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Briefe
Briefe Februar 2010
Zusammengestellt von Paola Bergamini

Die schwierigste Vorliebe meines Lebens
Lieber Don Carrón, ich möchte Dir erzählen, wie sich mein Leben seit dem 4. Oktober verändert hat, als mein Vater plötzlich an einem Herzinfarkt vor meinen Augen starb. In jenem Augenblick musste ich mich diesem Geschehnis beugen und mich in das fügen, was vor meinen Augen gerade passierte. Ich konnte nichts tun, um ihn zu retten. Dennoch: In jenem Augenblick offenbarte sich derjenige in Seiner ganzen Kraft und Dramatik, der meinem Leben und dem meines Vaters einen Sinn verliehen hat. Unter allen Freunden und Geschwistern wählte Er gerade mich zu jener Stunde. Ich hatte nur Ja zu sagen. Das war die schwierigste Vorliebe meines Lebens. Nie hatte ich mich vorher so geliebt empfunden. Christus verlangt alles von dir, auch vor deinem sterbenden Vater da zu sein. Und endlich ereignete sich das, wonach ich mich am meisten sehnte, wonach sich alle sehnen: Dass Er das Opfer meines ganzen Lebens annimmt. Die erlebte Fülle in jenen Tagen war ein Wunder. Dieses Wunder ereignete sich in mir in einer geheimnisvollen, unbegreiflichen und schwer zu erklärenden Weise. Aber wer mich und meine Familie traf, sah Gesichter voller Gewissheit. Der Tod hat nicht das letzte Wort gegenüber dem Leben. Das ist möglich, weil Jesus vor 2000 Jahren gestorben und wieder auferstanden ist. Er ist vor mir wieder auferstanden. „Wovor fürchtet ihr euch?“ – frage ich meine Freunde – „vor dem Tod?“ Ich habe ihn gesehen. Das Gesicht meines Vaters ist das Gesicht Christi. Seit jenem Tag kann ich ohne Angst „Christus“ sagen. Die Rückkehr zum Alltag an der Uni war aber nicht leicht. Eine Woche später brach ich in Tränen während einer der ersten Vorlesungen nach dem Geschehnis aus. Ich hatte durch den Tod meines Vaters den Sinn des Lebens entdeckt. Und das betrifft unweigerlich auch die Vorlesungen und das Studium! Christus ist die Vorlesungsstunde, der Professor und das Notizheft. Nun wird alles immer interessanter, weil ich in allem die Antwort auf den Tod meines Vaters und auf all meine Fragen erwarte. Da ich so was schon einmal erlebt habe, kann ich mich nicht mit wenigem begnügen. Ich bin mir dessen nicht immer bewusst, auch weil der Schmerz mich manchmal zu ersticken droht. Aber der Anstoß ist stets unmittelbar: Nichts genügt mir. Die Antwort ist in der Wirklichkeit. Und nach einigen Monaten kann ich überraschend bemerken, dass es für mich gilt, jenes Ja, jenes Sich-Fügen jetzt zu wiederholen, und zwar angesichts einer scheinbar so nüchternen Wirklichkeit. Wir haben alles, was wir brauchen, wie etwa die Gnade einer Freundschaft, die uns einen Weg beschreiten lässt. Diese Weggemeinschaft bewirkte, dass ich bereit war, Ihn zu erkennen und Ihm einen Namen geben: Sie zeigt mir fortwährend, vor allem durch das Seminar der Gemeinschaft und die Caritativa, dass dies immer und überall wahr ist. Es handelt sich um eine Tatsache, die sich nicht auf eine Einbildung reduzieren lässt. Mein Vater ist konkret. Christus lebt in allen Dingen. Ich habe keine andere Gewissheit im Leben außer dieser. Nicht einmal das Leben ist gewiss. Er allein gibt meinem Leben Bestand.
Anna,Gorla Minore (Varese)

