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Nach dem Beben
Was auf Haiti zukommt
Stefano Zurlo

Seit dem Erdbeben richten sich alle Scheinwerfer auf die Karibik-Insel. Doch der Notstand herrscht hier seit einem halben Jahrhundert. Schon seit vielen Jahre setzt das CL-nahe Hilfswerk AVSI auf eine „Würde, die es wiederzuentdecken gilt“ und auf eine Präsenz, die Hoffnung zu bringen vermag.

Mit dem Erdbeben haben die Medien Haiti wieder entdeckt. Plötzlich sind sie auf dieses unglückselige Land aufmerksam geworden. Und auf jene, die seit Jahren das dortige Drama teilen, wie die Freiwilligen von AVSI. Die CL nahestehende internationale Hilfsorganisation ist seit 1999 auf der Insel tätig. Seit dem Tag des Bebens berichtet die Italienerin Fiammetta Cappellini täglich im Internet über die Präsenz und das Zeugnis der Hilfsorganisation. Zugleich war und ist dies auch eine Hilfe für die Bewohner und die ausländischen Rettungskräfte, weil Fiammetta und ihre Mitarbeiter das Land und die Bedürfnisse der Menschen bestens kennen. Im Unterschied zu den andern.
„Obwohl auf Haiti schon seit einem halben Jahrhundert größte Not herrscht,“ erklärt der Generalsekretär von AVSI, Alberto Piatti. „Zwischen 1962 und 1963 hat der amerikanische Präsident Kennedy eine Agentur gegründet, um diesem unglückseligen Land, das unter einer schrecklichen Hungersnot litt, zu helfen.“ Von da an reihte sich eine Katastrophe an die andere: Diktatoren, Wirbelstürme, und jetzt das Erdbeben. Nun wollen plötzlich alle so schnell wie möglich auf die Insel, aber was dann? „Eigentlich,“ fährt Piatti fort, „ ist das Beben der Notstand im Notstand, doch jetzt stehen wir am Scheideweg: Es muss sich endlich etwas ändern.“
Die Lage ist dramatisch: Nach Regierungsangaben kam bei dem Beben weit über 200.000 Menschen um. Mehrere Millionen sind Obdachlos. Viele Kinder verloren ihre Eltern und irren umher. Die Katastrophe von Haiti ist unbeschreiblich. Doch gerade darum bedarf es einer nüchternen Analyse ohne leere Phrasen.
Maria Teresa Gatti, die Verantwortliche von AVSI für Lateinamerika und die Karibik, sagt dasselbe: „Die Stunde der Entscheidung ist gekommen.“ Aber worüber? „Haiti wird von Hilfe überschwemmt, von Marines, von Soldaten aus aller Welt. Gut, sehr gut. Doch jetzt muss man endlich über die Fehler der Vergangenheit nachdenken.“
Man sollte endlich ein immer wiederkehrendes Muster durchbrechen, meint Gatti. „Die Söldner der Menschlichkeit machen ihre Arbeit hervorragend, helfen der leidtragenden Bevölkerung, verteilen Material und Nahrungsmittel, aber sie ersetzen nicht den Wiederaufbau.“

DREI REISERNTEN IM JAHR. Nach Überzeugung von Avsi muss den Menschen in Haiti endlich geholfen werden, das Schicksal ihres Landes selbst in die Hand zu nehmen. Das klingt nach einem Slogan, ist aber der Schlüssel zum Jahre Null dieser vom Unglück verfolgten Republik. „Wir geben den Menschen auf Haiti Soforthilfe, Nahrung, Trinkwasser und Brennstoff, damit sie selbst zurecht kommen.“ Für Haiti gibt es nur dann eine Hoffnung, wenn das Land lernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Selbst die Ärmel hoch zu krempeln, selbst an das eigene Morgen zu denken. Endlich eine eigene Zukunft zu erträumen. „Die Haitianer,“ so Gatti, „sind schon viel zu lange den Geschehnissen ausgeliefert. Und jetzt hat sie noch dieses schreckliche Erdbeben ereilt. Dieses Mal ist das Unglück aber viel zu groß, um einfach wie die anderen Male von selbst zu vernarben. Diesmal braucht es einen Schritt nach vorne.“ Die Talsohle ist erreicht, nun kann es endlich bergauf gehen. Aber wie? „Lebensmittelpakete und Flugzeugträger reichen bestimmt nicht aus,“ erwidert Piatti. Was also?
Piatti und Gatti gehen einen Schritt zurück: „Wir sind nun seit elf Jahren in Haiti tätig. Unsere Leute arbeiten in zwei Slums von Port-au-Prince, unterrichten, erziehen, machen Jugendarbeit, und wir sind in einem landwirtschaftlichen Versuchsbetrieb in Les Cayes, im Südwesten des Landes tätig, wo Bauern ausgebildet werden und eine Wasserleitung gebaut wird. Es geht darum, diese Personen zu begleiten, damit sie ihre eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten ausschöpfen.“
Sozialökonomisch ausgedrückt: mehr Arbeit, mehr Bildung, mehr Schulen, mehr Kindergärten und Berufsschulen. Gatti macht ein Beispiel: „In Les Cayes haben wir gezeigt, dass man den Reis dreimal im Jahr pflücken kann. Das wäre eine Revolution. Denn heute importiert Haiti 60 Prozent des eigenen Agrarbedarfs, davon großenteils Reis.“ Kurz und gut, das Erdbeben hat einem System, das ohnehin nicht funktioniert hat, endgültig den Rest gegeben. Nun kann die ungeheure und unvorhergesehene humanitäre Anstrengung in den Dienst dieses Neuanfangs gestellt werden. „In jedem Menschen steckt eine angeborene Würde. Diese Würde gilt es auszugraben, indem neue Generationen herangebildet werden und neue, stärkere zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Netze entstehen.“

