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Aufmacher
Was Liebe bedeutet. Kann man sie auch heute leben?
Julián Carrón

Vorstellung des dritten Bandes von Is It Possible to Live This Way? mit dem Titel Charity (Dublin, 7. Januar 2010; New York, 17. Januar 2010; Montreal, 18. Januar 2010)

Mit diesem dritten Band (Is It Possible to Live This Way? Vol. 3 Charity, Mc. Gill-Queen\\'s University Press, Montreal 2009) liegt nun die vollständige englischsprachige Ausgabe des Buches Kann man so leben? von Don Giussani über die drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe vor. Wie schon mit den ersten beiden Bänden liegt uns damit ein weiteres Beispiel für einen Dialog über die Natur der christlichen Erfahrung vor, wie sie in der Dynamik des Alltagslebens sichtbar wird. Bei Giussani sind Glaube, Hoffnung und Liebe nämlich nicht Worte, die die menschliche Erfahrung von außen überlagern, sondern sie prägen das Ich in der Weise, wie es sich seiner selbst bewusst wird, und erheben den „Anspruch“, auf das Problem des Lebens zu antworten. Denn heute steht vor allem das auf dem Spiel: dass das Leben es wert ist, dass man die Mühen im Leben auf sich nimmt. In diesem Buch lässt uns Don Giussani den Wert von Worten, die das Leben erklären, neu entdecken, da deren ursprüngliche Bedeutung beim Menschen schon allzu lange in Vergessenheit geraten ist und sie sie daher als abstrakt oder als unnötige Last ansehen.

Deshalb genießen in unserer Zeit Worte wie „Zuneigung“ oder „Liebe“ keinen guten Ruf. Oder besser gesagt, wir erleben den Siegeszug verkürzter Bilder dieser Worte, die im Einklang mit den Interessen der Machthaber stehen: sei es als Sentimentalismus – jemanden lieben und Gutes tun, weil man Lust dazu hat –, sei es als Moralismus – jemanden lieben und Gutes tun, weil man muss. Hinter diesem Wort kann sogar der Wunsch stecken, sich selber in Szene zu setzen, was dann die Frage aufwirft, ob der gute Wille einem echten Interesse für den anderen oder eher einem schlecht vertuschten Egoismus entspringt.

Gerade Benedikt XVI. hat in seiner ersten Enzyklika vor der Gefahr der Zweideutigkeit gewarnt, wenn von Zuneigung und Liebe die Rede ist: „Das Wort ‚Liebe‘ ist heute zu einem der meist gebrauchten und auch missbrauchten Wörter geworden“ (Deus caritas est, 2).

Diese Klippe ist schwer zu überwinden, wenn wir nicht bereit sind, aus der Erfahrung zu lernen, die wir alle wenigstens einmal im Leben gemacht haben: der Erfahrung, Empfänger eines Aktes der Ungeschuldetheit zu sein. Man trifft oft Leute, die an der Existenz des Guten zweifeln und es auf Faktoren wie den eigenen Vorteil, Bequemlichkeit, Gewohnheit und dergleichen verkürzen. Wenn wir aber die Erfahrung einer ungeschuldeten Liebe machen, hält keine dieser Deutungen der Erfahrung stand. Wenn dem schon so ist, wenn wir vor einer nicht von eigenen Interessen geleiteten Handlung eines anderen Menschen stehen, wie wird das dann erst aussehen, wenn wir es mit einer Geste der Liebe Gottes zu uns zu tun haben? Eben deshalb stellt der Papst fest, dass „die Liebe Gottes zu uns eine Grundfrage des Lebens ist und entscheidende Fragen danach aufwirft, wer Gott ist und wer wir selber sind“ (ebd.).

Beginnen wir mit der zweiten der beiden Fragen (wer sind wir?); versuchen wir zu verstehen, wie weit die Liebe Gottes für uns eine Grundfrage ist. Wir können die Wahrheit nicht verstehen, ohne uns über unsere bedürftige Natur klar zu werden. Diese tritt in der Beziehung zu allem zutage: nichts genügt uns.

