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Dialog - Nach dem Papstbesuch in der Synagoge
Die ausgestreckte Hand des Papstes
Joseph Weiler

Nach dem jüngsten Besuch von Benedikt XVI. in der Synagoge von Rom analysiert der jüdische Staatsrechtler Joseph Weiler die Beziehung zur katholischen Kirche, den „jüngeren Brüdern im Glauben“. Dabei geht er auch auf die wunden Stellen in dieser Beziehung ein, wie den Holocaustleugner Bischof Williamson. Er äußert sich aber zugleich zur Seligsprechung von Pius XII. und zu den Schritten auf dem Weg der Annährung: Die Vergebungsbitte von Papst Johannes Paul II. und die Begegnung mit Benedikt XVI. Er mahnt dabei zu „Zeit und Geduld“, sieht aber viele Zeichen der Hoffnung.

Es überrascht mich nicht, dass viele Christen, viele Katholiken, über die scheinbar nie enden wollenden Schlaglöcher auf dem Weg zu einer respekt- und würdevollen Beziehung zwischen Christen und Juden verärgert sind.
Fast 45 Jahre sind seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit der wichtigen Erklärung Nostra Aetate verstrichen und 22 Jahre sind es inzwischen her, dass mit dem Besuch von Johannes Paul II. in der Synagoge von Rom erstmals ein Papst in der Geschichte ein jüdisches Gotteshaus besuchte. Inzwischen gab es zahlreiche Versöhnungsgesten von katholischer Seite, wie die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Israel bis hin zum Höhepunkt im Januar dieses Jahres mit dem Besuch von Benedikt XVI. in der gleichen Synagoge in Rom. Aber auch dieses Ereignis hatte einen faden Beigeschmack, etwa durch die Verweigerung des Vorsitzenden der Rabbiner in Italien daran teilzunehmen. Was ist noch alles nötig, um eine Versöhnung herbeizuführen? Dieses muss den Anhängern des bedeutenden Msgr. Luigi Giussani besonders verblüffend erscheinen, denn er trug nicht den Hauch eines Vorurteils in seinem Herzen und hegte eine besonders herzliche und freundliche Bewunderung für das jüdische Volk und seinen Glauben.

Geschichte der Brüderlichkeit
Wir sind ein altes Volk. Unsere Zivilisation ist nahezu 4.000 Jahre alt und weist damit die größte Kontinuität und den längsten Bestand in der westlichen Welt auf. Mit einem Alter von 2.000 Jahren sind unsere jüngeren Brüder und Mitgläubigen an den Gott von Abraham, Isaac und Jakob auch nicht mehr die Jüngsten. Für einen Großteil unserer gemeinsamen Geschichte war die Beziehung zwischen uns asymmetrisch: Ihr ward die Löwen, wir die Christen − wenn ihr versteht, was ich meine. Es gibt also einige Dinge, die wiedergutgemacht werden müssen. Was sind 45 Jahre im Verhältnis zu dieser langen Geschichte? Nicht mehr als der Punkt am Ende dieses Satzes. Es lohnt sich also Geduld zu haben! Wenn ich in Rom gewesen wäre, dann wäre ich gewiss unter denen gewesen, die den Papst in der Synagoge empfangen haben. Stattdessen war ich anderweitig beschäftigt. Ich empfing genau an jenem Sonntag Julián Carrón als einen Bruder bei uns zu Hause in New York, mit Liebe und einem Essen, das ich mit meinen eigenen Händen zubereitet hatte.
Aber ich verstehe auch etwas von den Gefühlen, die mein Volk bewegen, auch wenn ich nicht alle teile. Lasst uns also die letzten Zwischenfälle, die Verbitterung hervorgebracht haben, noch einmal durchgehen.

