutschland und den Vereinigten Staaten entschieden verurteilt. Bei viele Meinungsmachern und Intellektuellen führten die Untaten zu einer Frontstellung gegen den Zölibat, die Ordensgemeinschaften und letztlich gegen die Kirche. Der Papstes betont allerdings in dem Schreiben: „Wir sind alle erschüttert von den Sünden und dem Versagen von einigen Gliedern der Kirche, besonders jener, die eigens dazu ausgesucht waren, jungen Menschen zu dienen und sie anzuleiten. Aber es ist die Kirche, in der Ihr Christus findet, der derselbe ist, gestern, heute und in Ewigkeit.“ In diesen Monaten fühlten sich viele dazu berufen, die Kirche in Bausch und Bogen zu verurteilen. Dabei wird völlig vergessen, dass Tausende von Männern und Frauen in aller Stille jeden Tag, an jedem Winkel der Erde ihr eigenes Leben aus Liebe zu Christus und der Kirche Bedürftigen widmen. Wir haben wenige Tage bevor der Brief veröffentlicht wurde, den renommierten italienischen Psychiater und Sachbuchautor, Eugenio Borgna über die Missbrauchsfälle gesprochen und zugleich über die Präsenz der Kirche in der modernen Gesellschaft.

Pädophile ist eines der schlimmsten Verbrechen, die man begehen kann. Wenn sie von Vertretern der Kirche begangen werden, erregen sie noch mehr Aufsehen. Wie bewerten Sie die Vorfälle?

Zunächst muss man sagen, dass dieses Phänomen quantitativ begrenzter ist, als es den Anschein haben mag. Es ist verständlich, dass die Geschehnisse durch das riesige Medienecho breite Resonanz finden. Das geht mit neuen Zeugnissen über mögliche Missbrauchsfälle einher, die auch etwas mit dem zu tun haben, was ich als „Illusion der Erinnerung“, also als eine bestimmte Entstellung der Erinnerung bezeichnen würde. Man redet über Geschehnisse, die sich teilweise vor 30 Jahren zutrugen. Das heißt nicht, dass es sie nicht gegeben hat. Ganz im Gegenteil. Es gab den Missbrauch und leider nicht selten. Die Priester können dazu auch durch innere pathologische Situationen gebracht worden sein. Die Kirche hat die Täter nicht selten drastisch bestraft. In diesem Klima neigen die Medien dazu, das Priestertum als eine Quelle der Taten anzusehen. Aber diese beiden Lebensphänomene – das Zölibat und das Auftreten des Missbrauchs – in einen Kausalzusammenhang zu bringen, ist meines Erachtens nicht möglich.

Dennoch sieht sich die Kirche inzwischen als Ganze insbesondere der Zölibat pauschalen Angegriffen ausgesetzt.

Die Kirche verteidigt Werte, die von der Welt abgelehnt werden. Die Kirche anzugreifen, bedeutet das zu schwächen, was immer ihre außerordentliche und einzigartige Kraft war, nämlich die Verteidigung der absoluten Werte, die über die Produktivität des Menschen hinausgehen: Der Schutz des Lebens, der Respekt vor dem Sterben. Die Kirche verleiht dem Leben einen Sinnhorizont, der mit einem positivistischen Verständnis des Lebens unvereinbar ist. Denn dieser schließt eine wahre Freiheit ebenso aus, wie die Gegenwart der spirituellen Dimension. Die geistige Ebene ist Teil des Lebens, aber sie gerät mit einer laizistischen Ideologie in Konflikt. Die Schwierigkeiten der Kirche und das fürchterliche Verhalten einiger ihrer Glieder, bietet deshalb die Gelegenheit zu behaupten, dass sie als Ganze nicht mehr glaubwürdig ist und nicht mehr als Lehrerin des Lebens taugt.

In dramatischer Weise wirkt sich dies auf ihren Verkündigungsauftrag aus, insbesondere in Bildungseinrichtungen.

