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Don Giussani - Der fünfte Todestag
Das Samenkorn unter dem Sand
Michele Benetti

Der bekannte italienische Journalist Luciano Di Pietro gehörte zu den ersten Mitgliedern der Bewegung, die nach Brasilien in die Mission gingen. Dort erlebte er früh die Studentenrevolution und es kam zum Bruch. Doch ließ ihn die erste Begegnung als Jugendlicher von CL nicht mehr in Frieden...

Die Bewegung besteht aus Personen, die sich zusammen getan haben, um die Verheißung von Christus zu überprüfen: „Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen“. Luciano Di Pietro war einer der ersten Aktiven der Bewegung, die nach Brasilien in die Mission gingen. Heute ist er ein bekannter Journalist. Die Verheißung brachte er stets mit der Gemeinschaft in Verbindung, die Don Giussani ins Leben gerufen hat. „Ich will jetzt nicht den Eindruck erwecken, einer der Apostel zu sein, aber ich erinnere mich durchaus an die Uhrzeit und den Ort meiner ‚Berufung‘. Es war um halb vier an einem Nachmittag im Sommer 1960. Ich war in der zehnten Klasse am Gymnasium. Ein Freund lud mich zu einem Treffen nach Varigotti ein. Es war ein Platz freigeworden. Was soll ich sagen? Ich war beeindruckt von einem Priester, den ich das erste Mal sah, von seinen Worten, von den Zeiten der Stille, von den Liedern, von den Wanderungen zum Turm am Meer, von der ‚Aufmerksamkeit dem anderen gegenüber‘, wie es damals hieß…Das dies alles eine Begegnung mit Christus war, konnte ich nicht wissen. Sagen wir mal, es war eine Begegnung mit einer zärtlichen Zuneigung. Seitdem ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Mit allen Höhen und Tiefen, mit Nebel und Licht, mit Flüstern und Schreien – Christus ist mir immer näher gekommen, er hat mich nicht mehr in Frieden gelassen. Oder besser gesagt, er hat uns nicht mehr in Frieden gelassen, nicht mich und nicht meine Frau Luisella, die ich ein Jahr nach diesem Treffen am Gymnasium kennenlernte. Wenn ich eine gewisse Nostalgie verspüre, dann dass die Umstände und unsere Neigung dazu geführt haben, dass wir etwas einsam leben. Dadurch bleibt die Erfahrung, die der Psalmist ausdrückt: ‚Süß und lieblich ist es dass die Brüder gemeinsam leben‘ ein Stück weit Sehnsucht.“
Wenn man von diesen jungen Leuten hört, die 1964 nach Südamerika aufbrachen, kann man Gefahr laufen, bei diesem Moment stehen zu bleiben, und dadurch vielleicht das Beste zu vergessen, nämlich das was danach geschah. Dennoch ist es beeindruckend. Jugendliche im Alter von 18 Jahren, die gerade erst Don Giussani kennen gelernt hatten, entschlossen sich, alles aufzugeben und aufzubrechen. „Nicht einmal drei Jahre nach jener Begegnung in Varigotti, es war im Sommer 1963, mit einer Chuzpe, die nur dem Hauch des Heiligen Geistes zuzuschreiben ist (und der schweigenden Großzügigkeit meines Vaters, der mir die Überfahrt bezahlte), schloss ich mich einer unglaublichen Reisegruppe nach Brasilien an. Es fuhren: Don Giussani höchstpersönlich, der Maler William Congdon, Maretta Campi und Marcello Candia, der heute kurz vor der Seligsprechung steht. Ich war ein 18-jähriger Jugendlicher, redete nicht viel und hörte zu, weil es sich oft lohnte. Don Giussani entdeckte, Brasilien und baute immer engere Beziehungen mit Persönlichkeiten dieses Landes auf, wobei er schon vorher Kontakte besaß, die ich natürlich nicht kannte.“
Der Bischof von Belo Horizonte wünschte sich eine Präsenz der Bewegung. „So brachen wir im Januar 1964 zu dritt auf: Pigi Bernareggi, Paolo Padovani und ich. Unser Ziel war das Priesterseminar, wohin uns schon Alberto Antoniazzi vorausgegangen war. Und es gab die Fraktion der Laien, mit den Mädchen Nicoletta, Lidia und Mariarita. So begann das Abenteuer. Es war sicherlich eine sehr gewagte Entscheidung. Der Schwung des Anfangs trug eine Großherzigkeit die nicht in jeder Hinsicht dem Rat der Umsicht folgte. Wir kamen also Anfang 1964 an. Im April wachten wir eines Morgens auf und befanden uns mitten im Militärputsch.“