Auf dem Weg von Wojtyła
Der erste Zwischenfall ist die Wiederaufnahme von Bischof Williamson, den bekannten Holocaust-Leugner. Es war klar, dass der Papst völlig überrascht war, als er von diesen hässlichen Fakten über Bischof Williamson erfuhr. Auch ihr, meine Freunde, müsst euch verlegen fühlen und euch der ehrlichen Verlegenheit des Papstes anschließen – ist denn Google noch nicht bis in die Kurie vorgedrungen? Sei dem wie es wolle, wer konnte nicht von der aufrichtigen und demütigen Erklärung von Papst Benedikt XVI. in der Synagoge bewegt sein:
„Die Kirche hat es nicht versäumt, die Fehler ihrer Söhne und Töchter zu beklagen, und hat um Verzeihung für alles gebeten, was in irgendeiner Weise der Geißel des Antisemitismus und Antijudaismus Vorschub geleistet haben kann ... Mögen diese Wunden für immer heilen können! Da kommt mir wieder das von Kummer erfüllte Gebet in den Sinn, das Papst Johannes Paul II. am 26. März 2000 an der Klagemauer gesprochen hat und das wahr und aufrichtig in der Tiefe unseres Herzens widerhallt: „Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt, deinen Namen zu den Völkern zu tragen: Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes.“
Es braucht Größe, sowohl Gott als auch die Menschen um Verzeihung zu bitten. Die Kirche war zur Selbstkritik und Offenheit in Bezug auf die Fehler ihrer eigenen Söhne und Töchter fähig. Der zweite Zwischenfall ereignete sich, als der Papst das Feiern der Tridentinischen Messe unter bestimmten Gelegenheiten und Bedingungen wieder zuließ, denn diese beinhaltet ein Gebet für die Rettung der Juden. Viele Juden sahen diesen Zug als rückschrittlich an, denn er setzte zwei unangenehmen Annahmen voraus: Erstens, dass es nötig ist, für uns Juden zu beten, da wir sonst nicht gerettet werden würden und so, in den Augen vieler Katholiken in der Hölle enden würden. Zweitens, dass ungeachtet von Nostra Aetate, die Katholiken es nicht akzeptieren, dass wir in unserer Treue zur hebräischen Bibel und zum Ewigen Bund zwischen unseren Vorfahren und dem einen und einzigen allmächtigen Gott, der allein nur heilig ist, und unter dem Ausschließen der Dreifaltigkeit, die Bestimmung Gottes für uns erfüllen. Jetzt ist es ein erstaunlicher Fortschritt, dass statt uns auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, um uns zu zwingen, Jesus als unseren einzigen Erlöser zu akzeptieren, nur ein Gebet gesprochen wird. Jedoch ist für viele Juden die Behauptung, dass unsere Seelen dieses Gebet benötigen, ein Zeichen dafür, dass das Judentum nicht als legitim angesehen wird. Deshalb lasst uns noch einmal dem Papst zuhören: „Auch ich wollte in diesen Jahren meines Pontifikats meine Nähe und Liebe zum Volk des Bundes zeigen“, sagte er in bewegender Art und Weise und voller Respekt. „Das Volk des Bundes“ – das ist es, was wir sind. Man hätte es nicht besser ausdrücken können.
Die dritte Angelegenheit betrifft die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Seligsprechungsverfahren von Pius XII. Ihm wird sein angebliches Schweigen vorgeworfen. Wie kann es sein, dass sich der Nachfolger Petri nicht gegen die Diskriminierung, die Internierung und letztendlich den Mord an den Juden in Europa durch die Deutschen und deren Verbündete ausgesprochen hatte? Einige Dinge aber sind unumstritten: Zum Beispiel konnten in Italien weit aus mehr Juden gerettet werden als in jedem anderen Land. Viele von ihnen wurden von der Kirche gerettet, manchmal verbunden mit einem großen Risiko für die Priester, die an diesem Bemühen beteiligt waren.