1. „Woran mangelt es bei diesem Mangel?“

Der italienische Dichter Mario Luzi beschreibt ganz unübertroffen, worin diese Natur besteht: „Woran mangelt es bei diesem Mangel, / mein Herz, / von dem du plötzlich so voll bist? / Woran? / Ist der Damm einmal gebrochen, / so überschwemmt und überflutet dich / die Flut deines Elends … / Es kommt, / es kommt vielleicht / von außerhalb von dir / ein Ruf, / den du jetzt in deiner Qual nicht hörst. / Aber es gibt ihn; die ewige Musik / bewahrt seine Stärke und sein Lied … er wird wiederkehren. / Sei ruhig.“ („Di che è mancanza …“, in: Sotto specie umana, Garzanti, Mailand 1999, S. 190)

Die Natur dieses Mangels wird offenbar, wenn wir darauf zu antworten suchen. Diverse Genüsse sind oft der erste Versuch, die Leere dieses Mangels zu füllen. Aber uns erwartet eine Überraschung, die der italienische Dichter Cesare Pavese so auf den Punkt bringt: „Was der Mensch in den Genüssen sucht, ist ein Unendliches, und niemand würde jemals die Hoffnung aufgeben, diese Unendlichkeit zu erringen.“ (Il mestiere di vivere, Einaudi, Turin 1973, S. 190)

Wo aber erwarten wir für gewöhnlich, eine Antwort auf der Höhe unserer Sehnsucht zu finden? In der Liebe. An den Grund dieser unserer Hoffnung auf die Liebe erinnert uns wiederum der Papst: „[Es] erscheint aber doch die Liebe zwischen Mann und Frau, in der Leib und Seele untrennbar zusammenspielen und dem Menschen eine Verheißung des Glücks aufgeht, die unwiderstehlich scheint, als der Urtypus von Liebe schlechthin, neben dem auf den ersten Blick alle anderen Arten von Liebe verblassen“ (Deus caritas est, 2). Deshalb erklärt nichts anderes das Geheimnis unseres Daseins besser als die Beziehung zwischen Mann und Frau.

Es handelt sich um genau die Erfahrung, die der italienische Dichter Giacomo Leopardi auf unvergessliche Weise in einem seiner Gedichte zum Ausdruck bringt: „Ein Strahl des Göttlichen erschienst du mir, / o Weib, in deiner Schönheit.“ (Aspasia, in: Dialoge, Gesänge und andere Lehrstücke. Zibaldone, aus dem Ital. von Hanno Helbing, Winkler, München 1978, S. 204 f.) Die Schönheit der Frau nimmt der Dichter als göttlichen Lichtstrahl, als Gegenwart des Göttlichen wahr.

Die Schönheit der Frau ist ein Zeichen, das über sich hinausweist, auf etwas Größeres hin, etwas Göttliches, etwas, das in keinem Verhältnis zu seiner begrenzten Natur steht, wie es Romeo in Shakespeares Drama sagt: „Zeigt mir ein Weib, unübertroffen schön: / Mir gilt ihr Reiz wie eine Weisung nur, / Worin ich lese, wer sie übertrifft.“ (Romeo und Julia, 1. Akt, 2. Szene, aus dem Engl. von August Wilhelm Schlegel, Projekt Gutenberg)

Das macht die Größe des Menschen aus: „Wenn nichts auf dieser Erde, ja bildlich ausgedrückt selbst die ganze Erde uns nicht zu beglücken vermag; wenn wir die unergründliche Weite des Raumes, die erstaunliche Zahl und Größe der Welten betrachten und zu dem Ergebnis gelangen, dass das alles, verglichen mit der Denkkraft der eigenen Seele, klein und unbedeutend ist; wenn wir uns die unendliche Zahl der Welten und das All selbst vorzustellen versuchen und fühlen, dass unser Geist und unsere Sehnsucht noch viel größer sind als eben dieses Universum; und wenn uns das Ganze noch immer ungenügend vorkommt und wir Mangel und Leere und darauf Langweile spüren, so dünkt mich, es könne keinen klareren Beweis für die Großartigkeit und den Adel der menschlichen Natur geben.“ (Pensieri LXVIII, in: Leopardi, G., Gedichte und Prosa, Insel, Frankfurt a. M. 1979, S. 177 f.)

Angesichts der Erfahrung, dass nichts mit den Sinnen Wahrnehmbares der unendlichen Weite unserer Sehnsucht entspricht und wir gleichzeitig nicht imstande sind, uns dieser Sehnsucht zu entledigen, versuchen wir unweigerlich früher oder später, auf diese Leere mit einem Besitz zu antworten, der notwendigerweise von Gewalt und Anspruch geprägt ist. Demnach wären wir dazu verdammt, im Skeptizismus zu enden und die Hoffnung zu verlieren, dass es etwas gibt, das auf unsere Sehnsucht antworten könnte.

Aber gleichsam aus dem Innersten des Menschen steigt eine ersehnenswerte Möglichkeit auf: „Etwas Unvorhergesehenes / ist die einzige Hoffnung. Aber man sagt mir, / es sei eine Torheit, das zu behaupten.“ (E. Montale, Prima del viaggio)

Nun gut: dieses Unvorhergesehene hat sich ereignet.