Für die Kirche ist dies ein Stich ins Herz, was die Möglichkeit betrifft, jungen Generationen ein zeitgemäßes, lebendiges und pulsierendes Christentum zu vermitteln. Die Schwindel erregende Aktualität des Evangeliums wieder zu entdecken, ist eine der Aufgaben, die jede Erziehung erfüllen müsste: die weltliche und die katholische. Die Leidenschaft zu unterweisen gehört zum Wesen des Evangeliums. Denken wir an den Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ – das ist nicht nur eine psychologisch-menschliche Revolution, sondern auch eine anthropologisch-existenzielle. Sie ist von bleibender Aktualität, weil sie die menschliche Zerbrechlichkeit und die großen psychologischen Ressourcen berücksichtigt, die in uns leben. Es ist das Konzept der caritas, das Benedikt XVI. betont. Die Liebe Gottes. Wenn man das negiert, wird man zum Gefangenen jenes Individualismus, der in so vielen Bereichen um sich greift und der eine Kirche zurückweist, die Wege der Entwicklung, der Reflexion und der Kontemplation aufzeigt, welche die unmittelbare Umsetzung unserer (auch sexueller) Impulse übersteigen, die mit einem unmittelbaren Genuss verbunden sind.

Inwiefern weist der Individualismus die Nächstenliebe zurück?

Indem er sich jeder Form von Solidarität entgegenstellt, und zwar nicht nur der Solidarität im soziologischen Sinne, sondern auch der menschlichen Solidarität, die Respekt und staunende Bewunderung mit sich bringt sowie die notwendige Suche nach jeder Form von Hilfe für diejenigen, die schwächer sind und Hilfe brauchen. Dies bedeutet auch, sich nicht von der Logik der Produktivität überwältigen zu lassen, die einer der falschen Grundsätze ist, denen die Welt folgt. Je mehr Nächstenliebe in uns ist, desto mehr werden wir fähig, die zu verstehen, die Fehler machen, und die, denen es schlecht geht. Und sie gibt Hoffnung, die Leidenschaft der Hoffnung. Sie ist nicht in dir. Sie ist dir gegeben.

In welchem Sinne?

Die Hoffnung ist entweder eine christliche oder sie reduziert sich auf den Optimismus. Wie es Benedikt XVI. in seiner Enzyklika geschrieben hat. Hoffnung schafft Beziehung. Ich hoffe für dich. Es ist die Erscheinung des Wir, des Nächsten. Schauen wir auf das Urteil Christi: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Dies ist das Fundament jeder Ethik und Bioethik. Es gibt unauslöschliche menschliche Umstände: das Glück, das Unendliche, auch das Schuldgefühl, die zum alltäglichen Leben dazugehören, die aber vom Optimismus mit Füßen getreten werden. Die Hoffnung ist eine Beziehung, die dazu fähig ist, zu öffnen und zu weiten. Der Optimismus dauert nur einen Augenblick, die Hoffnung gibt dem Handeln seinen Sinn. Die christliche Hoffnung macht es möglich, die Dinge nicht zu verabsolutieren. Auch nicht das Böse.
Zur Vertiefung: Der Text des Hirtenbriefs des Heiligen Vaters an die Katholiken Irlands sowie weitere kirchliche Stellungnahmen unter: www.vatican.va/resources/index_ge.htm.


„Ihr habt schrecklich gelitten, und ich bedaure das aufrichtig. Ich weiß, dass nichts das Erlittene ungeschehen machen kann. (…) Gleichzeitig bitte ich Euch, die Hoffnung nicht aufzugeben. In der Gemeinschaft der Kirche begegnen wir Christus, der selbst ein Opfer von Ungerechtigkeit und Sünde war. (…) Ich bete, dass durch die Annäherung an Christus und durch die Teilnahme am Leben seiner Kirche – einer Kirche geläutert durch Buße und erneuert in Nächstenliebe – Ihr die unermessliche Liebe Christi für jeden von Euch wiederentdecken könnt. Ich bin zuversichtlich, dass Ihr auf diese Weise Versöhnung, tiefe innere Heilung und Frieden finden könnt.“

Hirtenbrief des Heiligen Vaters an die Katholiken Irlands.