Eine Mönchsrüstung

Die ursprüngliche Verheißung wurde in dieser schwierigen Umgebung sofort einer starken Belastungsprobe ausgesetzt. „Ein Priesterseminar im Brasilien der 60er Jahre war etwas, das zwischen Tradition und Revolution stand: Zwischen dem kolonialen Barock aus ästhetischer Sicht und dem Fehlen jedweder Klarheit hinsichtlich des christlichen Vorschlags. Wir versuchten ihn unter uns von der Bewegung lebendig zu halten. Wir wollten die Erfahrung, die uns dorthin gebracht hatte, weiterführen, aber als Gruppe, als Gemeinschaft sind wir daran gescheitert. Wir hätten dafür eine Mönchsrüstung gebraucht. Der einzige, der es geschafft hatte, der ursprünglichen Erfahrung treu zu bleiben, war Pigi Bernareggi, der immer die Konstitution eines Zisterziensers hatte. Er ging in die Mission aus heiligem Gehorsam. Man hörte in jenen Tagen Slogans wie „Lass uns erst das Brot und dann Christus geben!“. Wir haben uns unserer Intuition widersetzt. Instinktiv war unsere Lehre tatsächlich das genaue Gegenteil: „Christus wird irgendwie dafür sorgen, dass es Brot gibt.“ Nur in Christus ist jene Einheit möglich, durch die Brot und Gott dasselbe sind. Die Eucharistie bedeutet genau das. Aber unser kleines Samenkorn wurde von der unfruchtbaren Erde jener Widersprüche verschüttet. Ein scheinbar banaler Umstand berührte mich in besonderer Weise: Wir drei erkrankten an Amöbenruhr und dank der Bewegung wurden wir im Krankenhaus der Reichen behandelt. Die Brasilianer, die daran erkrankten, schleppten sie ihr ganzes Leben mit sich herum, wenn sie nicht sogar daran verstarben. Unter diesen Umständen erschien mir das wie ein unüberwindlicher soziologisch-anthropologischer Unterschied: Die Unmöglichkeit, wirklich zu teilen. Letztlich war es Stolz. Die Heiligkeit als Anspruch.“ Jenes prophetische Samenkorn schien völlig zu verschwinden.
In Brasilien erleben die Jugendlichen der Bewegung mit einer unglaublichen Dramatik, was die ganze Bewegung 1968 einige Jahre später durchmachte. „Als ich nach Italien zurückkam schien es mir, als ob ich unter Dilettanten der Revolution geraten war, die Räuber und Gendarm spielen.“
Nach Italien zurückgekehrt, auch in großen persönlichen Schwierigkeiten und auf der Suche nach einem neuen Weg, oder besser gesagt, im Hören auf eine andere Berufung, spürte Luciano, dass die Beziehungen zu vielen aus der Bewegung brüchig wurden. Wenn er das erzählt, spürt man den Grimm. Es blieb die Umarmung durch Don Giussani. „Es ist schwer nicht zu richten und nicht gerichtet zu werden. Giussani schaffte das und betrachtete das Samenkorn, das erstorben schien, wie das Senfkorn des Evangeliums: Es war dabei, im Verborgenen neues Leben entstehen zu lassen. In ihm gab es eine Öffnung zum anderen, die ich nicht anders als kindlich zu definieren wüsste: ‚Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…‘ Denn jeder Mensch war für ihn eine unbegrenzte Möglichkeit. Er traf nie jemanden, ohne etwas nach Hause zu bringen. Er war in der Lage, sich in die Person selbst zu versetzen. Er beurteilte den anderen nicht nach dem, was er hätte werden sollen, um sich einfach eine ‚heilige‘ Bestätigung zu holen. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, war die Umarmung dieselbe wie früher.“
Bei einem Interview mit Don Giussani für das Schweizer Fernsehen stellte Luciano Di Pietro seinerzeit selbst die Fragen und er nutzte es um ihn zu provozieren: „Würden Sie den wohlbekannten Satz unterschreiben: ‚Ich bin nicht einverstanden mit keiner Deiner Ansichten, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass du sie äußern darfst’?“. Giussani zögert nicht: „Vollkommen. Ich würde sofort einen Satz wie diesen unterzeichnen. Übrigens ist auch der Herr für unsere Freiheit gestorben, auch für die Freiheit, Fehler zu machen, zu sündigen.“

So präsent, dass man mit ihm kämpfen kann.