2. „Christus zieht mich ganz an in seiner Schönheit.“

Wir sind aufgrund unserer Tradition ziemlich daran gewöhnt, von der Liebe Gottes reden zu hören. Deshalb fällt es uns schwer, uns der Neuheit bewusst zu werden, die das Christentum in die Welt des Altertums brachte. Diese Welt könnte man mit modernen Worten als ‚multikulturell‘ bezeichnen: es gab Raum für jedwede Religion und Götterwelt, an einer Vielfalt der Kulte fehlte es nicht.

Umso sensationeller erscheint die Art und Weise, wie das Christentum in seiner Neuheit sofort aufgenommen wurde, was an seiner erstaunlichen und unaufhaltsamen Verbreitung klar zu erkennen ist. Was brachte es an Neuem, an Faszinierendem? In den Religionen des Altertums interessierten sich die Götter nicht sonderlich für die Menschen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In den Religionen des Zweistromlandes hatten die Götter die Menschen geschaffen, damit sie selbst sich der Arbeit entledigen konnten – und dann soll sie deren Geschick interessiert haben? Das Gemeinsame dieser Religionen bestand darin, dass die Gottheiten nicht lieben konnten, denn der einzig bekannte Begriff von Liebe war Liebe im Sinne des Begehrens (eros). Anzunehmen, dass die Götter Begehren – eros – empfinden könnten, hätte bedeutet, sie hätten einen Mangel gehabt, was mit ihrer Natur als vollkommene Götter unvereinbar gewesen wäre.

In dieses Umfeld bricht das Christentum ein und enthüllt Gottes Natur, indem es eine neue Bedeutung von „Liebe“ einführt: die ungeschuldete Liebe (caritas).

Das erste Zeichen dieser Liebe ist das Geschenk des Seins. Das Herz des Menschen – sofern es einfach und aufrichtig ist – kann das erkennen: „Deshalb ist das, was der Mensch als allererstes wahrnimmt das, vor einer Wirklichkeit zu stehen, die nicht die seine ist, die unabhängig von ihm besteht und von der er abhängt. Empirisch gesprochen ist es die ursprüngliche Wahrnehmung eines Gegebenen. […] ‚gegeben‘ […] schließt etwas mit ein, das ‚gibt‘. Das Wort, das den Ausdruck ‚gegeben‘, und somit den primären Gehalt des unmittelbaren Zusammentreffens mit der Wirklichkeit in eine vollständig menschliche Ausdrucksweise übersetzt, ist das Wort Gabe“ (L. Giussani, Der Religiöse Sinn, Bonifatius, Paderborn 2003, S. 122). Nun befinde auch ich selbst als Person mich offenbar innerhalb dieser gegebenen, geschenkten Wirklichkeit, und daher kann die Vernunft, wenn sie gemäß ihrer wahren Natur als Verlangen nach einem umfassenden Sinn benutzt wird, nicht anders als zu dem Schluss zu kommen: „Wenn ich aufmerksam, das heißt reif bin, dann kann ich nicht bestreiten, dass die stärkste und tiefste Einsicht für mich darin besteht, dass ich mich nicht aus mir schaffe, mich jetzt nicht selber mache. Ich gebe mir das Sein nicht, auch die Wirklichkeit nicht, die ich bin; ich bin mir ‚gegeben‘. Dies ist der Augenblick der Reife, in dem ich mich selbst als von etwas Anderem abhängig entdecke. Wenn ich in mich hinabblicke, bis auf den Grund, woher komme ich? Nicht aus mir selbst, aus anderem. Ich erfahre mich als Strahl, der einem Springquell entspringt. Es gibt da etwas Anderes, das mehr ist als ich und das mich hervorbringt. Wenn das aus einer Quelle fließende Wasser denken könnte, es würde auf dem Grund seines immer frischen Hervorsprudelns einen Ursprung wahrnehmen, den es nicht kennt; etwas von ihm Verschiedenes. Es handelt sich hier um eine Einsicht, zu der der menschliche Geist in seinen scharfsinnigsten Ausprägungen im Laufe der Geschichte immer wieder gekommen ist, nämlich die Intuition jener geheimnisvollen Wirklichkeit, die den Bestand seines flüchtigen Daseins, seines Ichs erst ermöglicht. Ich bin ‚der-Du-mich-schaffst‘. Nur ist dieses ‚Du‘ noch gänzlich ohne Antlitz, und doch verwende ich dieses Wort ‚Du‘, weil es in meiner menschlichen Erfahrung das am wenigsten unangemessene ist, um jene unbekannte Gegenwart zu bezeichnen, die unvergleichlich über meine menschliche Erfahrung hinausreicht. Was für ein anderes Wort sollte ich sonst verwenden? Wenn ich auf mich selbst schaue und erkenne, dass ich mich jetzt, in diesem Augenblick nicht selbst schaffe, dann kann ich – ich mit all dem Bewusstsein und der Zuneigung, die in diesem Wort mitschwingt – mich jenem Ding, das mich schafft, jener Quelle, aus der ich in jedem Augenblick hervortrete, nicht anders als mit dem Wort ‚Du‘ zuwenden. ‚Du, der du mich schaffst‘ ist das, was die religiöse Überlieferung Gott nennt; das, was mehr ist als ich, was mehr Ich ist als ich selbst; das, aufgrund dessen ich bin. Darum steht in der Bibel, Gott sei ‚tam pater nemo‘: so Vater wie keiner.“ (ebd., S. 127)

