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Don Giussani - Der fünfte Todestag
„Er hat meinem Leben die Richtung gegeben.”
Paola Bergamini

Fünf Jahre nach seinem Verscheiden erinnern drei Personen daran, wie Don Giussani weiterhin Menschen zu einer Reife im Glauben erzieht. Die Ordensfrau Edoarda, die jeden Lebensabschnitt mit ihm gegangen ist, ohne zu CL zu gehören. Luciano Di Pietro, einer der ersten Jugendlichen der Bewegung, der nach Brasilien aufbrach, und der Pädagogikprofessor Luciano Pazzaglia, der die erzieherische Bedeutung von Giussani erläutert. Edoarda lernte Don Giussani bei einem Vortrag als Novizin kennen. Daraus entstand eine lebenslange Freundschaft, die allem, was sie lebte, „einen Namen gab“.

Mailand, Anfang der 70er Jahre. Schwester Edoarda, von der „Kongregation vom Kinde Maria“ und Stationsschwester des Bereichs Kinderchirurgie im Krankenhaus Mangiagalli, bewegt sich mit entschiedenen Schritten zur Aula Magna. Es gibt ein Treffen zum Thema Erziehung. Referent, ein gewisser Don Luigi Giussani. Das Seminar gehört zu einer Lehrreihe zum Thema Ethik, die der Priester für die Krankenpflegeschule hält. Giussani spricht vom Menschen. Er sagt, dass als Erstes und Wichtigstes der Mensch selbst aufzubauen ist.
Zugleich wettert er gegen ein oberflächliches Wissen und fordert statt dessen eine aktive Erziehung, die auf jede einzelne Person ausgerichtet ist und die durch die Beziehung zwischen Erzieher und Schüler erwächst. Seine Worte sind hart, haben aber einen mitfühlenden Akzent, der Schwester Edoardas Herz trifft. Sie möchte ihn treffen. Sie muss ihn treffen. Sie ist eine junge Novizin und es ist ein besonders schwieriger Moment in ihrem Leben. Eines Tages wartet sie vor der Klasse, wo er eine Lektion hält. „Don, ich muss Sie treffen“. „Jetzt kann ich nicht“. „Ich bleibe so lange, bis Sie Zeit haben“. „Ich habe nicht viel Zeit.“ „Nun, dann ‚verlieren‘ Sie eben etwas Zeit. Bleiben Sie einen Augenblick hier mit mir.“ „Du bist mutig!“. „Was heißt das?“ „Komm.“ Es folgt eine Stunde Gespräch. Es ist der Anfang einer persönlichen Beziehung, die 30 Jahre lang hielt. Man traf sich oder hörte sich am Telefon, vielleicht ein oder zwei Mal im Jahr, bis zum Tode Don Giussanis.
Schwester Edoarda Cassi ist heute 72 Jahre alt und steht Kranken und Verwandten im Niguarda-Krankenhaus in Mailand geistlich bei. Als wir uns treffen, sagt sie mir als Erstes: „Dieser Mann hat meinem Leben das ‚a‘ gegeben. Er hat mich als Person angesehen, bevor er mich als Schwester sah. Die Beziehung war immer stark, dialektisch, er ließ bei mir nichts durchgehen. Und ich war hartnäckig, wenn ich nicht verstand. Er forderte mein Leben heraus.“ Sie hält inne, fixiert mich mit ihren Augen: „Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen.“ Ein wenig verstehe ich. Fangen wir bei jener ersten Begegnung an? Ihr Gesicht strahlt. Sie hat den Blick eines Kindes. Auch mit 72 Jahren, weißem Schleier und Ordenskleid kann man wunderschön aussehen.