Ich hatte bisher nie verstanden, warum Don Giussani bei dieser Aufnahme Tränen in den Augen hatte. Er sprach mit einem, den er nach Brasilien geschickt hatte und der sich anscheinend von der Bewegung entfernt hatte. Das ist also das Maß der Liebe von Don Giussani für seine Kinder – die Barmherzigkeit. „Ich muss zugeben“, sagt Di Pietro, „dass ich so eine Sehnsucht nach dieser Gemeinschaft hatte, als ob das nie zu Ende gegangen wäre, auch wenn ich sie erst in den letzten Jahren, zumindest von meinem Inneren her, wieder gewonnen habe.“
Ja, aber das beste musste noch kommen und soll noch zu Ende erzählt werden. Es geschah in der Tat etwas noch Geheimnisvolleres. Der einzige Sohn von Luciano und Luisella, Lorenzo lernte die Bewegung kennen, sicher auch aufgrund der Faszination durch die Erzählungen seines Vaters. Am Ende hat er sogar seine Berufung entdeckt. Er wollte als Priester in die Mission gehen, für die Priesterbruderschaft San Carlo Borromeo. Gott ist wirklich beharrlicher als alle. „Am Anfang habe ich gesagt: ‚Jesus nervt wirklich bis zum Schluss!‘ Gott verfolgt einen, er hat auch Sinn für Humor, aber meint es immer ernst. Als Liebe ist er voller Freude, aber er ist gründlich. Und er ruft sich in Erinnerung, indem er einen Sohn beruft. Ich bin verheiratet und kann nicht alleine entscheiden. Meine Ehefrau ist wie eine Frau aus dem Alten Testament, ganz fleischlich, temperamentvoll. Den Segen Gottes zu spüren, heißt die Kinder und Enkelkinder aufwachsen zu sehen. Ihr hatte das nicht gefallen. Sie ist eine Person, die das Recht hat, mit Gott zu hadern, so wie Jakob. Das ist das eindeutige Zeichen, dass es Gott in ihrem Leben gibt. Gott ist für sie so gegenwärtig, dass sie gegen ihn kämpfen kann, wobei sie schon weiß, wer am Ende Sieger bleibt. Die Berufung von Lorenzo ist wirklich so ein Kampf gewesen. In jenen Augenblicken war es wirklich ein Riss. Diese so konkrete, eindeutige und radikale Geste war eine Art Überraschung für mich, der ich meinte, verstanden zu haben und eine Wunde für meine Frau, die sich wie die Juden des Alten Testamentes in ihrer eigenen Leiblichkeit angegriffen fühlten, gezwungen von einem höheren Willen. Ich bete darum, dass für sie immer mehr Wahrheit wird, was ihr ein alter und weiser Priester sagte (eine Gattung, die vom Aussterben bedroht ist): ‚Es ist wirklich so: Wenn Gott ein Kind nimmt, setzt er sich an seinen Platz’.“
Die ganz physische Barmherzigkeit Gottes ist verblüffend. Es gibt einen roten Faden, der diesen jungen Mann, der mittlerweile zum Diakon geweiht wurde mit dem Leben seines Vaters verbindet, der schon mit 18 Jahren vor Sehnsucht brannte, das Abenteuer Christi allen mitzuteilen. „Es ist beeindruckend zu sehen wie auch in der Form der Mission, die wir in Brasilien lebten, es in nuce genau das ist, was heute Lorenzo in Köln erlebt: Das gemeinschaftliche Leben, eine ganz bestimmte Art Mission zu verstehen, die Bischöfe die immer stärker das Bedürfnis einer lebendigen Gegenwart der Bewegung verspüren. Das Korn starb damals, um heute Frucht zu tragen. Jetzt verstehe ich, dass es nur ein scheinbarer Widerspruch war: Es lag unter dem Sand, um wie ein ausgetrocknetes Flussbett wieder Wasser zu tragen.“ Nötig ist nur die Geduld der Treue. Gott schreibt wirklich gut auf unseren krummen Zeilen gerade.