Diese einfache Erkenntnis würde schon ausreichen, damit der Mensch sich inmitten der Wirklichkeit nicht allein fühlen muss. Er könnte im Bewusstsein eines Gottes leben, der so sehr Vater ist. Aber wie oft lebt der Mensch, da er diese grundlegende Erkenntnis vergisst, wie ein Waisenkind.

Die Vergesslichkeit des Menschen im Laufe der Jahrhunderte führt nicht dazu, dass die Natur Gottes sich ändert. Im Gegenteil, diese Ferne wird zur Gelegenheit, dass er seine wahre Natur enthüllt. So wie die Mutter gezwungen ist, ihr ganzes Muttersein nach außen zu kehren, wenn das Kind dickköpfig ist, so vollzieht Gott im Laufe der menschlichen Geschichte eine Bewegung, welche die Ungeschuldetheit, die Seine Natur ausmacht, erneuert und tiefer bewahrheitet: In Christus schenkt Er sich selbst.

Don Giussani schreibt: „Die Natur Gottes zeigt sich dem Menschen als absolute Gabe: Gott gibt sich, er gibt sich selbst dem Menschen. Und was ist Gott? Die Quelle des Seins. Gott gibt dem Menschen das Sein; Er gibt dem Menschen die Möglichkeit zu sein. Er gibt ihm die Möglichkeit eines ‚Mehr‘, eines Wachstums. Er ermöglicht ihm, vollkommen er selbst zu sein, auf seine Vollendung hin zu wachsen. Mit anderen Worten: Er gibt dem Menschen die Möglichkeit, glücklich zu sein (glücklich, das heißt völlig zufriedengestellt oder vollkommen. Wie ich immer erläutert habe, werden im Lateinischen und Griechischen die Worte ‚vollkommen‘ und ‚zufriedengestellt‘ mit dem gleichen Wort bezeichnet: perfectus, das heißt vollkommen oder vollendet, zufriedengestellt ist ein vollendeter Mensch). Er hat sich mir hingegeben und mir das Sein geschenkt, das von ihm selbst stammt: ‚Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bilde, uns ähnlich.‘ Und dann, als der Mensch am wenigsten damit rechnete und es sich nicht einmal erträumen konnte, als er es nicht mehr erwartet hat und nicht mehr dessen gedachte, von dem er das Sein erhalten hatte, da kehrt dieser von neuem in das Leben des Menschen ein, um es zu retten. Er gibt sich ihm erneut hin, indem er für den Menschen stirbt. Er gibt sich völlig hin, eine vollkommene Hingabe seiner selbst, die in dem Satz gipfelt: ‚Eine größere Liebe hat niemand als die, dass er sein Leben für seine Freunde hingibt.‘ Eine vollkommene Hingabe“ (Kann man so leben?, Sankt Ulrich, Augsburg 2007, S. 246 f.).