„WIR BLEIBEN AUCH MORGEN NOCH“ . Heute ist die Kriminalität in den Slums der Hauptstadt äußerst hoch. Ebenso die Kindersterblichkeit, die Unterernährung, der Zerfall der Menschlichkeit. „Es nützt nichts, die Haitianer mit Essen zu überschwemmen: Sicherlich brauchen sie Nahrung, aber das allein wird ihre Probleme nicht lösen. Was sie jetzt brauchen, ist Bewusstsein, Hoffnung, den Wunsch nach Veränderung. Und wir müssen ihnen den richtigen Weg zeigen zu Erziehung, Arbeit, im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.“ Das Beispiel des Reises könnte Schule machen. Es könnte auch auf den Kaffee angewandt werden, auf den Kakao und in Zukunft sogar auf den Tourismus. Andernfalls wiederholt sich das gleiche Desaster: Der Ansturm Wohlgesinnter aus der ganzen Welt wird, wenn auch mit der unvermeidlichen Portion Verwirrung und Oberflächlichkeit, für eine Weile die Insel füllen, die Bagger in Gang halten, ein paar Infrastrukturen auf die Beine stellen. Das ist für ein Land, dem alles fehlt, natürlich mehr als willkommen, aber dann werden wie immer alle abziehen. Und die Insel wird wieder ihren Ausbeutern überlassen: dem Hunger, der Gewalt, der schlimmsten Misere, die sogar für afrikanische Standards extrem ist. Mit dem zynischen Unterschied, dass die Hauptstadt Port-au-Prince nur eineinviertel Flugstunden von Miami und dem ultrazivilisierten Amerika entfernt ist.
„Wir waren vor der Katastrophe hier,“ fährt Gatti fort. „Wir waren am Tag des Bebens mit unseren Leuten in Haiti, und wir werden auch morgen hier sein. Und wir werden mit unserer Arbeitsmethode weitermachen, ohne Anmaßung, sondern auf unserer Erfahrung aufbauend.“ Das bedeutet weiterhin eine Präsenz mitten unter den Ärmsten der Armen in der Hauptstadt zu leben, die Landwirtschaft ausbauen, vor allem aber offene Arme für die Kinder zu haben, die in äußerster Not leben. Ein Kind sagte zu Fiammetta: „Bitte, komm morgen wieder, wenn du kannst, ich spüre, dass wenigstens du mich lieb hast.“ Natürlich haben wir alle Kinder von Haiti gern, aber einmal mehr muss das Gefühl dem Respekt und dem Realismus weichen. „Es ist jetzt wichtig, dass die Kinder, die seit Monaten oder gar Jahren in den Waisenhäusern darben, endlich eine Familie finden,“ meint Gatti. „In Frankreich, den USA, aber auch in Italien. Dann sind da aber noch die anderen, die Mehrheit. Es braucht jetzt ruhig Blut, denn die Lage verändert sich täglich. Und viele Kinder, von denen man glaubte, sie seien verwaist, haben bereits einen Elternteil oder Verwandte wiedergefunden. Wir haben über tausend internationale Patenschaften, das kann man noch ausbauen. Mit 312 Euro im Jahr kann man einem dieser Kleinen die Zukunft sichern. Wir wollen mit der Zeit unsere Projekte in enger Zusammenarbeit mit der Bevölkerung weiterführen, mit den Erwachsenen und den Kindern. Wer kann, wer unsere Arbeit schätzt und unseren Wunsch, mit den Haitianern zu teilen, der kann uns helfen. Blind Nahrungsmittel und Geld schicken hat keinen Sinn, außer man will romantische Illusionen. Wir müssen uns mit den Haitianern zusammentun, ihnen helfen, sich selbst zu helfen. Das ist der Weg, um diesem Land, das endlich leben will, eine Chance zu geben.“