Tränen und Erinnerung
Das gilt auch für Frankreich: die meisten französischen Juden flüchteten nach Vichy als Ergebnis des Eingreifens der Kirche. Als die Deutschen forderten, dass die Juden ausgehändigt werden sollten, um sie zu ermorden, war die säkulare Regierung kurz davor dem zuzustimmen. Aber das katholische Episkopat war darüber entsetzt, lehnte sich dagegen auf und verbot es schließlich. Ist es denkbar, dass diese Politik ohne Führung, Einvernehmen und Zustimmung des Papstes ausgeführt wurde? Jedoch bleibt die Frage, ob der Papst in der Öffentlichkeit hätte sprechen sollen? In den Niederlanden wurde mehr mündliche Opposition zum Ausdruck gebracht, mit schlechten Ergebnissen: daraufhin wurde die Verfolgung intensiviert. Daher mag am Ende das Schweigen des Papstes wohl weise und umsichtig gewesen sein. Jedenfalls ist es im Nachhinein unmöglich diese Angelegenheit zu lösen.
So sagte der Papst:
„Wie könnte man an diesem Ort nicht an die römischen Juden erinnern, die aus diesen Häusern vor diese Mauern gezerrt und mit schrecklicher Qual in Auschwitz getötet wurden? Wie ist es möglich, ihre Gesichter, ihre Namen, die Tränen, die Verzweiflung von Männern, Frauen und Kindern zu vergessen? Die Vernichtung des Volkes des Bundes Mose, die in Europa unter der nazistischen Herrschaft zunächst angekündigt und dann systematisch geplant und durchgeführt wurde, hat an jenem Tag tragischerweise auch Rom erreicht. Leider blieben viele gleichgültig, aber viele, auch unter den italienischen Katholiken, reagierten, gestärkt durch den Glauben und die christliche Lehre, mutig und öffneten die Arme, um den verfolgten und fliehenden Juden zu helfen, oft unter Gefahr für ihr eigenes Leben. Sie verdienen ewige Dankbarkeit. Auch der Apostolische Stuhl entfaltete damals eine Hilfstätigkeit, oft verborgen und diskret. Die Erinnerung an diese Ereignisse muss uns dazu anspornen, die Bande, die uns einen, zu stärken, damit immer mehr das Verständnis, der Respekt und die gegenseitige Annahme wachsen.“ Man könnte es nicht besser ausdrücken.
Für meine Gefährten und Freunde
Zu meinen jüdischen Mitmenschen möchte ich daher sagen: Es steht außer Diskussion, dass die Kirche oft eine große Hilfe war, Juden zu retten. Dass viele Christen ihre eigene Lehre nicht in die Tat umgesetzt haben, wurde von der Führung der Kirche offen akzeptiert. Es ist an der Zeit, es darauf beruhen zu lassen. Und was die Weisheit der stillen Diplomatie von Papst Pius XII. angeht, lasst Gott seinen Richter sein. Es ist jedenfalls nicht unsere Angelegenheit, wen die Kirche heilig spricht. Zu meinen katholischen Freunden möchte ich sagen: Wenn ihr einen Genozid an eurem Volk erlebt und dabei religiöse Menschen gesehen hättet, die statt ihre andere Wange hinzuhalten sich wegdrehten und vortäuschten, nichts zu sehen, dann wäret auch ihr voller Misstrauen und Verbitterung. Die Zeit heilt die Wunden, wie auch der gute Wille, und keiner kann an dem guten Willen zweifeln, der von der ausgestreckten Hand und dem Herzen Benedikts XVI. ausgeht, und der sich an jene richtet, die er seine älteren Brüder nennt.

Die Zitate aus dem Text:
„Es braucht Größe, sowohl Gott als auch die Menschen um Verzeihung zu bitten. Die Kirche war zur Offenheit in Bezug auf die Fehler ihrer eigenen Söhne und Töchter fähig.“

„Die Zeit heilt die Wunden, wie auch der gute Wille, und keiner kann an dem guten Willen zweifeln, der von der ausgestreckten Hand und dem Herzen des Papstes ausgeht.“