Ich gebe einige Passagen, die sie mir vom ersten Gespräch mitteilt wörtlich wieder, weil sie die Kraft des Glaubens verdeutlichen. Don Giussani: „Was tust du hier in der Welt?“ Schwester Edoarda: „Ich hab mich hier vorgefunden!“ „Du bist wirklich mutig!“ „Don, das Kreuz, der Schmerz, den ich jeden Tag sehe, welche Bedeutung hat er …“ „Du musst ihm einen Namen geben.“ „Dann helfen Sie mir, ihm einen zu geben. Ich bin dazu nicht in der Lage.“ „Nimm die Dinge mit Wohlwollen an und baue deine Existenz nicht auf dem Unmittelbaren auf, sondern auf dem, wozu du berufen bist. Du liebst den Menschen nicht, der sich wünscht, dir zu begegnen: Christus. Der dich dort will, wo das Kreuz und der Schmerz sind. Eine Gottgeweihte zu sein, heißt nicht privilegiert zu sein. Der Kelch, den ich benutze, um die Eucharistie zu feiern, hat keinen Wert, wenn nicht durch den Gebrauch, den ich davon mache. Aber den Gebrauch gibt mir Christus vor. Für dich ist es das Gleiche.“ „Don, ich habe nicht alles verstanden. Kann ich Sie anrufen, wenn ich etwas brauche?“ „Ruf an.“
Von Mangiagalli wurde Schwester Edoarda nach Valtellina versetzt, um in den soziopastoralen Werken zu arbeiten. Man hatte dort nach einer geistlichen Person gefragt. Später arbeitete sie bei der Caritas von Bergamo und in Brescia und zuletzt bis vor sechs Jahren in Niguarda. Immer wieder telefonierte sie mit Don Giussani oder traf sich mit ihm.
Im Aufenthaltsraum der Krankenstation frage ich sie, warum sie solches Vertrauen in ihn hatte. „Er war eine vertrauenswürdige Person. Gerade weil er ein Mann Gottes war, ohne Rhetorik. Und ich habe alles gesagt. Er hatte die Gabe der göttlichen Intuition. Er fragte nichts aus Neugier, sondern nur, weil er dich gern hatte. Er wollte dein Glück. Eines Tages sagte ich zu ihm: „Versuch, weniger mein Glück zu wollen!” Und er: „Lass mich das entscheiden. Versuch du, vorwärts zu gehen. Du musst entdecken, was der Herr von dir möchte.“ Er ging über die Emotionen, Gefühle und Reaktionen hinaus. Und er wiederholte mir immer: „Die Person, die in dir ist, sucht dein Zutrauen.“ Er hatte eine außergewöhnliche Beziehung zu Gott. Die Außergewöhnlichkeit bestand aber darin, dass er auf den Menschen als solchen zählte.“ Jedes Mal, wenn sie es nötig hatte, rief sie ihn an. Das war auch der Fall, als sie im Krankenhaus einen Jugendlichen betreuen sollte, der nach einen Autounfall im Sterben lag. Am Lenker hatten der Vater und daneben die Mutter gesessen. Beide waren unverletzt. Der Junge wollte sie nicht wiedersehen. Schwester Edoarda versuchte, ihn auf allerlei Art mit seinen Eltern zu versöhnen, doch ohne Erfolg. Eines Tages rief sie Don Giussani an und beschrieb ihm die Situation. Er sagte: „Du vertraust nicht auf Gott. Du sprichst von dir. Deshalb schafft es der Junge nicht.“ Und sie: „Dann gebe ich ihn dir. Er ist hier neben mir.“ „Gib ihn mir! Akzeptiere deine Eltern.“ Der Junge starb einen Monat später. In den letzten Tagen hatte er die Anwesenheit der Eltern erbeten. An jenem Abend rief Schwester Edoarda Don Giussani an: „Du warst großartig! Du hast noch einmal meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Der Junge war ein anderer.“ Don Giussani antwortete am anderen Hörer: „Wieder vertrautest du dich der Unmittelbarkeit an. Dich muss dieser Junge interessieren. Wenn du willst, bete für ihn drei Rosenkränze im Knien.“ „Es sind zu viele!“ „Spiel du weiter die Heidin.“