Aber Don Giussani beschränkt sich nicht auf den objektiven Aspekt der Gabe seiner selbst, sondern fügt hinzu, dass diese Gabe seiner selbst ‚aus Ergriffenheit‘ erfolgt: „Aus Ergriffenheit. Das, was den zweiten Wesenszug dieser Gabe ausmacht – der erste war der wesentlichere, das heißt, dass es die Gabe seiner selbst ist –, wird nun [im Italienischen] durch ein Adjektiv zum Ausdruck gebracht: „ergriffen“; da sich ein Adjektiv als Adjektiv stets an ein Substantiv anlehnt und somit selbst geringeres Gewicht hat als das Substantiv, müsste das eigentlich bedeuten, dass diese Eigenschaft hier zweitrangig ist; und doch ist es so, dass dieses „Ergriffensein“ das Beeindruckendste daran ist. Und ich wette, dass wir nie daran gedacht haben und auch nie daran denken würden, hätte Gott uns nicht zusammengeführt. Warum widmet sich mir Gott höchstpersönlich? Warum gibt er sich mir hin, indem er mich schafft und mir das Sein schenkt, also sich selbst (er gibt mir sich selbst, also das Sein)? Warum wird er darüber hinaus Mensch und schenkt sich mir, um mir von neuem Unschuld zu verleihen […] und stirbt für mich (was überhaupt nicht notwendig war: er hätte nur einmal mit den Fingern schnipsen müssen, und der Vater hätte sofort alles getan)? Warum stirbt er für mich? Warum diese Hingabe seiner selbst bis an die Grenze des Vorstellbaren, bis über den Horizont des Vorstellbaren hinaus? An dieser Stelle empfehle ich euch, diesen Satz des Propheten Jeremia im 31. Kapitel, Verse 3 ff., nachzulesen und auswendig zu lernen. Durch die Stimme des Propheten, die sich in Christus verwirklicht (stellt euch die Leute vor, die mit diesem Menschen zusammen waren; mit diesem jungen Mann, in welchem sich all diese Dinge verwirklichten), spricht Gott: ‚Ich habe dich mit ewiger Liebe geliebt, daher habe ich dich an mich gezogen (das heißt, ich habe dich teilhaben lassen an meiner Natur), denn ich hatte Erbarmen mit deiner Nichtigkeit.‘ Ich habe diesen Satz immer so übersetzt. Aber was heißt das: ‚ich hatte Erbarmen mit deiner Nichtigkeit‘? Worum geht es hier? Um ein Gefühl, ein Gefühl! Um einen Wert, welcher sich als Gefühl mitteilt. Denn die Zuneigung ist ein Gefühl. Eine Zuneigung zu jemand zu haben, ist ein Gefühl, zugleich ist es aber auch ein Wert. Es ist in dem Maße ein Wert, in dem es einen Grund hat. Wenn sie von keinerlei Grund getragen ist, stellt jedwede Zuneigung noch keinen Wert dar, weil das Ich zur Hälfte fehlt. Das Ich ist auf Nabelhöhe durchtrennt: Es bleibt ein Rest übrig, und zwar der untere.“ (ebd. S. 248 f.)
Wer in der Lage ist, von der Liebe als einer „Gabe seiner selbst aus Ergriffenheit“ zu sprechen, der kann das nur dann tun, weil er selbst von dieser Ergriffenheit Jesu ergriffen ist: „Die Liebe Gottes zum Menschen ist eine Ergriffenheit. Sie ist Gabe seiner selbst, die sich als Gefühl zeigt, eine Unruhe in sich trägt, sich in Bewegung setzt und sich verwirklicht; in der Gestalt einer Ergriffenheit: Er ist ergriffen. Gott ist ergriffen! ‚Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?‘, so heißt es im Psalm“ (ebd., S. 250).
Don Giussani ist sich der immer wieder vorkommenden Möglichkeit einer Reduzierung auch dieses Aspektes wohl bewusst, genauso wie es Papst Benedikt zu Beginn seiner Enzyklika sagt; und er sagt dann weiter: „Aber man darf dabei eines nicht aus dem Blick verlieren: diese Rührung und dieses Gefühl tragen ein Urteil und ein Herzklopfen in sich. Es ist ein Urteil, daher hat die Rührung einen – sagen wir – vernünftigen Wert; nicht in dem Sinne, dass sie auf einen Horizont zurückgeführt oder reduziert werden könnte, zu dem unsere reine Vernunft fähig wäre, sondern vernünftig in dem Sinne, dass sie einen Grund hat, dass sie eine Vernünftigkeit in sich trägt. Und das Herzklopfen erwächst gerade aus dieser Vernünftigkeit. Die Gefühlsregung und die Ergriffenheit sind noch nicht Liebe, wenn darin nicht dieses Urteil und dieses Herzklopfen enthalten ist. Was ist der vernünftige Grund? ‚Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, daher gab ich dir Anteil an mir, denn ich hatte Erbarmen mit deiner Nichtigkeit‘: Das Herzklopfen ist das Erbarmen mit deiner Nichtigkeit, aber der Grund ist, dass du teilhaben mögest am Sein“ (ebd., S.253).
Das ganze Neue Testament spricht von diesem absoluten Vorrang der Liebe Gottes. Johannes sagt das in seinen Briefen mit großer Bestimmtheit: „Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat. Liebe Brüder, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben“ (1 Joh 4, 10f.) und dann später: „Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat“ (1 Joh 4, 19).
Das ist die Neuheit, die uns der Papst in seiner ersten Enzyklika in Erinnerung gerufen hat: „Das eigentlich Neue des Christentums sind nicht neue Ideen, sondern die Gestalt Christi selber, der den Gedanken Fleisch und Blut, einen unerhörten Realismus gibt“ (Deus caritas est, 12).