Er dagegen weiß alles von mir
Lieber Don Carrón, jeden Samstag treffen wir Studenten von Cl uns mit befreundeten Schülern zum Abendessen, um uns zu erzählen, wie die Woche war.
Am Samstag, gegen Ende des Abends, sagte meine 14-jährige Schwester Chiara, bei welcher seit einem Jahr ein Gehirntumor diagnostiziert ist, Folgendes: „Ich bin gewiss, dass dort (im Paradies) etwas Größeres und Schöneres auf uns wartet, es bereitet mir Mühe, ihm einen Namen zu gebe, aber ich weiß, dass es Jesus ist. Er dagegen weiß alles von mir, er weiß, wann ich geboren wurde und wann ich sterben werde, weil all dies geschrieben steht; und ich vertraue mich Ihm an.“
Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen, weil es keine andere Erklärung dafür gibt, dass ein junges Mädchen von 14 Jahren, das bald sterben wird, froh ist und solch ein Urteilsvermögen hat über das, was ihr geschieht – als eben der Tatsache, dass das Geheimnis in ihr wirkt.
Nur dank der Einfachheit des Herzens, dank der völligen Hingabe kann man anerkennen, dass das Geheimnis am Werk ist, und sich von ihm formen lassen. Jetzt verstehe ich die Gnade, die mir gegeben ist, auch wenn es mühevoll ist, aber es ist, als hätte ich Jesus zu Hause. Vorher wollte ich weggehen, wenn ich müde war und nicht mehr weiterkonnte, jetzt aber will ich mit ihr sein, mit ihr zusammen sein, so wie ich es eben vermag, nicht weil ich Krankenschwester wäre und ihr auf diese Weise behilflich sein könnte, sondern weil ich verstehe, dass mir das Zusammensein mit ihr hilft, in die gleiche Richtung wie sie zu schauen und den gleichen Weg wie sie zu gehen.
Durch sie möchte ich verstehen, was Christus in diesem Moment von mir will. Christus verlangt alles von uns und – wie Du es uns immer sagst − er gibt keinen Rabatt. Von meiner Schwester will er das Leben, und von mir, dass ich meines ernster nehme.

Was ich im Viertel Rione Sanità gesehen habe
Besuch im Rione Sanità (ein „schwieriges“ Viertel von Neapel). Wir tauchen in die Gassen eines düsteren Viertels ein, in dem die Leute auf der Straße leben und wo der Verfall zum Status quo geworden ist.
Fulvio, der uns führt, zeigt uns die „Perlen im Schlamm“: herrschaftliche Häuser, Kirchen und die Katakomben ... Doch ich denke, dass dies nicht alles ist, wofür sich der weite Weg gelohnt hätte. Die Ausstellung unserer neapolitanischen Freunde beim Meeting hat auch andere Gemeinschaften fasziniert, zusammen feiern wir die heilige Messe. Am Ende gibt es zwei kurze Zeugnisse, die für mich den Wendepunkt an diesem Tag darstellen. Zwei Frauen erzählen, was ihnen widerfahren ist. Ersterer wurde ihr Gehalt gestohlen: es stellte sich heraus, dass der Dieb der Schwiegersohn eines Kranken war, um den sie sich kümmerte und dass er wenig später mit seiner Frau im Gefängnis landete. Sie erfährt, dass das Paar zwei Kinder hinterlässt, wovon eines behindert ist. Die Kinder wissen nicht, wohin, sie nimmt sie zu sich und bringt sie an Weihnachten zu den ihnen bis dahin unbekannten Großeltern.
Eine andere berichtet, dass ihr Mann arbeitslos wurde und beide beschlossen, umzuziehen, da sie Kinder zu ernähren hatten. Aber eine Nachbarin bot ihr ihre Freundschaft an; und was vorher eine unwirtliche Stadt schien, wird plötzlich einladend – die Saat eines neuen Lebens wird sichtbar, das für alle möglich ist.
Dafür lohnte es sich, nach Neapel zu kommen. Und es lohnte sich auch für die Freunde, die uns durch die Stadt geführt haben, die mit uns gesungen haben, und die uns in die Entdeckung der Schönheit an einem solchen Ort eingeführt haben.
Ich begann auch die Freunde anzuschauen, mit denen ich auf eine andere Weise hergekommen war. Einige kenne ich seit über 30 Jahren: Laster, Fehler – einige sind unerträglich, aber es war nicht zu leugnen, dass unsere Freundschaft von einem Anderen geschaffen wurde und wird.
Es ist leichter, die anderen auf diese Weise anzusehen, aber den Nächsten, den, mit dem du jeden Tag zu tun hast und der dich oft ärgert, ... da ist es wirklich ein Wunder: mirabile oculis. Wir liefen durch die Innenstadt, der eine blieb in einem Geschäft hängen, der andere wollte schneller gehen, der dritte lieber stehen bleiben, um etwas zu essen ... Es gab alle Voraussetzungen, um mit dem anderen die Geduld zu verlieren. Wahrscheinlich hätten wir uns niemals gegenseitig ausgesucht − es ist offensichtlich, dass unser Zusammensein von einem Anderen gewollt ist.