Sie lächelt, während sie diese Episode erzählt. Was aber verblüfft, ist die Energie, mit der sie erzählt. Kein Wort dieser Treffen ist an ihr abgeperlt, alle haben sich ihr eingeschrieben. „Mir wurde bewusst, dass jene Gespräche mein Leben veränderten. Ich war ruhig und voll Selbstvertrauen ...“ Sie hält einen Augenblick inne. „Ja, vor allem habe ich die barmherzige Nähe gelernt.“ Erklären Sie mir das. „Wenn ich etwas kritisieren will, die Kritik aber nicht positiv ist, sage ich mir: ‚Wozu dient das?‘ Das hat mir Don Giussani beigebracht: „Man muss kritisieren − seien wir nicht dumm. Aber man muss als intelligente Person Kritik üben.“ Er hat mir die Lust geschenkt, für Gott zu leben, und somit für Ihn zu handeln.“ Manchmal war dies für Schwester Edoarda nicht leicht. Sie war immer allergisch gegen Strukturen und Formalismen. „Ich habe gelernt zu akzeptieren – fährt sie fort. Nein, ich habe das falsche Verb gebraucht. Akzeptieren hat etwas Passives. Ich habe gelernt zu teilen, aber mit Ihm zu teilen, nicht mit dem Bösen oder der Grenze.“

„Durch eine Gnade.“ Eines Tages rief Don Giussani sie an, um ihr mitzuteilen, dass er krank sei, und er fügt hinzu: „Denke daran, wer du bist, und sei dir bewusst, für wen du bist.“ Und sie sagt: „Ich verstehe nicht. Ich komme zu dir und du erklärst mir, was du meinst.“ Jetzt senkt sie die Augen, als sie sich an jene letzte Begegnung erinnert. Giussani: „Ich habe dich immer grob behandelt, weil ich wusste, dass der Herr viel von dir wollte. Christus ist mit dir. Du baust mit den Personen eine tiefe, christliche Beziehung auf.“ „Das hast du mir beigebracht.“ „Der Verdienst ist weder deiner noch meiner. Die Existenz Gottes ist in dich eingetreten.“ Dann spricht er vom Schmerz und vom Kreuz: „Das Kreuz zu teilen, ist die radikalste Art, um zu verstehen, dass Christ sein – oder Schwester sein – keine Frage des Taufregisters ist, es ist Frage der Entscheidung, eine Sache des Glaubens, die entscheidet, den Weg mit Jesus zu gehen, auf Jesu Art. Aber wenn das Kreuz uns vor diese Notwendigkeit stellt – es ist wichtig, dass ich dir das sage – tut es das durch eine Gnade, die Gnade, die möglich macht und verzeiht. Der Herr sagt zuerst: ‚Ich bin mit dir‘, und dann: ‚Komm und folge‘. Es ist die Treue Christi zu dir.“ Diese letzten Sätze liest Schwester Edoarda von einem Blatt. „Gestern Abend habe ich diese Zeilen aufgeschrieben, damit ich nichts vergesse. Ich hatte Angst, nicht klar zu sein. Ich kann sagen, das war eine himmlische Begegnung. Jetzt reicht es. Ich muss gehen.“
Im Park erzählt sie, während sie mich zum Ausgang begleitet: „Einmal war ich in der Nähe von Bormio, ich pflegte einen Leukämiekranken. Es machte mir Mühe. Viel Mühe. Ich rufe ihn an und sage: „Ich schaffe es nicht. Kannst du zu diesem Jungen kommen?“ Am nächsten Tag ist er gekommen. Er war zwei Stunden mit ihm zusammen. So war er beschaffen.“ Wir verabschieden uns. Ich sehe, wie sie schnellen und entschiedenen Schrittes weggeht, wie damals im Flur des Mangiagalli.