Diese ergriffene Liebe Gottes, die sich in Christus gezeigt hat, ist die einzige, die auf die bedürftige Natur des Menschen, auf seinen Mangel antworten kann. Deswegen fühlt sich der Mensch so angezogen von ihm, wie das Jacopone da Todi in dem Satz zusammenfasst: „Christus zieht mich ganz an in seiner Schönheit“. Die Schönheit hat Fleisch angenommen, und das Christentum ist gerade die Überraschung der Faszination, die sich angesichts der Anziehungskraft Christi ereignet, die auch die zwei ersten Jünger beeindruckt hat, Johannes und Andreas, die von dem Tag an, als sie ihm begegnet sind, zu den Seinen wurden. Wir wissen jetzt, warum sie ihm gefolgt sind, denn „die Liebe verweist auf den innersten und tiefsten Kern jener letzten Wirklichkeit, die wir im Glauben anerkennen“ (L. Giussani, Kann man so leben?, S. 243) und die heute die beeindruckt, die Ihm angehören. Es gäbe das Christentum nicht, wenn es nicht diese Überraschung gäbe, die kein Irrtum des Menschen verhindern kann.
Deswegen „heißt das erste Ziel der Zuneigung des Menschen Jesus Christus. Das erste Ziel der Zuneigung und der Ergriffenheit des Menschen heißt ‚Gott, der für uns Fleisch angenommen hat‘“ (ebd., S. 256). In der Tat weckt diese grenzenlose Liebe Gottes, die sich in Christus offenbart hat, die ganze Zuneigung des Menschen, der ihn bei sich aufnimmt. „Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2, 20). Ein Christ ist vollkommen von dieser Anerkennung bestimmt. Die Christen sind Leute, die das bezeugen: „Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen“ (1 Joh 4,16).
„Es ist diese Zuneigung zu Christus, diese ständige Überraschung angesichts der Hingabe seiner selbst aus Ergriffenheit, die das Geheimnis in unserer Geschichte wirkt und die mit der Zeit ein Subjekt hervorbringt, das in der Lage ist, sich für die Bestimmung jedes Menschen zu interessieren, nicht ideologisch, nicht mechanisch, sondern mit einer Leidenschaft, einer Nähe, als Hingabe seiner selbst aus Ergriffenheit, die den ursprünglichen Vorrang des Geheimnisses bezeugt“ (P. Martinelli). „Wenn Gott nicht Mensch geworden wäre, hätte niemand sein eigenes Leben nach dieser Gratuität, nach dieser Ungeschuldetheit ausrichten können, niemand von uns hätte es gewagt, sein eigenes Leben mit dieser Großzügigkeit anzuschauen“ (L. Giussani, L’io, il potere, le opere, Genua 2000, S. 132).
So versteht man den Beginn der jüngsten Enzyklika des Papstes: „Die Liebe in der Wahrheit, die Jesus Christus mit seinem irdischen Leben und vor allem mit seinem Tod und seiner Auferstehung bezeugt hat, ist der hauptsächliche Antrieb für die wirkliche Entwicklung eines jeden Menschen und der gesamten Menschheit“ (Caritas in veritate, 1). Warum? Weil „aus der Liebe Gottes alles hervorgeht, durch sie nimmt alles Gestalt an, und alles strebt ihr zu. Die Liebe ist das größte Geschenk, das Gott den Menschen gemacht hat, sie ist seine Verheißung und unsere Hoffnung“ (Caritas in veritate, 2).
Es ist diese unendliche Liebe Gottes uns gegenüber, die befriedigender ist als jede Hypothese eines Individualismus oder einer Selbstbestimmung, die uns unsererseits zu Subjekten der Liebe macht: „Als Empfänger der Liebe Gottes sind die Menschen eingesetzt, Träger der Nächstenliebe zu sein, und dazu berufen, selbst Werkzeuge der Gnade zu werden, um die Liebe Gottes zu verbreiten und Netze der Nächstenliebe zu knüpfen“ (Caritas in veritate, 5).
Aus der Überfülle der Liebe, aus der Fülle der Liebe, deren Objekt wir sind, kann die Gratuität hervorgehen. Nicht aus einem Mangel, sondern aus einer Überfülle! „Und weil es diesen Christus gibt, gibt es keinen Menschen mehr, der mich nicht interessieren würde. Wie gut würde es uns doch tun, würden wir gewisse Dinge lesen, von denen Mutter Teresa und ihre Schwestern berichten. Ganz besonders etwas, was ich vor einigen Jahren immer wieder gelesen habe. Da erzählt eine Schwester von Mutter Teresa, wie sie in einer Kloake unter freiem Himmel einen Mann fand, der im Sterben lag. Sie nahm ihn hoch und trug ihn zu sich nach Hause, wusch und pflegte ihn, so dass er wieder wie aus dem Ei gepellt aussah. Und dieser Mann sagte: ‚Ich habe gelebt wie ein Hund, jetzt sterbe ich wie ein König‘. Aber nur ein Christ kann so etwas tun. Christus lieben und in ihm, also wie er zu leben, auch die anderen Menschen lieben. Hingabe seiner selbst (Geschenk seiner selbst) und Ergriffenheit vor den anderen Menschen, vor der anderen Person. Kurzum: ein Ich, das voller Bejahung vor einem Du steht; ein Ich, das sich darin erschöpft, das Du des anderen zu bejahen; ein Ich, das für den anderen stirbt“ (L. Giussani, Kann man so leben?, S. 256).
Aber wer ist zu solch einer Liebe fähig?
So kann Giussani mit unerhörter Neuheit zwei der unverständlichsten Fragen der christlichen Erfahrung angehen: das Opfer und die Jungfräulichkeit.


