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Briefe
Briefe April 2010
Paola Bergamini

Das Erdbeben, das Tortenstück und der Professor
Lieber Don Carrón
Ich möchte Dir erzählen, wie ich mich vom Leiden der Erdbebenopfer in Haiti herausfordern ließ. Gemeinsam mit Kollegen hatten wir uns überlegt, ein Kuchenbuffet vor der Mensa der Fakultät für Architektur zu organisieren. Dort wollten wir Studenten und Professoren ansprechen, mit ihnen das Flugblatt „Unser Leben gehört einem Anderem“ lesen, von Fiammetta und den Freunden von AVSI erzählen und Spenden sammeln. Nach anfänglichen organisatorischen Schwierigkeiten zeigte sich eine außergewöhnliche Solidarität. Aber jetzt zu dem, was mir passiert ist. Einer meiner Professoren nahm ein Flugblatt entgegen und lief mit offensichtlichem Desinteresse weiter. Ich holte ihn bei den Mensatischen ein und bot ihm ein Stück Kuchen an. Als ich dies mit der Bitte um eine Spende verband, fragte er mich ironisch: „Ist das Flugblatt im Preis inbegriffen?“ Aus dem Witz entstand ein Gespräch, in dem er begann, sein Misstrauen in diese Fragen zu rechtfertigen, weil er schlechte Erfahrungen mit religiösen Kreisen gemacht habe. Vor allem sprach er über Vorurteile gegenüber der Bewegung. Er schloss: „Letztlich stecken dahinter immer politische Absichten.“ Ich antwortete ihm, dass ich einfach hier sei, weil meine Freunde mir geholfen hätten, allem auf den Grund zu gehen – nicht nur dem Studium – immer im Bemühen, die Dinge zu beurteilen. Das rief sein Interesse wach und er stellte mir Fragen: Wie ich meine Freunde kennen gelernt hätte, warum ich mich auf sie eingelassen hätte und was in diesen Jahren an der Universität geschehen sei ... Schließlich sagte er: „Mit Sicherheit hast du eine ganz andere Erfahrung gemacht als ich. Aber die Gewissheit, mit der du von dir erzählst, lässt mich nicht daran zweifeln, dass sie wahr ist.“ Und mit einer ganz unerwarteten Vertrautheit berichtete er mir von seiner kranken Tochter. „Siehst du, dir vertraue ich. Wie könnte ich mich aber auf dieselbe Weise der Hilfsorganisation Avsi oder jenen, die das Flugblatt unterschreiben, anvertrauen?“ „Ganz einfach“, antwortete ich, „denn ich hätte Ihnen nie einen solchen Vorschlag gemacht, wenn ich nicht dessen, was ich ihnen erzählt habe, sicher gewesen wäre.“ Wir lasen das Flugblatt noch einmal, und er sagte am Ende: „Ich bin sehr zufrieden über unser Gespräch. Was hier steht, ist alles wahr, nur, dass hier (er zeigte auf das Flugblatt) für mich anstelle von Luigi Giussani Lorena geschrieben stehen müsste. Denn ich kann nicht an dem zweifeln, was du mir gesagt hast.“ Dann stand er auf, nahm Geld aus dem Geldbeutel, ging zum Buffet und sagte: „Ich habe noch nie an Comunione e Liberazione oder solche Dinge geglaubt. Aber ich gebe das Geld wegen des Vertrauens, das ich in Lorena habe, und für die Wahrheit dessen, was sie mir gesagt hat.“ Ich bin genau wie der Professor: Ich lebe mit Vorurteilen, ohne die Wahrheit der Dinge anzuschauen. Aber ich werde immer wieder überwältigt von dem vertrauten, einfachen und alltäglichen Gesicht des Geheimnisses. Die Methode des Christentums ist immer dieselbe: Ein Ereignis, dem wir in einer Menschlichkeit begegnen.
