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Editorial
Eine neue Geschichte


Vor fünf Jahren starb Don Giussani. Am Ende des Requiems für ihn, das der damalige Kardinal Ratzinger im Mailänder Dom zelebrierte, legte Julián Carrón als Giussanis Nachfolger den 40.000 Anwesenden ans Herz, was ihm selbst am meisten am Herzen lag: „Ich bin sicher, wir werden, wenn wir in Einfachheit folgen, Don Giussani von nun an noch mehr als Vater erfahren“.

Damit hatte er recht: noch mehr als Vater erfahren heißt, ihn lebendig unter uns zu erfahren. Nach allem, was wir in den vergangenen fünf Jahren gesehen haben und weiterhin geschehen sehen, können wir dies heute mit noch größerer Gewissheit sagen.

Man kann von CL sagen, was man will. Aber trotz aller Begrenzungen, die die Bewegung haben mag, ist nicht zu leugnen, dass das Charisma von Giussani auf geheimnisvolle Weise fortwirkt und sich in der Welt den Herausforderungen stellt, die die Moderne für den Glauben darstellt. Und CL stellt seinerseits eine Herausforderung an die Welt dar: „Kann das Christentum ein neues Geschöpf hervorbringen, hier und jetzt?“ lautet die Kernfrage − und nicht: kann es neue Ideen entwickeln? Kann es neue kulturelle Impulse setzen?, oder kann es neue Verhaltensregeln etablieren. Nein, es geht im wahrsten Sinne des Wortes darum, ein neues Geschöpf hervorzubringen, eine andersartige Menschlichkeit, eine menschliche Erfahrung, für die es sich lohnt zu leben und zu lieben, und zwar jetzt, in diesem Augenblick?

Wer einem Zeugen wie Don Giussani begegnet ist und es durch seine Söhne und Töchter weiterhin tun kann, der kann die Frage mit einem „Ja“ beantworten. Und zwar angesichts von Fakten. Angesichts von Dingen, die greifbar sind und die vor aller Augen geschehen. Etwa, wenn einige mit unerschütterlicher Hoffnung als Freiwillige in Haiti helfen, wenn Intellektuellen aus New York ein Vorschlag gemacht wird, dessen Sinnfülle sie in Staunen versetzt, wenn eine Welle der Freundschaft das Leben Tausender in Lateinamerika ergreift. Dasselbe geschieht in zahllosen unscheinbaren Begegnungen in Krankenhauszimmern, Klassenzimmern oder Gemeinden. Diese Geschehnisse haben eines gemeinsam: Sie verändern das Leben von Männern und Frauen, im Alltag, hier und heute.

Auch diese Ausgabe von Spuren berichtet von ihnen. Nicht zuletzt die Briefe, die alle die eine Frage aufwerfen: Wem verdanken sie die verändernde Kraft, von der sie Zeugnis ablegen? Der Intelligenz der handelnden Personen? Ihrem besonderen Können? Ihrer Fähigkeit, die eigene Schwäche und Inkohärenz auszuhalten, von ihr abzusehen? Nein. Damit kommt man nicht so weit. Wie Carrón kürzlich zu Studenten sagte und dabei Giussani zitierte, gibt es „in unserer Weggemeinschaft einen Faktor, der für sie entscheidend ist und von dem die Neuheit in den Beziehungen, ihr Geschmack, maßgeblich abhängt. Ich kann mir diese Erfahrung nicht erklären, ohne diesen Faktor als etwas Eigenständiges anzuerkennen.“ Ohne diesen „eigen- oder andersartigen“ Faktor bleibt die vom Christentum erzeugte andersartige Menschlichkeit letztlich unerklärlich. Ohne Seine Gegenwart geht nichts. Es bedarf Jesu, der sich ereignet, der sich als unser Zeitgenosse ereignet. Und es bedarf unseres „Ja“. Wir müssen bereit sein, uns in unserer ganzen Schwachheit und Begrenztheit umarmen zu lassen. In aller Einfachheit also. Wir müssen es geschehen lassen. Das ist dramatisch wie alles, was sich ereignet, denn es ruft unsere Freiheit auf den Plan.

Das ganze Leben von Don Giussani war ein Beispiel für diese intensiv und in ihrer Dramatik gelebten Einfachheit. Er hat sich bis zum Letzten dafür eingesetzt, dass auch wir jetzt diese Einfachheit des Herzens wieder erobern können. Denn sie braucht es, um die Furcht vor unserer verwundeten Menschlichkeit abzulegen − damit das Fest des Glaubens beginnen kann. Guissani schreibt von diesem Fest in Kann man so leben?, dass es „den Erwachsenen zum Urheber einer neuen Geschichte, zum Erbauer, zum Protagonisten einer neuen Geschichte in der Welt, das heißt zum Erzeuger eines Volkes“ macht.

Denn im Grunde sind wir auf der Welt, um akzeptieren zu lernen, dass wir „Gezeugte“ sind und als solche eine neue Geschichte hervorbringen. Es ist schön, dass das so ist. Dafür sind wir der Kirche und Don Giussani dankbar.