3. Wann das Opfer und die Jungfräulichkeit interessant wurden
„Es gibt kein Ideal, für das wir uns aufopfern könnten, weil wir von uns allen die Lüge kennen, von uns, die wir nicht wissen, was die Wahrheit ist“. Dieser furchtbar realistische Satz des französischen Denkers André Malraux (La tentation de l’Occident, Bernard Grasset, Paris 1926, S. 216), bringt ganz gut die menschliche Reaktion auf das Opfer zum Ausdruck. In der Tat ist es so, dass das Opfer dem Menschen wie etwas erscheint, das sich gegen seine Natur richtet, das heißt, gegen die Tatsache, dass er für das Glück geschaffen ist. Damit das Opfer zu einem Wert wird, muss man das entdecken, für das es sich lohnt, es zu bringen.
Wann hat das Opfer begonnen interessant zu werden? Das Opfer begann interessant zu werden, als der Mensch, der über die Gratuität Gottes dem Menschen gegenüber erstaunt war, die Ahnung bekam, dass es nichts Intelligenteres gäbe, als Ihn anzuerkennen. Nur die Erfahrung dieser Präferenz der Liebe Gottes kann ein angemessener Grund dafür sein, dass man Ihm alles gibt. Das Opfer beginnt da, wo die Liebe Christi einen verzehrt. „Die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben: Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben. Er ist aber für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr für sich leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde“ (2 Kor 5, 14f.).
„Das wahrste Opfer besteht in der Anerkennung einer Gegenwart. Was aber heißt es, eine Gegenwart anzuerkennen? Das Ich bejaht dich, anstatt sich selbst zu behaupten. Darin liegt die größte Hingabe: ‚Niemand liebt seine Freunde so sehr wie der, der sein Leben für seine Freunde hingibt‘. Es ist dasselbe wie die Hingabe des Lebens. Dich zu bejahen, um so das Ich zu bejahen, um das Ich neu zu beleben. Es meint, dich zu bejahen als das Ziel all meinen Handelns; Dich bejahen; es ist die Liebe zu Dir. […] Den anderen zu bejahen, beinhaltet, sich selbst zu vergessen. Es ist das Gegenteil davon, dass man ganz in sich selbst verhaftet ist; so opfert man sich ganz für den anderen. Das wahrste Opfer besteht in der Anerkennung einer Gegenwart; das heißt, das wahrste Opfer besteht darin zu lieben“ (L. Giussani, Kann man so leben?, S. 299).
Es ist diese Anerkennung Christi, dieses Angezogensein von Seiner Schönheit, dieses Sich-verzehren voll Rührung, das der erfährt, der ihm begegnet, und das die ganze affektive Fähigkeit des Menschen, den ganzen Mangel, von dem Luzi sprach, erfüllen kann. Es ist die Erfahrung dieser Fülle, die eine Beziehung zu den Mitmenschen und den Dingen ermöglicht, die vollkommen ungeschuldet ist. Diese neue Beziehung zu allem ist die Jungfräulichkeit, von der Giussani als „Besitz mit einem Abstand darin“ spricht. „Um an dein Leben denken zu können (das Leben dessen, dessen Gesichtszüge ich kenne), um deine Bestimmung lieben zu können, um dein Glück lieben zu können, um deine Freude lieben zu können […]. Um eine Person wirklich lieben zu können, braucht es einen Abstand: bewundert ein Mann seine Frau mehr, wenn er sie mit einem Meter Abstand betrachtet und darüber staunt, dass es sie gibt – und er dabei gedanklich fast vor ihr in die Knie geht, auch wenn er physisch nicht kniet –, oder wenn er sie sich nimmt?“ (L. Giussani, ebd., S. 318f.).
Und um diese neue Art des Besitzens deutlich zu machen, führt Giussani das Beispiel der Magdalena an: „Wer besaß das Straßenmädchen Magdalena am Ende mehr: Christus, der sie im Vorübergehen einen kurzen Moment anschaute oder all die Männer, die sie zuvor „besessen“ hatten? Als sie ein paar Tage darauf gerade ihm die Füße wusch und dabei weinte, war das ihre Antwort auf diese Frage“ (L. Giussani, ebd., S. 319).
Das ist die Art, wie Christus liebt. „Wenn einer bis auf zwanzig Meter an ihn heran kam, war er von dieser Gegenwart durchdrungen. Und er ging nach Hause und trug dieses Bild in sich, das er nur schwer nach einigen Tagen aus dem Kopf bekommen konnte; ja, er musste sich wirklich anstrengen, wenn er es loswerden wollte! So brachte sich Christus mit den Personen in Beziehung und verwirklichte so eine Liebe, die von größerem Nutzen war, eine Liebe, die mehr Begleitung auf dem Weg war, eine Liebe, die den Weg leichter machte, eine Liebe, die wie ein Beben die ewige Zärtlichkeit vorwegnahm“ (L. Giussani, ebd.).
Wer würde sich nicht wünschen, von solch einem Blick erreicht zu werden? Damit dieser Blick heute in der Welt Wirklichkeit werden kann, erwählt Gott ständig neu Personen, die „in jedem Augenblick vor allen ausrufen sollen, dass Christus das einzige ist, für das es sich zu leben lohnt“ (L. Giussani, Il tempo e il tempio. Dio e l’uomo, Mailand 1995, S. 20).