Lorena, Reggio Calabria

Der Kuss in der U-Bahn
Lieber Don Julián,
als ich die Mittelstufe besuchte und zusammen mit Freunden Mariä Verkündigung von Paul Claudel im Pfarrsaal aufführte, war ich ganz hingerissen von einem Satz: „Zu was nützt das Leben, wenn es nicht hingegeben wird“. So beschloss ich, dass mein ganzes Leben eine Hingabe sein müsse, denn sonst könnte ich nicht glücklich sein. Ich muss sagen, dass ich in den folgenden Jahren damit nicht gespart habe, in allen Bereichen: Familie, Arbeit, Gesellschaft. Ich versuchte, mich selbst hinzugeben, mein Leben nicht als einen gut behüteten Schatz zu betrachten, sondern es den anderen hinzugeben. In letzter Zeit jedoch bemerkte ich, dass diese Hingabe nicht reicht, um mich glücklich zu machen. Besonders die Familie verlangte sehr viel von mir und so rebellierte ich innerlich. Mit vier Adoptivkindern bereitet immer eines Probleme und die letzten beiden sind besonders schwer zu bändigen. Heute Morgen begleitete ich meine Tochter zum Ultraschall (sie erwartet ein Kind und ist selbst noch ein Teenager). Während wir zusammen den Monitor betrachteten, bemerkte ich, dass wir beide von dieser Kreatur bewegt waren. Und ich fragte mich: „Habe ich jemals meine Tochter mit der gleichen Bewegtheit angeschaut?“ Ja, es stimmt, ich hatte für sie viele Opfer gebracht, ich hatte mich für sie geplagt und ich hatte mich nie davor gedrückt ... Aber hatte es mich jemals bewegt, wenn ich sie anschaute, nur weil sie da war? Weil sie ihre Hände so hielt, wegen ihrer Augen, wegen ihres Herzens, das schlug? Meine Mutter hatte mich so angeschaut und ich?“ Die „Hingabe seiner selbst“ reicht nicht: Punkt“. Alles hängt von dem Adjektiv bewegt ab, eine bewegte Hingabe seiner selbst. Während wir in der U-Bahn nach Hause fuhren, schaute ich sie dankbar für ihre Gegenwart an und bewunderte sie für ihre Schönheit (sie ist sehr schön!) und war bewegt aufgrund der Mühen, die ihr bevorstehen. Und ich gab ihr einen dicken Kuss (das tat ich schon seit langem nicht mehr). Ich weiß nicht, wie es bei ihr war, aber ich fing wieder an zu atmen.
Raffaella, Mailand

Lieber Don Carrón,
mein Mann Roberto und ich sind in Siena geboren, aber wir leben schon seit mehr als zehn Jahren in Treviglio, wo wir auch die Bewegung kennen lernten. An einem Abend im Januar kam Roberto von einem Treffen, um eine Spendensammlung zu organisieren, nach Hause. Er weckte mich auf, um mir davon zu erzählen, aber vor allem um mir eine Idee vorzuschlagen: wir könnten ein toskanisches Essen für wenigstens 120 Personen vorbereiten, um Geld zu sammeln. Mir schien es eine sehr schöne, aber schwer umsetzbare Idee. Man musste die Zutaten dafür finden und einen Ort, wo man es veranstalten konnte. Ich brachte viele Einwände vor, die mein Mann aber immer wieder ausräumte. Am meisten erstaunten mich aber sein Enthusiasmus und seine Hartnäckigkeit gegenüber meinen Vorbehalten. Genau diese Haltung bei Roberto weckte in mir Fragen. Ich verstand sein Verhalten nicht und war fasziniert von seiner Heiterkeit, die er mit folgendem Satz zusammenfasste: „Gott sieht und sieht vor, wir müssen nur zustimmen.“