SCHLUSS
„Ich habe dich von Ewigkeit her geliebt und habe Erbarmen gehabt mit deiner Nichtigkeit“ (vgl. Jer 31, 3): diese Nachricht, die uns in der Geschichte durch das Volk Israel erreicht, ist das, was mich am meisten berührt; das Geheimnis, das alle Dinge schafft, hatte Erbarmen mit meiner Nichtigkeit, mit unserer Nichtigkeit. Das hat auch die Gottesmutter anerkannt: „Der Herr hat auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut“. Dieses Erbarmen Gottes uns gegenüber kommt noch „vor“ jeder anderen Erwägung – und das ist so wahr, dass es auch nicht daran geknüpft ist, ob wir alles richtig machen oder auch nicht: die Präferenz Gottes ist vollkommen ungeschuldet, und das ist so wahr, dass er uns so annimmt, wie wir sind – und deswegen ist es der Grund, der am Beginn all unserer Initiativen den anderen gegenüber steht und deren Methode aufzeigt: die Gratuität, die Ungeschuldetheit.
Wenn das nicht bei jedem unserer Versuche, die anderen zu lieben und ihnen zu helfen, und bei jedem Gestus, von dem wir sagen, dass er aus Liebe geschieht, unser Ausgangspunkt ist, dann ermüden wir früher oder später, die Dinge reiben uns auf und mit der Zeit werden wir taub gegenüber unseren Bedürfnissen und denen unserer Schwestern und Brüder. Und dann sind wir versucht, uns im Individualismus zu verschließen und sind dann letztendlich gleichgültig allen und allem gegenüber, das heißt allein. Aber wenn uns das ständig neu in Erstaunen versetzt, dass Christus mit unserer Nichtigkeit Erbarmen hatte, indem er sich so sehr zu uns heruntergebeugt hat, dass er einer von uns wurde, dann siegt das über jeden Irrweg und jedes Unvermögen und es erfüllt uns mit der Fülle, die uns jedes Opfer annehmen lässt, bis dahin, dass wir – was menschlich gesehen unvorstellbar ist – das Leben hingeben, damit ein anderer leben möge, genau so, wie es Jesus mit jedem von uns getan hat und wie es eine christliche Mutter für ihr eigenes Kind tun würde.