Noch in derselben Nacht bevor wir einschliefen − es war schon drei Uhr morgens −, war die Entscheidung getroffen. Unsere Gewissheit brachte folgender Satz auf den Punkt: „Herr, mit unseren Händen, aber mit deiner Kraft“. Von diesem Augenblick an fing Seine Gegenwart an, sich in erstaunlicher Weise zu zeigen. Mein Bruder, der in Siena wohnt, kam um uns zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit erzählten wir ihm vom Essen (mein Bruder und seine Familie sind „Christen“ aber nur dem Taufschein nach). Wir erklärten ihm, was Avsi ist, und er und seine Frau boten sofort ihre Hilfe an. Er fand in der Toskana durch persönliche Kontakte alle Produkte von hochwertiger Qualität. Zugleich erläuterte er allen das Ziel der Initiative, nämlich die Projekte von Avsi für die Erdbebenopfer in Haiti zu unterstützen. Die Großzügigkeit war unglaublich. Viele ließen sich für Speisen und Getränke nur den Einkaufspreis zahlen, andere spendeten diese sogar. Mein Bruder rief uns an, weil er ganz erstaunt von der Reaktion der Menschen war, die er kontaktierte. Es war ein „Rosenkranz“ von „Ja“, das selbst Kirchenferne aussprachen. Das Essen fand am Samstag den 13. Februar im Pfarrheim statt. Unser Gemeindepfarrer hatte es zur Verfügung gestellt. Am Freitagmorgen mussten mein Bruder und ein Freund von ihm das Ragout zubereiten. Für den Freund war es neu, sich in einem christlichen Umfeld zu bewegen. Und obgleich man bei ihm am Tag zuvor einen Tumor diagnostiziert hatte, zog er sich nicht von seiner Aufgabe zurück, denn er erkannte, dass ein Fernbleiben an seinem Gesundheitszustand nicht ändern würde. Seine Anwesenheit half ihm dagegen seine Sorge und Trauer zu überwinden. Am Nachmittag kamen die „Kellner“, Studenten, die mitten in ihren Prüfungsvorbereitungen steckten. Diese Jugendlichen waren unglaublich, sie kümmerten sich aufmerksam um die ihnen zugewiesenen Tische und während sie in der Küche auf die einzelnen Gerichte warteten, war es schön, ihnen beim Singen zuzuhören. Das Essen verlief bestens. Die Gäste waren sehr großzügig und sogar die Kellner wollten sich mit einer Spende zu Gunsten von Avsi beteiligen, denn die Zeit, die sie bereits dafür opferten, war ihnen für diesen Zweck nicht genug.
Cecilia, Treviglio (Bergamo)

Flugblatt
Marc Chagall wurde 1887 in Witebsk, im heutigen Weißrussland geboren. Als er das Gemälde 1975 malte, war er also fast 90 Jahre alt. Und doch scheinen die Erinnerungen an die glücklichen Kindheitsjahre darin mit einer Frische zu vibrieren, die durch die lange Zeit nichts an Lebendigkeit eingebüßt haben. Chagall wurde in eine jüdische Familie hineingeboren und erhielt eine religiöse Erziehung, die vom Chadissismus geprägt war, einer frommen Bewegung, die im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa entstanden war. Dieses Denken prägte sein ganzes Leben und verlieh ihm jenen festlichen, fast märchenhaften Blick auf das Leben. So stellt er die Darstellung des verlorenen Sohnes vor den Hintergrund eines feiernden Dorfes, das jenes Witebsk seiner glücklichen Jugendjahre sein könnte. Die gesamte Gemeinschaft nimmt teil an der Freude über die Rückkehr des verloren geglaubten Sohnes und über den Empfang, den der Vater ihm bereitet. Der Vater umarmt den Sohn, der wieder ein Kind zu werden scheint und seinen Kopf an die Brust des Vaters lehnt. Sogar die Sonne scheint vor Glück heller zu strahlen. Der große, rote, aufgeplusterte Vogel ist das Symbol dieser unfassbaren Freude. Auch Chagall, der sich unten rechts in der Ecke mit Malerpalette darstellt, nimmt teil an der Freude. Wenn man ihn genau anschaut, so entdeckt man den Blick eines ewigen Kindes. In der Tat schrieb er einmal: „Die Kunst ist wie ein gutes Kind. Dafür gibt es keine Schule. Man muss nicht gut zeichnen oder malen lernen. In mir gibt es keinen Professionalismus.
Giuseppe Frangi